Helmut Schiestl
Disziplin Disziplin!
Short Story
Wie das so ist, immer wieder diese Unwägbarkeiten in den Wintermonaten. Und die Seuche, die nichts auslässt. Die immer mitspielt, so dass schon einige Suizid begangen haben wegen dieser Pandemie. Und kein Ende absehbar, woher auch und wohin auch.
Herr Hackfries stand vor dem Theater um die Karte an und war allein. Die Kappe tief in die Stirne gedrückt und sein Geld klimperte in seiner Hosentasche. Er schimpfte mit dem Schwurbler und der Schwurbler schimpfte zurück. Sie kamen auf keinen grünen Zweig. Sie warteten und warteten, bis die Vorstellung des Künstlers begann. Die Stühle waren alle desinfiziert, so schrieb es das Gesetz vor. Und jede Hustende und jeder Hustende wurde misstrauisch beäugt, ehe die Vorstellung wegen der vielen Hustenden abgesagt wurde.
Der Künstler versprach allen, die es wollten, zu ihnen nach Hause zu kommen und eine Privatvorstellung zu geben. Das war in Zeiten der Pandemie State of the Art und daher von allen der Kunst Zugetanen bereitwillig aufgenommen. Es gab also bald Hunderte von Zusatzvorstellungen für den Künstler. Dieser trat überall auf, in kleinen engen Wohnungen mit schlechtem Geruch genauso wie in schönen Fünfzimmerwohnungen in noblen Bürgerhäusern. In öden Mietskasernen wie in den großen Villen und Palästen. Überall trat er auf und spulte sein Programm herunter.
Alle, die den Künstler zu sich eingeladen hatten, mussten sich natürlich testen und impfen lassen, auch durften sie den Künstler weder berühren noch ihren Beifall laut bekunden, also weder klatschen noch laut „Bravo!“ rufen. Lediglich ein „Daumen hoch“ oder „Daumen runter“ war erlaubt. Und natürlich war der Abstand des Künstlers zu seinem Publikum zwei Meter, was sich in manchen Wohnungen, vor allem in kleinen Zwei-Zimmer-Wohnungen, oft schwer verwirklichen ließ, aber trotzdem gab es immer wieder Möglichkeiten, getreu der Devise: „Wo ein Ziel, da ein Weg!“
In manchen Wohnungen etwa stand der Künstler auf dem kühlen Balkon, während seine Zuhörer und Zuhörerinnen im Wohnzimmer in ihren Fauteuils saßen und ihm zuhörten. Oder er setzte sich auf den Rand der Badewanne oder benützte dazu einen Badehocker, während das Publikum in der Diele seinen Ausführungen lauschte. Auch das Schlafzimmer war für den Künstler durchaus kein Tabu! Warum auch? Waren die Betten in den meisten Wohnungen doch immer schön aufgebettet, so dass man durchaus auf ihnen sitzen konnte und etwas deklamieren oder eine kleine Szene darauf ausführen.
Oft waren es auch Gärten, sofern die den Künstler Einladenden über einen solchen verfügten, und diese sahen jenem dann vom Fenster aus zu. Auch ein Innenhof mochte dabei oft für die Darbietung gute Dienste leisten. Es musste halt vorher mit der Hausverwaltung alles abgeklärt werden, so dass den Künstler nicht irgendwelche Hausparteien durch das Betreten des Innenhofes, wenn sie etwa den Müll entsorgten, bei seinen Ausführungen störten. Auch das war zumindest in den meisten Fällen kein Problem gewesen.
Husten ist keine Kunst! Dachten zumindest die meisten der Kunstgenießenden. Denn was tat denn eine Opernsängerin oder ein Opernsänger, wenn plötzlich ein Hustenreiz aufkam oder gar ein Hustenanfall, was ein Musiker oder eine Musikerin im Orchester, was eine Schauspielerin oder ein Schauspieler? Das war doch am Ende immer auch und vor allem eine Frage der richtigen Körperbeherrschung. Des Atemanhaltens, des sich auf etwas anderes Konzentrieren als auf den Hustenreiz.
Was taten Chirurgen, wenn sie bei einer Operation plötzlich husten mussten. Nein, das ging einfach nicht! Also war es menschlich möglich, auch während einer Veranstaltung, einem Theater, einer Oper, oder auch im Kino, zwei Stunden lang nicht zu husten, den Hustenreiz zu unterdrücken. Oder was wäre gewesen, wenn man während einer Beerdigung plötzlich einen Lachanfall bekommen hätte, einfach nur, weil einem während der Zeremonie etwas Lustiges eingefallen war, das mit dem Verblichenen nicht das Geringste zu tun hatte. Also musste natürlich auch dieser Lachanfall unterdrückt werden.
Noch schlimmer wäre es vielleicht aber gewesen, wenn man während einer lustigen Vorstellung, einer Komödie oder einem Kabarett, plötzlich einen Weinanfall bekommen hätte, oder gar einen Weinkrampf. Wie hätte sich das auf den Kabarettisten oder den Schauspieler oder die Schauspielerin oder gar auf das Ensemble ausgewirkt, wenn das ganze Publikum bei der Pointe gelacht hätte, einer aber oder eine plötzlich zu weinen begonnen hätte? Wie hätte das ausgesehen, wie hätte sich das gemacht? Wie hätte sich das auf die weiteren Karrieren der Künstler ausgewirkt, sie womöglich am Ende gar an ihrer Kunst zweifeln lassen und so am Ende gar das vorzeitige Ende ihrer Karriere herbeigeführt.
Also musste das verhindert werden. Der Weinanfall unterdrückt, die Tränen verstohlen aus dem Auge gewischt, so wie man es ja auch bei einem traurigen Film macht, wenn man im Kino sitzt und nicht will, dass jemand sieht, dass man weint, obwohl der gezeigte Film das durchaus hergibt, ja es sogar von der Regie beabsichtigt ist, dass man es tut.
Also kurz: Es gilt für Kunstliebhaber immer die richtige Reaktion zu zeigen: zu lachen, wenn es zu lachen gilt, zu weinen, wenn es zu weinen gilt. Aber nicht zu viel, und nicht zu dramatisch, sondern dezent. Und es gilt, seine körperliche Verfasstheit immer soweit im Griff zu haben, dass man sich jederzeit vom Stuhl zu erheben imstande ist, ohne dass irgendetwas nicht so ist wie es sein sollte. Und eben auch nicht dort zu husten, wo das Husten nicht nur störend wirkt, sondern eben – wie derzeit in der Pandemie – zur Virenschleuder wird und so am Ende andere Zuschauerinnen und Zuschauer infizieren oder am Ende gar ins Krankenhaus bringen und somit gar töten kann.
Wer will denn so etwas? Doch niemand Ernstzunehmender und niemand Ernstzunehmende! Also Disziplin, Disziplin!
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haha, eine typische helmuth schiestl-geschichte, leicht skurril, aber gut. g l g ceha