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Helmuth Schönauer
Amras – eine Triggerwarnung
Stichpunkt


I.

Im Generationsabstand tritt in Österreich eine literarisierende Pädagogenschaft auf, um den Kids jenen natürlichen Lesereflex auszutreiben, der in den Alpen weit verbreitet ist: Es geht um die simple Abwehr von Buchstaben.

In der „Schmutz-und-Schund-Kampagne“ der 1960er konnten Kids drei Prinz-Eisenherz-Hefte gegen ein gutes Buch eintauschen, was freilich nur die wenigsten taten, sodass sie mit schlechten Schulnoten sanktioniert wurden.

Nachdem in den 1970ern überall Fernseher aufgestellt waren, wurde mit der Aktion „Lesen statt Blöd-Schauen“ das Fernsehprogramm madig gemacht. Statt eines abends heimlich geschauten Films sollte man am Nachmittag im Sitzkreis „Krambambuli“ lesen. Auch hier musste wieder mit schlechten Schulnoten nachgeholfen werden. – Vergebens.

Als in den Nuller Jahren die Grundschulen flächendeckend mit Bibliotheken ausgestattet waren, wurden die Schupsys (Schulpsychologen) arbeitslos, weil ihnen Literatur als Beipackzettel zur Welt die Arbeit abnahm.

Flugs wurde eine neue Traumata-Kultur entwickelt, wonach jedes Kind von Geburt an schwer traumatisiert ist und Lesen diese kaputte Welt noch kaputter macht.
Mit Trigger-Warnungen wird seither vor der Literatur gewarnt. Wer ein Buch aufschlägt, sollte sofort einen Termin beim Schupsy anvisieren!


II.

Am Beispiel „Amras“ soll hier aufgezeigt werden, wie gefährlich Literatur ist, wenn sie beispielsweise in die Hände eines „verwirrten“ Autors wie Thomas Bernhard gelangt.

Dieser nämlich verfasst 1964 parallel zu den Olympischen Spielen in Innsbruck die Erzählung „Amras“ und tut so, als besinge er einen Stadtteil dieser Weltstadt.

In Wirklichkeit handelt es sich bei „Amras“ um eine Horrorgeschichte, denn die sogenannte Tiroler Epilepsie, die selbstverständlich unheilbar ist, befällt die tapfere Bevölkerung und zwingt sie zu kollektivem Selbstmord.

Am Beispiel einer Tiroler Musterfamilie zeigt sich die Tragödie zum Greifen bedrohlich. Vater hat Schlaftabletten besorgt und vergattert die Familie zum Suizid. Mutter mit ihrem epileptischen Daueranfall und Vater mitten in der Schuldenfalle nehmen die Aktion dankbar als Erlösung an.

Ihre erwachsenen Kinder, die Brüder Walter und K., überleben freilich, um einerseits das Lächerliche eines Selbstmords darzustellen (Walter) oder um im Falle des K. überhaupt die Geschichte zu erzählen.

Das ist das Gefährliche dieses Erzählstandpunkts: Der Autor tut so, als sei die Geschichte durch Auslöschung der Helden erledigt, dabei überlebt die Hälfte der Selbstmordaspiranten und bringt die Geschichte frech zu Ende, wenn auch in einem indirekten, reflektierenden Stil.

Die Erzählung tut so, als hätte sie keine Handlung oder Botschaft, dabei erzählt sie das Unerhörteste, was man einem Land antun kann: Nämlich dass alle deppert sind!

Die angeschlagenen Brüder werden vom Onkel in einen Turm in Amras gesteckt, wo es Walter endlich gelingt, final aus dem Fenster zu springen.

Für den Erzähler K. verschlimmert sich die Lage sogar, er wird von Amras nach Aldrans verbracht und muss in einem Forsthaus selbst sehen, wie er ohne Suizid an irgendein Ende kommt. Er verbringt die Zeit, von Gedanken gequält, mit Holzfällen. Denn gerade an Föhntagen ist die Tiroler Epilepsie knüppeldick wie Bäume, die sich nicht umlegen lassen.

Nach solchen Anfällen verspricht K., nur mehr über sich selbst nachzudenken und jeder Universität aus dem Weg zu gehen, wenn er nur aus Aldrans wegkommt. Jemand murmelt was von Irrenhaus, aber es dürfte eine innere Stimme sein, die daraufhin das Erzählen einstellt.


III.

Achtung!
Nicht nur die Erzählung als Ganzes ist gefährlich und kann Trigger auf die Seele legen, die sich gewaschen haben. Auch einzelnen Sätzen ist unbedingt aus dem Weg zu gehen.

„Was tust du, wenn du, der du erniedrigt bist, stirbst …“

„Das Gebirge ist gegen die Menschen; die Grausamkeit, mit der die hohen Gebirge die Menschen erdrücken … die Methoden des Grauens des in die Gehirne der Menschen vorgerückten Gesteins.“

„Am Abend durch Aldrans … kein Mensch … ich rufe, niemand hört mich … aus Furcht unterhalte ich mich mit dem Echo, das ich erzeuge … so, mit der Stimme, die mir gehört und die nicht gehört wird, ist nichts vertrauenserweckend.“

Für solche Sätze gibt es keine Altersempfehlung, sie sind so gefährlich, dass vermutlich nicht einmal eine Schupsy die Erregung beseitigen kann, die todsicher entsteht. Es hilft nur warnen, warnen, warnen!

Und wer es unbedingt lesen will, sollte im Rentneralter sein, weil er dann vielleicht genug Erregung erlebt hat, dass er die Trigger wegstecken kann.

Thomas Bernhard: Amras. Kommentiert von Bernhard Judex.
Suhrkamp BasisBibliothek, Band: 70.
Berlin: Suhrkamp 2006. 143 Seiten. EUR 7,20. ISBN 978-3-518-18870-5.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    was hab ich nicht alles aus den schundheftln und – noch schlimmer – aus dem „bravo“ gelernt! das „amras“ muss ich mir erst jetzt reinziehen, bin endlich im richtigen alter dafür.

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