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Markus Fenner
Faustschläge
Short Story

Niemand, der mich heute kennt, würde glauben, wie inbrünstig ich mir als Junge gewünscht habe, ein ganzer Mann zu werden. Sport und Gefahr, Athletik und Bewährung waren die Werte, die meine Kindheit bestimmten. Diese Jahre liegen in einem dichten Netz von Raufereien, Ausdauerübungen und blutenden Knien, von Mutproben in den Bergen, auf dem Wasser und zahllosen Nachmittagen auf den Bolzplätzen mit ihren rauschhaften Zuständen, wenn die einbrechende Dunkelheit den Ball zum Schemen machte und wir praktisch nach Gehör weiterspielten, außerstande aufzuhören.

Der erste Bruch kam um die Fünfzehn mit dem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Er war nur zweite Wahl. Ich hatte einfach eingesehen, dass es für mich keine realistische Chance mehr gab, Fußballprofi zu werden. Heute sehe ich, von Fußball verstand ich damals offensichtlich mehr als von Literatur.

Ab da erfolgte, verschärft durch erste sexuelle Erfahrungen, die Abwendung von meinen männlichen Idealen schnell und gründlich. Mit Zwanzig hatte ich für jede Forderung, meinen Mann zu stehen, nur Hohn und Ekel übrig. Mit einer Ausnahme: Wenn es um Prügeleien ging, war ich nach wie vor im Banne meiner Kindheits-Werte.

Ich war – ungesunde Lebensweise, der erste Schritt zum Schriftsteller – ein körperfeindlicher Nachtmensch geworden. Ich benutzte meine Armmuskeln ausschließlich zum Anheben von Zigaretten und Teetassen. Ich hatte nur zwei Frauenfäustchen an dünnen Gelenken zu ballen. Und trotzdem zogen die ärztlich verabreichten Schläfenhiebe Old Shatterhands, die bereinigenden Kinnhaken John Waynes immer noch dicke Fäden durch meine Gewaltphantasien. Als angehender Intellektueller und Spezialist für ungelebtes Leben beschäftigte ich mich natürlich ausgiebig mit Gewalt. Doch war ich außerstande, in meinen Visionen die intellektuellen Tugenden des Entschärfens und Reißausnehmens zu zeigen. Durchwegs trat ich in ihnen als neurasthenischer Old Shatterhand auf, der gelähmt die schlimmsten Übergriffe hinnimmt. Wenn ich daraus auftauchte, zitterte ich noch lange nach, aus Angst vor meiner Feigheit. Es stak wie ein giftiger Stachel in meiner Phantasie. Ich wusste nicht, wo ich hingehörte, und ich erlebte auch nichts, das mir meinen angemessenen Ort zugewiesen hätte. Ich musste tatsächlich fast 25 Jahre alt werden, bis endlich Ideal und Wirklichkeit zusammenstießen.

Schauplatz war eine nächtliche Busstation, an der ich mit einem Freund wartete. Drei junge Männer schoben auf der ganzen Breite des Gehsteigs vorüber, den wir zuvorkommend räumten. Ihr lärmendes, vom Alkohol befeuertes Gespräch ließ mein linguistisches Organ erigieren. Ich äußerte zu meinem Freund, dass in der Sprache der Münchner Jugend die dem Bayerischen innewohnende Tendenz zum Gutturalen als vollendet anzusehen sei. Die aus tiefstem Schlund hervorgestoßenen Füllsel wie „Oh Mann“, „Oh big“, „Echt heavy“ oder „Ohne Flachs, ey“ überwögen derart, dass die Restartikulation darin untergehe und nur mehr ein Strom dumpfer Kehllaute zu hören sei… Ich drückte mich damals etwas komplizierter aus, doch das war in etwa der Sinn meiner Bemerkung. Ich veranschaulichte das auch phonetisch, ohne darauf zu achten, dass meine Studienobjekte noch in Hörweite waren.

Sie machten auf dem Absatz kehrt. Ihr Wortführer, der meine Parodie am stärksten auf sich bezog, baute sich vor mir auf. Ein tief brünetter Typ von etwa Zwanzig, reichlich Brusthaar im Hemdausschnitt entblößend, wirkte er wie ein Italiener auf mich. In unverfälschtem Bayrisch erkundigte er sich nach meinen Wünschen. Geistesgegenwärtig, wie ich auch damals schon sein konnte, leugnete ich, solche zu haben. Warum ich ihn dann blöd angeredet hätte? Ich zeigte mich erstaunt über diese seine Vermutung. Mein Freund trug bei, dass es sich hier wohl um Missverständnis handele. Ich bestätigte das eifrig.

Eine gewisse Geschmeidigkeit in meinem Verhalten, fernab der massiven Kantigkeit meiner Kindheitshelden, fällt auf. Ich hatte das Herz in der Hose. Sie waren allzu einschlägig mit ihren Lederjacken, den Ohrringen, die damals nur die ganz heißen Jungs trugen, und den schweren Ledermanschetten, die die Handgelenke bei ihrem Lieblingssport, dem Aufmischen von Passanten, vor übermäßiger Belastung schützen sollten. Und – sie waren zu dritt. Einer von ihnen war geradezu hünenhaft, ein blonder Schlagetot mit brutal arbeitendem Kiefer. Er machte mir die größten Sorgen, bis er sein gummifolterndes Schweigen brach:
„Rocky, des langweilt. Wenn er nix gsagt hat, dann lass ma ihn!“

Ich verbarg meine Fäustchen in den Manteltaschen und nickte eifrig zu dieser überraschend pastorenhaften Äußerung. Auch der dritte, ein kleingewachsener Vierschrot, plädierte für Frieden. Sie hakten den murrenden Rocky unter und zogen davon. Erleichtert sahen wir ihnen nach. Doch in einiger Entfernung gab es einen Wortwechsel, Rocky durchbrach die liebende Umarmung der Freunde, er schrie: „Aba watscheins hat er mi angfegt und wer fegt, kriegt a Pfund!“

Er kam wieder zurück. Seufzend, jedoch mit weit weniger Beklemmungen sah ich ihn herankommen. Er baute sich erneut vor mir auf und begann in geschäftsmäßigen Ton:
„Also, wie war des, was hast du gsagt?“
„Zum letzten Mal, ich habe nichts gesagt!“
Blinzelnd nahm er meinen neuen, ungeduldigen Ton zur Kenntnis und öffnete die Reissverschlüsse an den Ärmeln seiner Motorradjacke. Langsam zog es die Freunde am Nasenring der Solidarität wieder heran. Sie wirkten erfreulich lustlos. Rocky begann den linken Hemdärmel aufzukrempeln. Ich sah es ungläubig, denn das hatte es nicht einmal bei Karl May gegeben. Sein Totenkopfring blitzte mit roten Glasaugen im Schein der Bogenlampe. Sorgfältig krempelnd schlug er vor:
„Dann sag halt jetzt was!“
„Wie bitte?“
„Du sagst was und i betonier dir eine, dass dir deine gschneckerlten Haar ungefähr gradbiegt“, erläuterte er und begann rechts zu krempeln. Die wohlformulierte Anspielung auf meine Naturlocke, das unwahrscheinliche Krempeln und vor allem der Ring, dieses allzu dick auftragende Emblem des Schreckens: die Situation erreichte ein Höchstmaß an Stilisierung. Ich fühlte mich auf sicherem Boden und fragte grinsend, was ich denn sagen solle. Rocky rief verärgert:
„Is doch egal, irgendwas! Depp, Arschloch, Idiot, des is mir wurscht!“
Ich sah meinen Freund an, ich sah Rockys Gefährten an und in allen Gesichtern las ich nur eine Spannung: wie würde sich Rocky aus dieser völlig sterilen Lage herausmanövrieren? Es war wohl Sadismus von mir, dass ich dann von seinem Angebot Gebrauch machte. Ich sagte – „Arschloch“.

Als eher mittelbar lebender Intellektueller hat man eine viel zu hohe Meinung von Spontaneität. Man lebt auch bei Gewalttaten in einer Weltentzweiung: entweder hochstilisierte Rededuelle, rituelle Drohgebärden oder die nackte, wutblinde Aggression. Doch Rocky litt nicht an dieser Polarisierung. Er war ganz kalt, er sah nicht rot. Er brauchte das nicht. Er hörte „Arschloch“ und schlug zu.

Es war ein Volltreffer links neben meinem Kinn. An Abwehr war nicht zu denken. Noch als ich, ohne irgendeine Schmerzempfindung, zurücktaumelte, war da nur Staunen, dass er dazu imstande gewesen war. Doch dann klaffte es in mir weißglühend auf und aus dem Krater brach etwas hervor, ein ungeheures Schnellen. Es riss mich in einem Sprung nach vorne, es fuhr in die rechte Schulter und dann, mit einen scharfen Stich im Rücken, wie eine Stahlstange in meinen Arm. In einem von Flimmern verengten Blickfeld sah ich Rockys Gesicht zurückfliegen, was offenbar mit der darin gelandeten Stahlstange zusammenhing. Das Gesicht verschwand aus dem Blickfeld und, was soll ich Ihnen sagen – er fiel um. Rocky fiel um und blieb liegen.

Auf solcher Höhe kann sich keine Situation halten. Es folgten die unvermeidlichen Trivialitäten: der Hüne, der sich mit der Drohung, ihre ganze Bande – „a Stucker Zehne aber locker“ zusammenzutrommeln, vollends als rein diskursive Natur herausstellte; mein Freund, der die Nachverhandlungen führte; der kleinere Rocker, der sich um das immer noch am still am Boden liegende Opfer kümmerte – „Kimm, Rocky, kimm, mit dir gibts aa immer bloß Ärger“. Ich nahm es nur am Rande meiner weihnachtlichen Stimmung wahr, innig gekrümmt um das große Geschenk, das mir zuteil geworden.

Ein wenig störend war es schon, als Rocky nach einiger Zeit wieder auf die Beine kam und schwankende, fluchende Anstalten zur zweiten Runde machte. Störend vor allem, weil er sich nach diesen Erschütterungen doch als schwerer betrunken erwies, als mir lieb sein konnte. Seine Freunde nahmen ihn in schützende Umschlingungen – „jetzt spinn net, wuist no amoi umghaut werdn“, was in meine schockbleichen Wangen die rote Farbe zurückbrachte. Die vom Totenkopfring aufgerissene Wunde am Kinn begann zu tröpfeln, die makellose Linie der Situation hing immer mehr durch.

Da fuhr, ganz machina ex machina, der Bus vor. Wir stiegen ein unter ratlosem Schweigen von Rocky und Co. Wir nahmen Platz, ebenfalls schweigend, denn auch mein Freund war frei von der Unsitte, sich sofort nach dem Abschied über die Zurückbleibenden das Maul zu zerreißen. Durchs Fenster sah ich sie immer noch dastehen, das perfekte Abschieds-Komitee. Ich presste das Taschentuch ans Kinn und nickte Rocky, der mit verbissener Miene auf die anderen einsprach, begütigend zu. Ein rotes Mal breitete sich prangend über seinem Backenknochen aus. Der Junge war mir richtig ans Herz gewachsen.

Rocky, der Umfaller, bescherte mir eine deutliche Besserung bei meinen Prügelvisionen. Süß war der Schmerz der Muskelzerrung, die ich mir am Rücken geholt hatte. Es war die Vergewisserung, dass in mir, tief in meinem untrainierten Körper, das Tier am Leben war. Das Tier schlief. Doch es konnte durch den einfachen Reiz: „Er hat mich angefasst“ weißglühend erwachen und meine unzulänglichen Muskeln benutzen, um den Hammer auszufahren. Wenn ich meine Rechte sah, wie sie nach dem Füller griff, ruhig am Tisch lag, ergriff mich begeisterte Dankbarkeit, dass auch in diesem Händchen der Hammer steckte. Es war nicht gerade der von Thor, der Vergleich mit Maxwells Silverhammer lag näher. Doch auch dieser macht bekanntlich bang bang…

In den folgenden Jahren verinnerlichte sich das Erlebnis immer mehr. Es fehlte die Wiederholung. Ich geriet zwar ab und zu in gewaltgeladene Situationen, doch ging die Aggressivität immer zu komplizierte Wege für das schlichte Raster, das ich in mir vorgefunden hatte. Oft hatte ich hinterher das aushöhlende Gefühl, mich passiv bis an den Rand der Feigheit verhalten zu haben. Doch niemand hob meine normale Gehemmtheit auf, keiner entfesselte mich, indem er mich „anfasste“.

Ich war über vierzig, als das Raster wieder zum Einsatz kam. Am Eingang zum Münchner Ostbahnhof kam es zu Manövrierproblemen mit einem langen hageren Menschen, der drei Chihuahuas an der Leine führend, zur Tür hineinwollte, während ich hinauswollte. Ein Wortwechsel entstand, der blitzschnell ordinär wurde. Das traf mich umso mehr, als ich ihm, allerdings ziemlich ungeschickt, erst noch die Tür aufgehalten hatte. Ich fühlte mich ungerecht behandelt. Die Bezeichnung „Arschloch“ trieb mir schon das Blut in den Kopf. Ich ließ die Tür hinter mir zufallen, ohne einen seiner vorwurfsvoll kläffenden Köter zu erwischen, und trat mit einer Aufforderung auf ihn zu, die nicht zu meinem stehenden Wortschatz gehört.

Er war ein baumlanger Mann um die Dreißig, allerdings dünn wie eine Zitterpappel. Die pompöse Pelzjacke, das einschlägige Nuttengetier an der Leine ließ, zusammen mit der Dauerwelle, die sein langes Gesicht umstand, an einen Amateurzuhälter denken. Jedenfalls war er hochgradiger Choleriker, er hatte mich ansatzlos, ab dem ersten Wort, mit dumpfer Raspelstimme beschimpft. Als ich ihn jetzt aufforderte, sich zu verpissen, drang nur mehr Röhren aus ihm. Er ließ die Leine fahren und stieß mich aus dem Weg. Seine Hand rutschte von meiner Schulter ab und landete an meinem Hals. Offenbar hatte er damit mich „angefasst“, denn in mir öffnete sich der weißglühende Krater und die Kraft fuhr in meine rechte Schulter. Maxwells Silverhammer, hinter dem jetzt mit dem gewachsenen Körpergewicht auch mehr Dampf saß als seinerzeit bei Rocky, flog an der Stahlstange nach oben in sein Gesicht. Ich fühlte die Wonne der Entladung und dann einen heftigen Schmerz im Arm, als der Silverhammer ins Leere flog. Die Ratte hatte den Kopf zur Seite gerissen!

Für einen ohnmächtigen Moment hing mein Fäustchen an der zertrümmerten Stahlstange über der Schulter meiens Gegners, bis er zurücksprang. Wir standen beide erstarrt. Mich lähmte eine große Leere. Doch auch er sah mich nur sprachlos an, völlig schockiert über diesen Ausbruch. Dann geschah kaum Glaubhaftes. In den Achtungsabstand, der sich sofort um uns gebildet hatte, traten zwei junge Männer und schoben sich zwischen uns. „Kommen Sie, beruhigen Sie sich, ist ja gut“, sprach die eine unwahrscheinliche Verkörperung des „beherzten Passanten“ auf mich ein, die real doch eigentlich nie vorkommt. Zart fasste der junge Mann mich an meinem schmerzenden Schlagarm und zog mich beiseite. Das zweite Engels-Exemplar kümmerte sich in ähnlicher Weise um den Zuhälter.

In die dröhnende Leere in mir schoss Scham ein, ausgelöst durch das „Sie“, das dieser Junge gegenüber diesem pustenden, grauhaarigen Herrn in mittleren Jahren ganz selbstverständlich benutzt hatte. Er hätte mein Sohn sein können. Er lächelte freundlich, vielleicht mitleidig, während er sanft fragte, ob jetzt alles okay sei. Ich bedankte mich mit gedämpfter Stimme, als sei es bei meiner eigenen Beerdigung, und ging gebrochen davon.

Das geschah vor einem Jahr. Die Leere, die der Fehlschlag in mir hervorrief, hat sich nach der ersten Beschämung längst mit etwas anderem gefüllt. Es ist Überdruss. Ich habe die Nase voll von dem Komplex. Wenn zu den seelischen Schwierigkeiten, mein Tier in solchen Situationen überhaupt nach vorne zu bringen, dann auch noch boxerische Probleme hinzukommen, fühle ich mich nicht mehr zuständig. Wenn Zuhältervisagen nicht mehr dort sind, wohin mein Hammer fliegt, dann interessiert mich das Ganze nicht mehr.

Ich betrachte mich heute als geheilt von meinem Karl May-Kodex. Ich halte auch ein drittes einschlägiges Erlebnis, das der Leser vielleicht erwartet, für unnötig. Um zu wissen, wo künftig bei aufziehenden Prügeleien mein Heil liegt, brauche ich keine zusätzliche Erfahrung. Der Leser stellt sich etwa die Begegnung mit einer Bande Skinheads vor, die mich zusammenstiefeln, bis ich auf der Intensivstation erwache, das tapfer lächelnde Gesicht meiner Frau über mir, und mit geklammertem Kiefer mümmele: „Okay, Süße, ich habs begriffen.“ – doch ich betone, sie ist unnötig! Ich hab es schon jetzt begriffen!

Ich weiß endlich, wo mein Platz ist, was ich meinen grauen Haaren, meiner geistigen oder zumindest sitzenden Lebensführung schuldig bin. Bei der nächsten Pöbelei mache ich sofort die Fliege und schaue mich nach einem Polizisten um. Und hinterher möchte ich keine Selbstvorwürfe hören, ja?!

Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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