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Helmuth Schönauer bespricht:
Christine Hochgerner
Damals ist nicht mehr.
Roman

Niederschmetternd sind immer jene Romane, die beinhart den Verlauf von „Schicksal“ erzählen. Für die Leser besteht die Belohnung schließlich in der Ermunterung, dass der Sinn des Lebens im Aushalten besteht. Für dieses kleine Motivationslicht opfern literarische Heldinnen schließlich ihr Leben.

Christine Hochgerner zeigt in ihrem Roman „Damals ist nicht mehr“, wie die neunzigjährige Hertha mitten in der Pandemie noch einmal aktiv wird. Sie muss es nämlich irgendwie hinkriegen, dass man ihr Haus entkernt und sie im Pensionistenheim erhobenen Hauptes einziehen kann.

Obwohl am Körper ständig was zu machen ist, ist Hertha noch gut beisammen, das bemerkt sie im direkten Vergleich, wenn sie ihre gleichaltrige Freundin in Pflege besucht. Und auch ihre Nichte, die ihr die wichtigsten Handgriffe abnimmt, ist im Lebenswillen schwer getroffen, seit ihr Mann in die Endgerade einer schweren Krankheit eingebogen ist.

Die Geschichte Herthas ist abgelaufen wie ein Kupferstich, und jetzt sitzt sie da am Westende von Wien in einem Zinshaus mit Gangklo und kann sich nur mehr wundern, dass nichts mehr so ist wie früher, „damals ist nicht mehr“.

In ritualisierten Erinnerungsschleifen denkt sie manchmal an ihren Mann, den sie damals als Schneiderin geheiratet hat auf den Rat einer Arbeitskollegin. Schau, er braucht eine Frau, und du brauchst eine Wohnung. (35) Der Mann war Buchhalter und hatte eine Hand verloren, sodass ihm die Schneiderin ständig den losen Ärmel an den Rumpf nähen musste.

Und dann ist da noch ein Bruder in der Erinnerung übriggeblieben, sie hat ihn als Kind zum letzten Mal gesehen. Diese Erinnerung wird plötzlich virulent, als der bosnische Bub Luca mit seiner Mutter im Haus einzieht; er schaut dem damaligen Bruderkind zum Verwechseln ähnlich.

Hertha kümmert sich um Luca, besorgt ihm Bücher, und führt ihn in die Wunderwelt des Lesens ein. Fürs Lesen nämlich kann man nie alt oder jung genug sein.

Die beiden Protagonisten erleben in der Folge die Zeit als Engstelle einer Sanduhr. Während für Hertha die Zeit abläuft und ihre Welt vor ihren Augen verschwindet und zu Erinnerungssand wird, tut sich für Luca die Welt in unbegrenzter Fülle auf.

Er hat nicht nur genug Zeit, sondern auch die Phantasie und die Kraft, das Leben anzupacken. Diese Überlebensfreundschaft lässt natürlich auch den Umzug ins Heim erträglich werden, denn eine Freundschaft braucht keine Möbel, man kann sie überall entfalten.

Hertha verlässt ihre Wohnung, in der sie ein halbes Jahrhundert verbracht hat, mit dem skurrilen Gefühl, das Frühstücksgeschirr nicht mehr abwaschen zu müssen, es wird alles entsorgt. Und der Taxler, der sie ins Heim bringt, ist schon mit Mundschutz verkleidet wie alle, die in der neuen Zeit überleben wollen. So alt kann man gar nicht sein, dass man nicht noch eine Katastrophe erleben könnte. Der Lockdown macht die Übersiedlung zu einem geräuschlosen Vorgang wie in einem Horrorfilm.

Christine Hochgerner erzählt beinahe protokollarisch über das Altwerden jenseits von Gebrechlichkeit und Krankheit. Ihre Heldin ist gewissermaßen Pflegende und Gepflegte in einem. Und dennoch geht es in der psychischen Hygiene drunter und drüber. Mit Disziplin, Ritualisierung und Bescheidenheit gelingt es vielleicht, unbeschadet bis zum Sterben durchzukommen.

Ein wichtiges Element ist dabei das Führen eines Standkalenders, darin wird auch eingetragen, dass nichts los ist. Die Sorgfalt gegenüber der eigenen Lebenszeit lässt das Herz eines jeden Archivars und Bibliothekars höher schlagen.
Hinter dem individuellen Schicksal steckt nämlich auch die kollektive Drift, in der eine Kohorte nach der anderen aus dem aktiven Bestand hinausfällt und zu Geschichte wird.

Am Beispiel eines Wiener Zinshauses zeigt sich die Drift der Zeit besonders deutlich, denn da stecken auch Zahlen, Interessen und Machtverhältnisse dahinter.

Vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund lässt sich Hochgerners Roman der Unauffälligkeit von Zeitverschiebung durchaus mit dem gefeierten kanadischen Roman „Kukum“ von Michel Jean vergleichen. Hier wie dort erzählt eine Neunzigjährige, wie man letztlich machtlos gegenüber dem eigenen Leben die Zeit zu überdauern hat. Im Falle Zinshaus ist es die wuchernde Großstadt, die alles umdreht, im Falle Kukum sind es die Konzerne, die der indigenen Bevölkerung am Polarkreis den Garaus machen. Die Verwundung der einzelnen Seele ist dabei die gleiche.

Christine Hochgerner: Damals ist nicht mehr. Roman.
Klagenfurt: Sisyphus 2021. 174 Seiten. EUR 14,80. ISBN 978-3-903125-60-5.
Christine Hochgerner, geb. 1954 in NÖ, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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