Helmuth Schönauer bespricht:
Georgi Gospodinov
Zeitzuflucht
Roman

Wenn es sich von dieser Welt schon nicht horizontal-geographisch fliehen lässt, vielleicht sollte man es vertikal-chronologisch versuchen. Warum nicht in die Zeit selbst fliehen, statt aus ihr heraus?

Georgi Gospodinov erzählt in seinem über den Kontinent gespannten Roman „Zeitzuflucht“ von der Magie der Vergangenheit als der eigentlichen Zukunft. Es ist wahrscheinlich alles nur eine Frage der Richtung, „wer sich in der Vergangenheit umdreht, sieht die Zukunft“.

Ein verrückt logischer Plot steht Pate für diesen Roman, der zu erzählen versucht, warum wir über die Gegenwart nichts erzählen können, wenn wir nicht von ihr ablassen. Alle Geschichten, Nachrichten und Ideen für die Zukunft enden ja eines Tages im Archiv, wie die Archivare aller Kulturen stolz zu berichten wissen. Da ließe sich einiges vereinfachen, wenn man gleich die Vergangenheit ansteuerte und als Zukunft ausgäbe!

Vor allem Menschen mit Demenz oder im hinfälligen Alter wenden sich ja heute schon ausschließlich der Vergangenheit zu, und auch politische Systeme gleichen oft vergreisten Menschen und schwärmen von Vergangenheit, indem sie eine permanente Nostalgie ausrufen.

Der schreibende Ich-Erzähler aus Bulgarien trifft auf der Suche nach einem Plot in Wien einen Augustin-Verkäufer, der aus der Welt ausgestiegen ist und eine Obdachlosenzeitung anbietet, die mit der üblichen Welt nichts zu tun hat.

Aus diesem Nachrichtenanbieter schält sich gleich einmal die Kunstfigur Gaustin hervor, diese erscheint am Buchumschlag und im Klappentext als „Gaustine“ und im Buchtext als „Gaustin“. So kann man über diese kleine Lese-Falle sofort feststellen, ob ein Leser oder ein Rezensent aus dem Buch oder dem Buchumschlag zitiert.

Gaustin vom Buchinnern gründet jedenfalls eine Klinik für Vergangenheit, idealerweise in der Schweiz, weil diese politisch gesehen das neutrale Null-Terrain ist, auf das sich alle möglichen politischen Entwürfe aufsetzen lassen.

Die Vergangenheitsklinik hat durchaus Züge von Thomas Manns Zauberberg, nur dass statt der Lungenkranken hier an der Gegenwart Leidende eingewiesen werden, die sich mit einer individuellen Erinnerungstherapie Linderung vom Zukunftsdruck erwarten.

In jedem Stockwerk sind Retro-Zimmer eingerichtet, die sich an den Look der jeweiligen Dezennien halten, 1950er, 1930er und so fort.

Die Methode, nach der die Stockwerke eingerichtet sind, entspricht den Archivgrundsätzen. Material, Nachrichten und Gadgets aus einer bestimmten Zeit werden durch Erzählungen ausgerollt und zum Roman. Die Gerüche freilich sind wie immer beim Archivieren ein Schwachpunkt, weil sie wie Lyrik sehr flüchtig sind und eine geringe Halbwertszeit aufweisen.

Während die Frage, wie erzeuge ich Vergangenheit, allmählich zurücktritt, werden Maßnahmen wie Sterbehilfe und „Entlaufen“ gängige Heilmethoden, die von der Schweiz aus über den ganzen Kontinent exportiert werden.

Die erste Dependance entsteht in Bulgarien und wird vom Erzähler selbst nach den Richtlinien Gaustins installiert, dabei kümmert er sich schwerpunktmäßig um sogenannte Zeit-Entläufer. Dies sind bemerkenswerte Zwitter, die einmal aus der Zeit selbst aussteigen, und sich zum anderen selbst als Jogger davonrennen.

Natürlich verliert in beiden Vorgängen das Ich seine Souveränität. Der Zustrom zur Klinik bleibt sensationell, denn „ununterbrochen produzieren wir Vergangenheit“. (133)

Nachdem die Hardware überall in Europa installiert ist, geht es darum, ein politisches Curriculum zu installieren. Nach dem Vorbild von Brexit, der ja auf nostalgischen Emotionen eines Großreichs beruht, soll jetzt ein europäisches Referendum abgewickelt werden, wodurch die goldene Vergangenheit als Zukunft plakatiert werden kann. Als fernes Urbild für Lebenssinn dient dabei Robinson Crusoe, der als Single seine Einmann-Nation pflegt und verwaltet, bis sein Diener Freitag auftaucht.

Bulgarien muss herhalten, wenn der Erzähler darin die Zeit-verkehrte Chronik ausprobiert. Alles, was üblicherweise für abgearbeitete Geschichte gehalten wird, dient jetzt als Vision. Sie hat freilich den Vorteil, dass man ihren Ausgang schon kennt: Das Leben wird endlich planbar wie früher die Planwirtschaft, nur dass es diesmal ins Glück führen soll. Die Vergangenheit wird also abgearbeitet mit den gleichen Verheißungen, die schon einmal in jenes Desaster der Gegenwart geführt haben, in dem keiner mehr leben will.

Allein schon die Szenebeschreibung von den „windigen Straßen Sofias“ (175) treibt den handelnden Personen die Tränen in die Augen. Auch hier gilt das Motto des Romans: „Und als sie sich umdrehten, sahen sie ihre Zukunft!“ (241)

Das erfolgreiche „Vergangenheitsreferendum“ führt in einem ersten Schritt zu einer Neukartierung Europas. Ob es dann noch einen zweiten Schritt gibt, geht aus dem Referendum nicht hervor. Es scheint aber alles in die falsche Richtung zu laufen, denn immer öfter spricht man davon, dass eine geheimnisvolle Büchse geöffnet worden sei. Wer nämlich lange genug in die Vergangenheit zurückgeht, gelangt zur Büchse der Pandora, die für ihre irreversiblen Kräfte berühmt ist.

Am Ende der Vergangenheit jedenfalls zerbröselt das Gemeinwesen in einzelne Gesichter und Daten. Als Sinnbild dieser Auflösung zeigt sich ein isolierter Grenzsoldat, der nichts anderes zu tun hat, als leere Gesichter am Grenzbalken mit jenen in den Pässen zu vergleichen. Die Künstliche Intelligenz, die alles überwachen könnte kommt nämlich in der Vergangenheit kaum vor.

Der Erzähler ist am Ende des Romans am Ende er Zeit angelangt und merkt, dass er sich am 1. September jenes Jahres befindet, an dem der Große Überfall auf den Kontinent begonnen hat.

Georgi Gospodinov erprobt mit seiner „Zeitzuflucht“ ein historisches Erzählen, das sich aus den Akten erhebt und zu einer eigenen Wirklichkeit wird. Ausgehend vom „Spiegeltag“ 1. September 1939, als Polen überfallen wird, lässt sich die Geschichte ins Dunkle hinein ausleuchten, beispielsweise hinein bis zu jenem 24. Februar 2022, an dem die Ukraine überfallen wird.

Wer in der Zeit Zuflucht nimmt, wird in einer veränderten Geographie aufwachen, heißt es am Beginn eines Romans, von dem nur die erste Zeile geschrieben ist.

Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht. Roman. A. d. Bulgar. von Alexander Sitzmann. [Orig.: Vremeubezhishte, Plovdiv 2020.]
Berlin: Aufbau 2022. 342 Seiten. EUR 24,70. ISBN 978-3-351-03889-2.
Georgi Gospodinov, geb. 1968 in Jambol, lebt in Sofia.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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