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Helmuth Schönauer
Migrationsspiele
Stichpunkt

Wie lange ist eigentlich etwas aktuell? ‒ Solange nicht etwas noch Aktuelleres auftaucht! Zu den Hauptaufgaben der historischen Betrachtung eines Vorfalls gehört der zeitnahe Vergleich von Dingen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.

Die Ereignisse sind ursprünglich alle gleich wertvoll, sie laufen vor den Sinnesorganen diverser Beobachter ab oder werden ohne Personal im Netz als digitales Ereignis kreiert.

Im Alltagsgeschäft sortiert sie der Journalismus und gibt ihnen diverse Wertigkeiten, der Historiker macht, sobald die Hitze des Nachrichtenausbruchs abgekühlt ist, eine erste Analyse, der Archivar sammelt alles ohne Kommentar. Ein Spieleentwickler macht daraus ein Spiel.

Aus dieser Rollenverteilung entstehen ununterbrochen neue Nachrichten, Erzählungen, Wertebilder und Spiele. In der Glosse oder im Essay werden diese verschiedenen Ebenen probehalber übereinandergelegt, die Ereignisse werden dabei plastisch, wie man so schön sagt.


Fallbeispiel eins:

Ein Diktator in einem zentraleuropäischen Land fälscht die Wahlen, zerreibt die Opposition, indem er sie zuerst ins Gefängnis und dann ins Ausland schickt, oder umgekehrt, indem er aus heiterem Himmel geflohene Dissidenten per Abfangjäger zu Boden ringt.

Spätestens seit er aus einem europäischen Inlandsflug Dissidenten abfängt, wird er voller Entrüstung als der letzte Diktator Europas bezeichnet.

Bis dahin verfolgt man die Geschäfte ungeniert weiter. Diese kommen erst wieder auf den Prüfstand, als der Bösewicht Migrierende per Sonderflug ins Land holt, sie an der Grenze zur EU aufstellt und gewaltsam ins europäische Weichland treibt nach dem Motto: Jetzt sollen sie einmal ihren Humanismus zeigen!


Fallbeispiel zwei:

Ein Unfehlbarer in einem europäischen Zwerg-Staat stellt sich einmal im Leben einem geriatrischen Konsortium zur Wahl, das sich bei Brot, Wasser und Handy so lange einmauern lässt, bis eine Entscheidung gefallen ist; diese wird sinnlich mit dem Rauch verbrannter Stimmzettel durch den Kamin nach außen getragen.

Später fährt dieser Unfehlbare als Staatsmann durch die ganze Welt und liefert moralische Sprüche ab, während er zu Hause das Personal von irdischen Gerichten fernhält und so ein ungebremstes sexuelles Treiben unter diversen Kutten ermöglicht.

Alle Straftaten werden im Zweifelsfall als Teil eines Ritus erklärt, der auf dieser Welt straffrei ist.

Jüngst ist der Unfehlbare auf diverse Inseln des Mittelmeers gefahren, hat die EU und ihre Asylpolitik genauso niedergemacht wir der Diktator im oben geschilderten Fall. Freilich hat er seine Migranten nicht gegen einen Stacheldraht getrieben, sondern gleich in den staatlichen Flieger gesetzt und im benachbarten EU-Land Italien wieder ausgesetzt.

Etwa fünfzig Personen, viele davon weiblich, werden sich wundern, wie wenig Rechte sie in ihrer neuen Bleibe haben werden, da im Zwergstaat die Frauenrechte ähnlich beschnitten sind wie in jenem Taliban-Land, aus dem sie geflohen sind.

Beide Fälle dienen zur Plastifizierung eines Vorgangs, der zwischendurch mit dem Terminus „Migration als Waffe“ beschrieben wird.

Die Reaktionen sind unterschiedlich, vielleicht weil zwischen den Vorgängen zu wenig Zeit für Differenzierung vergangen ist.

Der eine jedenfalls wird mit eingeschränkten Flugrechten und reduziertem Geldverkehr bestraft, der andere ist schon wieder für diverse Konsum- und Weihnachtsshows eingeladen, an deren Höhepunkten er kaputte Füße von Konsumopfern waschen wird.

Erste Erkenntnis von Beobachtern, die die Chose zwischen Geschichte und Archiv einzuordnen versuchen: Du kannst ruhig Flüchtlinge als Waffe einsetzen, wenn du es feierlich genug machst!

Vielleicht ist zu Weihnachten schon ein neues Game auf dem Markt, mit dem du allerhand nachspielen kannst.

Titel des virtuellen Werks: Lukaziskus.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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