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Andreas Niedermann
Die Kunst des Haarschneidens
Short Story

Ich sitze im Drehsessel und lese in einer Zeitschrift. Lesen, um nicht mein verärgertes Gesicht im Spiegel betrachten zu müssen. Denn ich muss Geduld haben, da sie gerade eine karottenrote Kundin bedient, deren schlaffe, dünne
Haare sie mit einem Kamm bearbeitet.

Sie unterhalten sich leise. Ihre Stimmen füllen den 4 Meter hohen Raum mühelos. Und jetzt erst entdecke ich im Spiegel, dass beide rot gefärbte Haare haben. Sie, meine Friseurin, bevorzugt ein Rot, das einer blassen
Mandarine ähnelt.

Ihre Unterhaltung ist gepflegt, ich spüre förmlich, wie sie sich bemüht die Spannung zu halten, den artigen Tonfall, die höfliche Konzentration. Das würde sich gleich ändern. Soviel ist gewiss. Damit ist es in wenigen Minuten vorbei.

Nachdem sie die Kundin unter allerlei Höflichkeiten – die in ihrer Übertreibung an Beleidigungen anstreifen – aus der Tür komplimentiert hat, und sie mit mir allein im Raum ist, schraubt sie als erstes die Lautstärke um zwei, drei Zähler hinauf. Die Stimme nimmt ihre normale schrille Färbung an und schrammt an meiner Kopfhaut vorbei ins linke Ohr.

Sie bindet mir die Schürze um, macht einen Witz über den aufgedruckten Flamingo, ein Witz bezüglich des Flamingorosa, dessen Pointe mir natürlich entgeht, und lässt einen ihrer berüchtigten Lacher explodieren. Ihr Deutsch hat sich in all den Jahren meiner Besuche nicht um einen einzigen Grammatikfehler verringert, und die Ungarin hört man in jeder Silbe heraus. Alles, was vorher artig und höflich war, ist nun in reines Temperament verwandelt.

Und ich weiß, was ich an ihr habe.

Eine kleine Ungarin in einem halbwegs mit Geschmack eingerichteten, etwas ältlich wirkenden Friseurladen. Wie einmal eine junge, mit allerlei Blech gespickte Passantin zu ihrer Begleiterin bemerkte: Schau mal, ein Friseurladen mit Vorhängen.“ Da ging mir das zum ersten Mal auf. Ich begann auf Friseurläden zu achten und entdeckte tatsächlich, dass die neue Transparenz Einzug gehalten hatte. Keine Vorhänge mehr, keine Kopf-Frisur-Poster in der Auslage. Dafür aber die Kunden auf den Sesseln, ernst wie bei einer Opferung, und sehr bedeutsam blickend. Demokratisches Haarschneiden. Transparenz muss sein, nicht in der Politik, aber beim Friseur.

Kein Wunder also, dass Frau Judith sich Sorgen macht. Die Kundschaft stirbt ihr weg. Sozusagen unter der Trockenhaube. Als wäre das Richten der Haare eine Vorstufe zur Mumifizierung. Aber sie gestattet es sich (und auch uns Kunden) nicht, zu klagen. Von Ausnahmen abgesehen.

Überhaupt, sie hasst nichts mehr, als die Österreich-Jammerei wie sie sagt, verachtet dieses höchst aktive Beklagen von Zuständen (ohne dabei zumindest den Willen nach einer Veränderung erkennen zu lassen). Frau Judith ist die typische Immigrantin: Vital, auf sich gestellt, fleißig, voller Energie und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Aber auch bis zur Halskrause angefüllt mit Wut und Unverständnis gegenüber den Eingeborenen, deren Phlegma offenbar ihren lebhaften Geist malträtiert.

Während ihre Schere klackend und schnippelnd meinen Kopf umflattert wie ein stählerner Schmetterling, fühlt sie mir auf den Zahn. Ihr Gespür für Aberrationen ist phänomenal. Sie kennt ihre Schurschäfchen. Sie knetet meinen Ärger, den ich wegen einer Nichtigkeit, wie es meine nähere Umgebung nennen würde, aufgezogen habe. (Aber sind es denn nicht immer Nichtigkeiten, die einem zusetzen?)

Ihre Massage macht meinen Ärger geschmeidig. Schon bald quillt er aus meinem Mund, und es dauert keine zwei Minuten,  bis sie ihn unter Kontrolle gebracht, sich seiner angenommen und zu ihrem eigenen gemacht hat. Und sie lässt ihm nun alsbald – anstatt meiner – freien Lauf. Und natürlich ist sie viel besser als ich. 

Sie bestimmt die richtigen Akzente und versteht es ihre Stimme einzusetzen. Außerdem ist sie radikaler, kompromissloser in der Formulierung. Und während ich meinem Ärger aus ihrem Munde zuhöre, schneidet ihre Schere mir einen neuen Haarschnitt.

Wie seltsam. Als ich zahle, bin ich gut gelaunt. Ihre Wangen sind beinahe so rot wie ihre hoch toupierten Haare. Ich habe das Gefühl einem Stammeszauber beigewohnt zu haben.

Ich bin nun ganz sicher: Sie ist einfach gute Medizin.

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Andreas Niedermann

Andreas Niedermann, 1956 in Basel geboren. Nach einer Laborantenlehre einige Jahre in Europa unterwegs. Informelle Ausbildung zum Schriftsteller in genau 50 ausgeübten Berufen. U.a. als Steinbrecher, Alphirte, Kranführer, Kinobetreiber, Krafttrainer, Koch und Theatertechniker. Seit 1989 mit Familie in Wien lebend. Gründete 2004 den Songdog Verlag. Publizierte einige Romane, Storybände und Novellen. Zuletzt „Blumberg 2 (Die Wachswalze)“ bei Edition BAES.

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