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Helmuth Schönauer bespricht:
Felix Kucher
Vegetarianer
Roman

Ein Messias erscheint meist zweimal: Einmal als Guru mit Haut und Haar in der Zeitgeschichte und ein zweites Mal als literarische Figur eines Religionsstifter-Romans.

Felix Kucher kümmert sich mit seinem Roman „Vegetarianer“ um den Meister und Religionsstifter Karl Wilhelm Diefenbach, der in den 1880er Jahren als kultischer Maler halb München mit seiner Mission auf den Kopf gestellt hat.

Der Ausdruck „Vegetarianer“ ist zu dessen Lebzeiten noch halbwegs unbelastet zu verwenden, die beiden ihm zur Seite gestellten Lebensformen „Nudismus“ und „freie Liebe“ fordern freilich schon damals die Gerichte heraus. Der Maler muss betrübt feststellen, dass er die eine Hälfte seines Lebens am Gericht und die andere auf Wohnungssuche verbringt.

Das Leben eines Auserwählten verläuft nur selten harmonisch, zumal in der Hagiographie meist nur die Höhepunkte erwähnt werden. Im Falle von Diefenbach verläuft selbst dieser erleuchtete Teil sehr dystopisch und kräftezehrend, die lange Zeit des Verlöschens einer Idee wird im Roman gnädig ausgeblendet, der Lebenskünstler ist nämlich schon in Echtzeit ziemlich schnell ins Vergessen abgerückt. Sein Tod auf Capri hat dort zu einer kleinen Letzt-Gedenkstätte geführt, die aber selbst von „eingefleischten Vegetariern“ heute kaum noch aufgesucht wird.

Heilsgeschichten entstehen immer von hinten her, zuerst gilt es, eine Karriere im Sinne der Deviation hinzulegen. Wenn das Abweichen von den Vorgaben beeindruckend genug ist, entsteht daraus eine Lehre, die dann als Kult verkauft werden kann.

Diefenbach ist zuerst Anhängsel der Münchner Maler-Szene, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Kommune entwickelt. Bürgertum, ausgefranster Bieradel, Körperkulte, Boheme und bürgerlicher Eklektizismus führen zu den berühmten Künstlerkolonien, worin etwa auch der Osttiroler Maler Defregger seinen finanziellen Höhepunkt erlebt. In dessen Villa darf der Guru auch Unterschlupf suchen, wenn er aus den künstlerischen Orgien heraus wieder einmal Nachwuchs gezeugt hat, ohne den nötigen Wohnraum im Auge zu haben.

Aus materieller Not und künstlerischem Trotz entsteht die Bewegung „Kunst beugt sich niemandem.“ (33) Als der Künstler Zulauf erhält wegen seines programmatischen Dreischritts Vegetarismus, Nacktheit und freie Liebe entwickelt sich daraus eine eigene Kultur, die von Werbeplakaten, biographischen Erlösungssequenzen und einem Steinbruch als heilendem Ort der Rettung gespeist wird.

Der eine Jünger lässt sich etwa jeden Tag die Geschichte von fleischloser Ernährung diktieren, ehe er Schriften daraus formt, der andere organisiert eine Vortragswelle, die mit gigantischen Plakaten untermalt ist, und der dritte findet einen Steinbruch, der als Arkadien aus vegetarischem Granit ausgebaut wird.

Die Thesen des Meisters und die Umsetzung durch das Servicepersonal verschmelzen zu einer Bewegung. Am Plakat steht groß „Erlösung der Menschheit“ (79) und die passende Parole lautet: „Jetzt braucht es nur noch Menschen.“ (83)

Jede echte Bewegung hängt an einem sichtbaren Motiv, zu dem man hinpilgern und es anbeten kann. Im Falle des Rohkost-Künstlers besteht es aus einem Riesenformat „Aspera ad astra“, das im damals üblichen Weltausstellungsformat 1889 überall gezeigt wird.

Während die Bewegung floriert, geht es dem Künstler im Steinbruch gesundheitlich immer schlechter. Mangelernährung, chronische Organschäden und ein Missachten der eigenen Theorien führen zu Depression und Lebensunlust. „Krankheiten entstehen durch nicht ausgeschiedene Gifte“, heißt es einmal, offensichtlich hat der Held während seines extrem nackten Körpergefühls sein Gefühl für gute Ausscheidungen verloren.

Der Roman endet mit dem Münchner Lebensabschnitt, der für die Entwicklung eines kühnen Lebensprogramms steht. Als Diefenbach später in Wien seinen Erfolg fortsetzen will, muss er enttäuscht feststellen, dass die Wiener nicht einmal verbal für das Vegetarische zu begeistern sind, vom Verzicht auf Fleisch ganz zu schweigen. Der Held muss sich allerhand primitive Begriffe anhören, vom Körndl-Fresser bis zum Rohkost-Fuzzi, er verschwindet in der Bedeutungslosigkeit. Während eines Kuraufenthalts auf Capri stirbt der einstige Meister der Kuren.

Felix Kucher erzählt die Geschichte eines Ernährungsgurus in abgeklärten Schritten, sodass man mit dieser Biographie auch bei einem gemischten Publikum punkten kann. Vegetarier und andere spezielle Ernährungsapostel können mit diesem Helden leben, zumal der Schwerpunkt ja auf dem kulturellen Kessel liegt, in dem aus zeitgeistigen Zutaten bei entsprechender politischer Hitze eine Religion entstehen kann.

Das Making of Guru erweist sich als unterhaltsame Geschichte, die man vage über den Daumen gepeilt auch mit dem Werden des österreichischen Vegetariers aus Braunau vergleichen kann.

Die offene Frage bleibt: Ab wann erledigt sich eine Bewegung von selbst und ab wann sollte man zur Rettung der Demokratie einschreiten? Vor dieser Frage stehen gleichermaßen Leser und Staatsschutzbedienstete bis heute jeden Tag.

Felix Kucher: Vegetarianer. Roman.
Wien: Picus 2022. 232 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-7117-2120-4.
Felix Kucher, geb. 1965 in Klagenfurt, lebt in Klagenfurt und Wien.
Karl Wilhelm Diefenbach, geb. 1851 in Hadamar, starb 1913 auf Capri.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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