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Helmuth Schönauer
Rund um den Seniorenständer
Short Story

Unsere Wohnanlage steht im rechten Winkel zur Piste des Flughafens, sodass alle Wohnsegmente gerecht mit Fluglärm beschallt werden. Das fördert den Zusammenhalt. Und wenn alle zur gleichen Zeit das Gespräch unterbrechen und die Ohren abschirmen müssen, keimt es auf: Das unendliche Gefühl von Verzweiflung und Solidarität.

Wir wachsen mit dem Flughafen mit. Je mehr sich unser Gehör verschlechtert, umso mehr legen die im Tower nach und holen möglichst laute Maschinen zu Boden, in der Hauptsache mit trinkenden Skandinaviern belegt, die während des Fluges versuchen, die Triebwerke an Geräusch zu überbieten.

Wenn sie landen, schreien sie auch dann noch, wenn die Triebwerke schon längst im Standby-Modus laufen.

Die Skandinavier werden in schalldichten Kleinbussen in die Oberländer Hotels geliefert, wo man sie in eigenen Bar-Räumen so weit sediert, dass man sie anderntags auf die Pisten lassen kann, ohne dass das Wild vor Schreck in den nächstbesten Abgrund springt.

Unsere Wohnanlage ist nicht nur gerecht, was den Lärm betrifft, sie ist auch so gebaut, dass extreme Generationen ihren Auslauf finden bis zur täglichen Genugtuung.

Am nördlichen Ende des Versorgungsweges ist ein kleiner Spielplatz angebracht, der fließend in das Areal der Grundschule übergeht und von dieser auch als Pausenhof benützt wird. Dieses Areal ist radikal für die Zukunft reserviert: wer nicht springt wie ein Kind und auf Auslauf macht, hat hier nichts verloren.

Auf den bereitgestellten Bänken setzt man sich zu gewissen Stunden als Nicht-Kind besser nicht hin, auch wenn das Motiv eines auf der Parkbank sitzenden alten Menschen gerade in Zeiten der Inflation weit verbreitet ist. Das Sitzen nämlich verursacht keine Ausgaben, sodass es inflationssicher ist.

Generell sollte man sich als alter Mann mit Sonnenbrille nicht in einem Park aufhalten, wenn Kinder unter den Augen ihrer alleinerziehenden Mütter unterwegs sind. Diese sind meist von der Männerwelt angefressen und vermuten hinter jedem Mann, der eine Hose mit Reißverschluss zum Schiffen trägt, einen Kinderschänder.

Die Sonnenbrille ist der beste Beweis, dass diese Männer Angst haben, von ihrem eigenen weißen Ding geblendet zu werden, wenn sie es jäh herausnehmen, um einen Strahl abzulassen.

Da der nördliche Teil des Zubringerwegs für ältere Menschen tagsüber tabu ist, hat man für die Pensionierenden im Süden ein kleines Gerüst errichtet, das umgangssprachlich Seniorenständer genannt wird.

Am besten stellt man sich diese Nutz-Plastik als Gebilde aus Turnstangen vor, am ehesten zu vergleichen mit jener Spielpyramide aus Stäben, wie sie in Hitchcocks „Vögel“ den bedrohlichen Schwärmen als Anlandegerüst dienen.

Die Seniorenpyramide im Süden der Wohnanlage wird bei Wetterumschwung von den berüchtigten Nordkettendohlen angesteuert, die mit ihrem Gekreische auf das Jenseits hinweisen, das jedem droht, der sich frech und fit fühlt.

Das Gerüst wurde seinerzeit aufgestellt, als wir die erste tote Seniorin der Anlage zu beklagen hatten. Die betagte, aber auf rüstig geschminkte Dame stürzte beim Einbiegen vom Mitterweg auf das Privatgrundstück so hemmungslos unglücklich, dass sie noch in den Armen des Gärtners verstarb, der dienstags immer die Altpapiercontainer auf den Gehsteig hinaus schieben muss.

Wie in einem dieser Tatorte, wo alte Menschen auf ein Stück rissigen Asphalt gelegt werden, um einem Kommissar einen Bildauftritt zu verschaffen, lag sie einfach da.

Bald waren auch wir Anwohner da, um uns gaffend rund um sie aufzustellen, freilich gewährten wir dem Notarzt Zutritt zur Verstorbenen. Als jemand Tücher bringen wollte, damit wir einen Sichtschutz gegen Gaffer hochhalten könnten, sagte ein anderer ergriffen: Wir sind der Sichtschutz!

Die Verstorbene ist noch lange ein Fall für die Versicherung gewesen, niemand wollte nämlich schuld sein an ihrem Tod. Da sie mit einem Bein auf dem Gehsteig zu liegen kam und mit dem anderen am Zubringerweg, konnte man die Schuld nur provisorisch aufteilen in der Hoffnung, dass der Fall einmal in dreißig Jahren verjähren würde. Da die Verstorbene keine Nachkommen hatte, konnte der Fall freilich schon innerhalb von vierzehn Tagen verjähren und niemand war schuld.

Das also ist der Anlass oder besser gesagt die Anregung, welche die Hausgemeinschaft dazu veranlasst hat, am südlichen Eingang der Wohnanlage diesen Seniorenständer aufzustellen, damit niemand mehr hinfalle.

Dieses multifunktionale Gerät, das von einem Startup als Maturaarbeit an der HTL Peter Anich entwickelt worden ist, spielt alle Stückeln.

Wer erschöpft vom M-Preis kommt, kann seine Einkaufstaschen auf kleine Podeste stellen, sodass er sich nicht bücken muss, wenn es wieder weitergeht.

Wer unbepackt mit sich selbst zu tun hat, kann eine der beiden Griffstangen verwenden, um sich aufrecht zu halten, während er jemanden grüßt.

Und wer zwischendurch auf Krücken gehen muss, wie „die arme Haut“ aus dem vierten Stock, den es auf eine Gehsteigkante gepfeffert hat, sodass er jetzt mit einer Keramikhüfte unterwegs ist, bedankt sich überschwänglich durch Winken mit den Krücken, wenn er seinen Rücken kurz an das Gerüst lehnen darf.

Natürlich kommt es in der Nacht immer wieder zu Vandalismus, wenn jemand seinen Hund anleint, um daneben das Geschäft zu machen. Aber seit wir mit Videoüberwachung arbeiten, ist die Anlage nach zwei Anzeigen so gut wie clean.

Kinder in ihrem Spieltrieb verwechseln oft Norden und Süden und spielen am falschen Ort, von dem sie mit dem berüchtigten „Gscht-gscht“ vertrieben werden.

Rund um den Seniorenständer entwickeln sich ab und zu Gespräche, die ähnlich aufgebaut sind wie eine lokale Nachrichtensendung.

Weil wir nicht wissen, was reden, spielen wir im Hof die Sendung „Tirol heute“ vom Vortag nach und nennen sie „Hof heute“. Wir wollen nicht zugeben, dass wir nicht mehr viel im Erlebnis-Kasten haben und nur mehr jene Bilder in den Kopf lassen, die schon über irgendeinen Bildschirm gelaufen sind.

Freilich sind unsere Gespräche von hinten her aufgebaut, wir beginnen mit dem Wetter, machen dann den Sport als Pointe durch und bringen unseren Abscheu vor der heimischen Kultur zum Ausdruck. Den politischen Teil lassen wir aus, weil wir Senioren alle bei der gleichen Partei sind, ohne darüber reden zu müssen.

Und das Wichtigste kommt auch bei uns zum Schluss: „Grüß mich wieder und wir bleiben auf Sendung! Ich muss jetzt schnell heim, du weißt, wegen der Blase.“

Nach diesen Sätzen lassen wir vom Seniorenständer ab, an dem wir uns während des Gesprächs mit krampfigen Fingern gehalten haben.

Jeder geht den Spuren nach, die ihn per Erinnerung an Orte seiner früheren Arbeit führen. Einer hat in der Auslieferung für eine Schokoladenfabrik gearbeitet und ist samt seinem violetten Lieferwagen in Frührente geschickt worden, ein anderer hat seine Baufirma zu Lebzeiten verloren, als im Dorf alles fertig gebaut war, und ein dritter stellt als ehemaliger Berufsoffizier fest, dass er ein Leben lang beschimpft worden ist.

Ich versuche es mit Senioren-Gendern: „Aber dann sind wir ja alles Kollegende, meine Bibliotheken sind auch alle futsch!“

Aber da sind schon alle weg und ich bleibe mit meiner Short Story im Kopf zurück. Diese werde ich rasch aufschreiben und den Kindern geben, die versprochen haben, mich nicht ins Altersheim zu stecken, solange ich noch so etwas schreiben kann.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    kurz und bündig: haha! aber ich werde mir nun doch mal diesen seniorenständer ansehen müssen, hast mich neugierig gemacht… zum mitterweg ists ja nicht allzu weit.

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