Helmut Schiestl
Spätwinterfrühling
Short Story

Neulichedel war in den Safariclub gegangen und hatte dort der Kellnerin freundlich zugelächelt, als sie ihm ein Bier brachte. Er schaute auf ihre zarten Fußknöchel, weil ihm die gut gefielen, er hätte liebend gerne ihre zierlichen Füße geküsst. Auch wenn diese vielleicht nach Schweiß rochen. Aber die Kellnerin war jung, und bei jungen Frauen war es ihm egal, weil er den Schweiß junger Frauen gerne roch, manchmal auch in ihren Achselhöhlen oder im Bus oder in der Straßenbahn, weil er alle Gerüche gerne an ihnen schätzte.

Im Safariclub war wenig los und so konnte sich Neulichedel seinen Gedanken hingeben. Und darüber sinnieren wie es gewesen war, als zu Mittag das Essen bei den Breitfeldners aufgetragen wurde, bei denen er heute zu Gast gewesen war. Wie er Frau Breitfeldners Lasagne aß, die vorzüglich schmeckte, und danach noch zum Nachtisch die Paradiescreme. Und als dann später Hechenberger kam, der Freund der Tochter Julia, der so jugendlich aussah und so klein war wie ein kleiner Junge, so dass alle meinten, er sei wohl Julias kleiner Bruder. Und wie Julia das Meerschweinchen streichelte und ihm etwas aus seinem Maul entfernte, das es nicht fressen sollte, so dass es dann gleich alles über ihre Hände kotzte. Kotze über Julias zarte Hände, welche sie sich gleich darauf wusch und das Gekotzte von Tisch und Stuhl wegwischte.

Wie Julias älterer Bruder dem geistig leicht behinderten älteren Bruder seinen Plastikbecher mit der Himbeerlimonade nachfüllte. Wie Neulichedel in das verhärtete Gesicht Hermine Breitfeldners geschaut hatte, das ihn irgendwie an das seiner Mutter erinnerte. Wie darauf ihr Mann, Oskar Breitfeldner, mit ein paar klugen Sätzen die Lage der Welt zu erklären versuchte. Wie darauf das Handy Julias in die Lasagne gefallen war, und wie sie es daraus mit ihren zierlichen Fingern – so zierlich wie die Fesseln der Kellnerin im Safariclub – wieder herausfischte und dazu ein lustiges Lachen von sich gab, das Neulichedel ein klein wenig an seine Exfreundin Jennifer erinnerte.

Da erst hatte Neulichedel die noch immer nicht abgeräumte Weihnachtsdekoration am Küchenfenster entdeckt, obwohl es schon Anfang April war, wozu er aber nichts sagte, um Hermine Breitfeldner nicht unnötig zu ärgern oder es für sie peinlich werden zu lassen. So peinlich, wie es immer ist, wenn ein Besucher oder eine Besucherin etwas für den Wohnungsinhaber völlig Unpassendes in dessen Wohnung entdeckt, sogenannten Staublurch zum Beispiel oder herumliegende schmutzige Wäsche.

Wie schließlich der geistig behinderte Sohn der Breitfeldners ohne Scheu vom Scheißen sprach, mühsam aufstand und sich aufs Klo schleppte. Von wo ihn Frau Breitfeldner dann wieder abholen musste, und wahrscheinlich auch den Arsch wischen, wie Neulichedel vermutete.

Wie schließlich Julia, das engelgleiche Mädchen, nicht wusste, was sie jetzt, nach abgelegter Matura, machen sollte. Ob sie studieren oder einen Beruf erlernen oder weiter als Brotverkäuferin in einer Filiale einer Großbäckerei arbeiten sollte, was sie zurzeit gerade tat. Und wie ihr Freund Hechenberger es ihr auch nicht sagen konnte.

So dass Neulichedel schließlich einfach sagte, dass es dann wohl das Beste wäre, wenn sie einfach noch ein bisschen Geld verdienen würde und sich dann in Ruhe überlegen könne, was und ob sie überhaupt studieren wolle. Etwas, dem auch ihre Mutter und ihr Vater zustimmten. Wie Neulichedel schließlich noch einen Kaffee trank, den ihm Oskar Breitfeldner aus der Kaffeemaschine gedrückt hatte. Wie darauf alles weitere in eine kleine Unbestimmtheit versank, ohne wirklich peinlich zu werden.

Wie Neulichedel das schön fand. So wie er jetzt die Kellnerin hinter dem Tresen beobachtete, ihre nackten Oberarme, deren Muskeln unmerklich zitterten, wenn sie das Bier herunterließ, das sie ihm dann brachte. Und er einen kurzen Blick in ihr Dekolletee warf, auf dem sich ein kleiner tätowierter Schmetterling zeigte.

Wie er jetzt in seinen Gedanken immer mehr hin und herpendelte zwischen der Kellnerin und den Breitfeldners, bei denen er heute zu Mittag gegessen hatte. Und wie diese Erinnerungen daran immer mehr zu verblassen begannen. Und jetzt immer mehr der Safariclub und die Leute, die da waren, bedeutend wurden für ihn, obwohl er sie überhaupt nicht kannte und sie auch gar nicht kennen wollte. Aber so war das eben. Und wie die paar an der Bar sitzenden Jugendlichen mit ihren schräg aufgesetzten Baseballmützen ein irgendwie frivoles Bild abgaben. Und wie er am Nachmittag nach dem Mittagessen bei den Breitfeldners ins wintergrüne Gehölz gegangen war und über seine Exfreundin Jennifer und das, was er die kommende Woche noch vorhatte, nachgedacht hatte.

Und wie die Breitfeldners ihre Welt einfach so in Kauf nahmen, und diese Familie dann eines schönen Tages einfach auseinanderbrach, wie ein Floß eines Tages einfach auseinanderbricht und seine Benützer ins Wasser fallen lässt. Und sie alle davonschwimmen, jeder und jede zu neuen Ufern. So wie auch er es vor annähernd zwanzig Jahren mit seinen Eltern gemacht hatte.

Die Jugendlichen vorne an der Theke machten jetzt einen Heidenlärm, sangen und grölten, machten Witze. Neulichedel fühlte sich ein wenig unwohl, trotzdem glaubte er, dass, wenn er jetzt fortging, sich einfach aus dem Staube machte, er noch etwas in seinem Leben versäumen würde. Aber so war es doch immer im Leben. 

Wenn man starb, hätte man sicher sein können, dass schon in einigen Jahren etwas geschah, das man vielleicht noch nie erlebt hatte, was einem mit dem bisherigen Leben vielleicht versöhnt und vieles darin relativiert hätte. So blieb Neulichedel noch, bestellte sich ein weiteres Bier, sah der Kellnerin zu, wie sie ihre Gäste bediente. Lächelte in ihr schön geschnittenes Gesicht. Sie lächelte zurück. Zart und irgendwie noch unsicher.


Helmut Schiestl

Geboren 1954 in Hall in Tirol. Bis 2019 beschäftigt an der Universität Innsbruck. Zuletzt am Innsbrucker Zeitungsarchiv des Instituts für Germanistik. Zahlreiche Publikationen und Veröffentlichungen in Tiroler Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im ORF. Bücher: "Hirnkrebs", 1991 Tiroler Autorinnen- und Autoren-Kooperative. "Der Lotusblütenesser", 1992, Edition Himmelmeer. "Porträt des Schriftstellers als armer Wurstel", 2001 Edition Skarabäus.

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