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Gesamttext:
Alois Schöpf
Das geraubte Lebenswerk
Auf den Tiroler Festspielen Erl 2021 liegt der Makel der Niedertracht.
Versuch einer Analyse

Wenn man nach dem Gasthof „Die blaue Quelle“ in Erl mit dem Auto die leicht ansteigende Landesstraße hinauffährt, öffnet sich das Feld und man sieht rechts im Hintergrund einer großen Wiesenfläche zwei mächtige moderne Gebäude aufragen: das Passionsspielhaus des Erler Passionsspielvereins und die neu für die Tiroler Festspiele Erl erbaute Oper. Beide Bauten bestechen durch ihre elegante Architektur, die wunderbar mit der bäuerlichen Umgebung und der grün wuchernden Natur kontrastiert.

Das Passionsspielhaus, in den 1950ern nach den Plänen des Architekten Robert Schuller erbaut, wurde in den letzten Jahren restauriert, modernisiert und vor allem mit zeitgemäßen Toilettenanlagen versehen. Das Opernhaus wiederum entstand nach einem Architektenwettbewerb nach den Plänen des Wiener Büro Delugan Meissl neu und ist mit seinem eleganten Aufgang, einem heb- und versenkbaren Orchestergraben und einem spektakulären, in schiefen Ebenen angeordneten Foyer eines der modernsten und akustisch am besten ausgestatteten Opernhäuser Österreichs und seiner Nachbarländer.


Mit Leidenschaft und Charisma

Beide Gebäude verdanken ihren heutigen Zustand der ungeheuren Überzeugungskraft und Leidenschaft eines Mannes, ohne den weder die öffentlichen Stellen jemals so viel Steuermittel locker gemacht hätten, noch so großzügige private Opernliebhaber wie der Großindustrielle Hans Peter Haselsteiner und seine Gattin Ulli Haselsteiner sich zu solchen Investitionen entschlossen hätten. Sein Name ist der über lange Zeit als internationaler Star gehandelte Dirigent, Intendant und Impresario Gustav Kuhn, der als prominentes Opfer des Zeitgeistes in seiner Ausformung als „Alter weißer Mann“ inzwischen um sein Lebenswerk betrogen wurde, was seine geradezu schriftliche Bestätigung darin findet, dass er im Programmheft der Tiroler Festspiele Erl vom Sommer 2021, der von der Corona-Pandemie mehr oder weniger zum ersten Mal unbeeinträchtigten Konzert- und Opernreihe unter der neuen Ära Loebe/Küchle, mit keinem einzigen Wort erwähnt wird.

Kuhn ist in einem Ausmaß zur Unperson erklärt worden, dass man es ihm, obgleich er in Erl wohnhaft ist, nicht nur verwehrte, bei den Proben zu „Rheingold“ unter der Regie von Brigitte Fassbaender anwesend zu sein, es wurde ihm auch nahegelegt, auf den Besuch allfälliger Premieren zu verzichten, da er allein durch seine Anwesenheit als Ex-Intendant medial die Präsenz all jener überstrahlt hätte, die inzwischen versuchen, es sich in seinen Hinterlassenschaften parasitär einzurichten. Dass er all diesen Wünschen, die Festspielegemeinde von seiner Anwesenheit zu entlasten, obgleich von Natur aus ein Revoluzzer, zähneknirschend willfahren muss, hängt wohl, dreimal darf man raten, mit jenen mildtätigen Apanagen zusammen, mit denen ihn der gütige, jedoch von der nachhaltigen Strahlkraft seines Günstlings offenbar nicht mehr sonderlich begeisterte Hans Peter Haselsteiner vor dem endgültigen ökonomischen Absturz bewahrt.


Der Neid der Szene

Dass Kuhn an diesem Absturz selbst nicht ganz unschuldig ist, sollte nicht verschwiegen werden. Gerade seine außerordentliche Fähigkeit, den meist aus bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Milieus stammenden Tiroler Provinzpolitikern in Aussicht zu stellen, nach Erl die große Welt der Oper und Hochkultur zu holen und sie damit am Leben der Reichen, Schönen und Gebildeten teilhaftig werden zu lassen, was zuletzt in millionenschweren Subventionen seinen Ausdruck fand, erregte massiv den berechtigten Unmut, aber auch den unberechtigten Neid der heimischen Kulturszene.

Kam hier doch einer und wurde binnen weniger Monate mit hohen Beträgen gefördert, während andere ein ganzes Leben lang um ihre paar Tausender kämpfen mussten, nur weil sie nicht die Chuzpe hatten, allfällige Kulturpolitikerinnen abzubusseln, und zu anständig waren, um für die Wiederwahl eines Landeshauptmanns Werbung zu machen.

Dass Kuhn berechtigterweise mit seinem Projekt in Erl von allem Anfang an als Provokation empfunden wurde, hängt jedoch auch damit zusammen, dass die grundsätzliche politische Entscheidung, neben dem chronisch untersubventionierten Tiroler Landestheater noch zwei weitere Opernhäuser in die grüne Wiese zu stellen, niemals offen ausdiskutiert wurde. Unmut erregte zudem nicht nur die oft rüde Art Kuhns, mit seinen Künstlern umzuspringen, Unmut erregten auch Honorare, im Rahmen derer branchenüblich bezahlte westliche Musiker neben armen Schluckern aus dem ehemaligen Ostblock saßen, die mit ihrer Kunst nicht einmal auf die halbe Gage einer hierzulande mies bezahlten Putzfrau kamen.

Unmut erregten aber auch die kasachischen Zustände, die es Kuhn erlaubten, mit seinen am Klassik-Mainstream orientierten Beethoven- und Wagnerprogrammen an der Hand seines Multimillionärs direkt zum Minister zu marschieren, während sich andere mit wesentlich intelligenteren Ambitionen durch wenn nicht korrupte, so doch zumindest unnötige Beratergremien quälen mussten, um zuletzt Kleinstbeträge zugesprochen oder gleich den ablehnenden Bescheid zu bekommen: man fördere nur Experimentelles. Als ob die vom Bund geförderten Festwochen der Alten Musik oder eben auch Erl je auch nur den Minimalansatz des Experimentellen geboten hätten oder bieten würden!


Das Maestro-Getue

Unmut erregte zuletzt aber auch ein geradezu lächerliches Getue um einen zweifelsfrei kreativen und charismatischen Dirigenten, der sich mit dem Titel „Maestro“ ansprechen und sich damit in etwa auf die Höhe jenes alle sechs Jahre in Erl im Rahmen der Passionsspiels-Kitschorgie gekreuzigten Erlösers Jesus Christus hieven ließ, wobei alle an den Tiroler Festspielen Erl Beteiligten, obgleich durchwegs intelligente Leute, mit Bravour verdrängten, dass dieses ihr hochkulturelles Getue binnen weniger Tage ein Ende finden würde, wenn jemand auf die Idee käme, den staatlichen oder in diesem Fall auch haselsteiner´schen Subventionsstecker zu ziehen.

Fehlt zuletzt nur noch ein aus all diesen Momenten sich langsam entwickelnder manifester künstlerischer Größenwahn, aus dem heraus der “Maestro“ zur Ansicht gelangte, er könne nicht nur mit dem Taktstock umgehen, sondern auch den Bühnenbildner spielen und Regie führen. Dass selbiges in zu vielen Fällen zumindest nach Ansicht von Besuchern, die über ausreichend überregionale Vergleiche verfügen, in provinzielle Peinlichkeit abglitt, führte zuletzt auch künstlerisch zu massiven Einwänden, in Erl müsse bei Eintrittspreisen von bis zu 180 Euro und bei gleichzeitig mangelhafter Qualität der Inszenierungen und der Sänger langsam etwas geschehen.


Dilettantische Kulturpolitik

Unter der Voraussetzung, dass jede künstlerische Leistung nicht nur am Publikum wächst, sondern auch von der ehrlichen Kritik und Analyse des Produzenten, des Geldgebers, in diesem Fall vor allem der staatlichen Subventionsgeber abhängig ist, hätten all die aufgezählten Mängel schon längst im Sinne eines wertschätzenden Umgangs mit dem zu Eskapaden neigenden, jedoch unvergleichlich verdienstvollen Gründer und Initiator der Tiroler Festspiele Erl bereinigt werden können. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Kuhns Gesprächspartner über ausreichend guten Geschmack, Kompetenz in Sachen Kulturmanagement und über die Zivilcourage verfügt hätten, bei allfälligen Aufsichtsratssitzungen den Mund aufzumachen.

Da die heimische, aber auch gesamtösterreichische Kulturpolitik in der Regel jedoch von Amateuren und Dilettanten bevölkert wird, konnte ein solches Gespräch naturgemäß nie zustande kommen. KulturpolitikerInnen bekommen hierzulande ihr Ressort nicht deshalb zugesprochen, weil sie von den komplexen Problemen des Theaters, der Oper, der Verlage oder der bildenden Künste auch nur das Geringste verstehen würden, sondern weil sie als unverzichtbares Mitglied des weiblichen Geschlechts im Sinne der Quote, der richtigen Partei bzw. der richtigen Parteiunterorganisation mit dem, was an Ressorts noch am Tisch übrig bleibt, und das ist in der Regel eben die Kultur, versorgt werden müssen.


Mulmiges Unbehagen

Was sich statt einer offenen und absolut notwenigen Diskussion also zunehmend anhäufte, war eine Art mulmigen Umbehagens, sodass die ihrer Hochblüte entgegensteuernde #MeToo-Bewegung, Kuhns immer wieder öffentlich bekundetes Bekenntnis zur Vielweiberei, das zweifelsfrei unter moralischer Empörung vergrabenen Sexualneid induzierte, und die sich im Hass-Blog des Markus Wilhelm häufenden Informationssplitter einer im Übrigen seit Jahrzehnten in der Musiktheater- und Theaterbranche alltäglichen und üblichen Anmache leitender Künstler ihren Untergebenen gegenüber eine höchst explosive Mischung ergab.


Aufdecker mit Verdiensten

Der tiefe Fall Gustav Kuhns ist darüber hinaus nur zu verstehen, wenn man neben dem Fluten des Zeitgeists, auf den noch näher eingegangen wird, auch auf die einerseits verdienstvollen und andererseits anzweifelbaren Leistungen des Schriftstellers und Journalisten Markus Wilhelm eingeht. Als zum Puritanismus neigender nationalmarxistischer und lebensfeindlicher Fundamentalist beflügelt nämlich nichts mehr den Hass dieses sogenannten Ötztaler Bloggers als Erfolg, vor allem wenn er von sogenannten Liftkaisern und Hoteliers erarbeitet wurde. Hass aber auch gegen die seit Jahrzehnten in Tirol regierenden politischen Eliten, Hass gegen die ebenso dominierenden medialen Eliten und Hass wertfrei gegen alles, was mit den kulturellen Gelüsten des begüterten Bürgertums und eventuell mit den damit verbundenen hochkulturellen Lebensfreuden zu tun hat.

Es wäre unfair, zu verschweigen, dass dieser Hass, um es abgemilderter zu formulieren: diese grundsätzliche Skepsis gegen alles Etablierte und all jene Verhältnisse, die entstanden sind, weil alle daran Beteiligten es sich gerichtet haben, in vielen Fällen sehr wohl einen reinigenden Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln konnte. Dies gilt besonders für die wahnwitzigen Ideen offenbar vollkommen verblendeter Manager, Gewinne durch Steuertricks zu lukrieren, indem ihre im öffentlichen Eigentum befindlichen Betriebe, ohne dass das Volk oder seine Repräsentanten im Landtag je darüber befragt worden wären, in die USA veräußert wurden, um sie von dort wieder auf die Distanz von Jahrzehnten zurück zu mieten.


Journalistischer Nationalheld

Durch die Kritik an den Cross-Boarder-Leasing Geschäften vor allem der TIWAG und durch einige Prozesse, die der Frage gewidmet waren, ob eine solche Kritik geäußert werden dürfe, und die von den Gerichten mehrfach bejaht wurde, stieg Markus Wilhelm zum Nationalhelden für alle jene auf, die sich berechtigt oder unberechtigt in diesem Land für beleidigt und erniedrigt hielten und zugleich zu feig waren, ihre Kritik offen unter Klarnamen zu äußern. Auf diese Art kam Wilhelm nicht nur zu zahlreichen internen Unterlagen, was ihn zur stolzen Behauptung veranlasste, er habe in jedem Dorf einen Informanten, er konnte auch auf seiner Homepage ein Onlineforum installieren, das im Schutze der Anonymität zunehmend zu einer Mullverwertungsanlage für alle nur denkbaren Unterstellungen, Verdächtigungen, Denunziationen und Beschimpfungen wurde, an denen sich mit voyeuristischer Freude zunehmend mehr Landsleute, darunter naturgemäß auch fast alle Journalisten beteiligten, wodurch Wilhelm endgültig zu einer moralischen Instanz im Lande wurde.

Dass er diesen Status nicht mit einem Ethos verband, das ihn dazu angehalten hätte, sich einem Minimum an Gerechtigkeit, Fairness und Verhältnismäßigkeit verpflichtet zu fühlen, ist ihm anzulasten, seinem fundamentalistischen Lebenshass zuzuschreiben und hat zuletzt seiner moralischen Autorität enge Grenzen gesetzt. Infolge dieses fragwürdigen Charakterzuges nämlich ruinierte er reihenweise und bedenkenlos den Ruf unbescholtener Bürger, etwa jenen des Militärkapellmeisters Hannes Apfolterer, jenen des ehemaligen Landtagspräsidenten Helmut Mader, jenen des ehemaligen Landesrats Christian Switak und zuletzt eben auch jenen von Gustav Kuhn, wobei alle Genannten, dies kann nicht oft genug betont werden, bei jeweils eingeleiteten Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht einmal mit einer Anklage konfrontiert, sondern sämtliche Verfahren eingestellt wurden.


Verwilderung der Sitten

Wesentlich in diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung, dass nicht alle, die Wilhelm heftig und massiv kritisierte und in seinem Forum denunzieren ließ, dadurch auch Schaden erlitten. Ob selbiges eintraf, hing nämlich davon ab, ob die gesellschaftliche, ökonomische oder mediale Position des Betreffenden so mächtig, unverzichtbar und unangreifbar war, dass er gleichsam im Rahmen einer kollektiven und verschwiegenen Willensbildung zwischen Mächtigen, Medien und ihren sich an Bösartigkeit berauschenden Bürgern nicht zum Abschuss freigegeben wurde. Dies wiederum führte bei vielen jener, die durch den Kakao gezogen wurden, ohne dass dies Folgen gehabt hätte, dazu, dass sie meinten, die Aktivitäten Wilhelms und den in seinem Forum auftauchenden und in vielen Fällen gröbsten Unterstellungen und Beleidigungen ignorieren zu können. Prominenter Ausdruck dieser falsch verstandenen Toleranz war etwa der Umstand, dass der Landeshauptmann von Tirol, der ja nicht nur Privatperson ist, sondern auch den Wählerwillen von sehr vielen Menschen repräsentiert, immer wieder als geistig beschränkt dargestellt werden konnte. Die Tatsache, dass solche verbale Entgleisungen ohne Widerrede, wie es einem ordentlichen öffentlichen Diskurs entsprechen würde, kommentarlos durchgingen, führte als Folge zu einer immer drastischeren Verwilderung der Sitten der Debattenkultur, ein Umstand, gegen den zuletzt nur Hans Peter Haselsteiner und Gustav Kuhn mit einer Flut von Gerichtsverfahren mobil machten. Selbiges führte denn auch rasch zum Ende des Denunziationsforums, was schade ist für ein intellektuell ohnehin auf niederstem Niveau operierendes Land, was gut ist, weil, zumindest aus meiner Sicht, bei Auseinandersetzungen doch ein Mindestmaß an mit Zivilcourage gepaarte Courtoisie einzuhalten ist.


Gratiszulieferer aus den Tälern Tirols

Die selektiv wirksamen Schmutzkübelkampagnen bewiesen jedenfalls, dass die Aktivitäten des Journalisten und Schriftstellers Wilhelm, statt reinigende Wirkung zu entfalten, umstandslos instrumentalisiert wurden, insofern als missliebige Personen, die man ohnehin loswerden wollte, mit Verweis auf ihren ramponierten Ruf leichter ins Abseits gestellt werden konnten. Zugleich lieferte Wilhelm, der heldenhaft von sich behauptet, noch nie einen Cent mit seinem Blog verdient zu haben, den etablierten Medien, denen sowohl die Personalkapazität, aber in vielen Fällen auch die Zivilcourage fehlt, selbst undurchsichtigen und nach Korruption riechenden Geschichten nachzugehen, kostenfrei Schlagzeilen aus den zurückgebliebenen Gebirgstälern Tirols. Dass Wilhelm damit als Gratiszulieferer genau jene ausbeuterischen Strukturen, in diesem Fall in den Medien, die ihm vor dem Hintergrund seines marxistischen Weltbilds ein besonderer Dorn im Auge sind, selbst aktiv unterstützte, scheint ihm leider entgangen zu sein.

Zu erinnern ist an dieser Stelle noch einmal an die generelle Fragwürdigkeit des Projekts Tiroler Festspiele Erl, durch das das kleine Bundesland Tirol mit einem zweiten und ultramodernen dritten Opernhaus gesegnet wurde, aber auch an gewisse zu Kritik Anlass gebende und bereits aufgelistete Verhaltensweisen Kuhns, um verstehen zu können, in welchem Ausmaß die inzwischen aus den USA nach Österreich hereinschwappende #Me-too-Bewegung und eine damit einhergehende auch in der Film-, Theater-und Opernbranche steigende Sensibilisierung in Bezug auf Willkür, Ausbeutung und Abhängigkeiten genau zu jener explosiven Mischung führte, aus der sich eine günstige Gelegenheit entwickelte, sich von jemanden zu verabschieden, der einem längst unheimlich bzw. zu eigenmächtig bzw. zu berühmt geworden war. Zumal eine solche Entthronung des Maestros der Kulturpolitik zugleich die unverhoffte Chance bot, sich, obgleich im Kern unverbesserlich konservativ, katholisch und inkompetent, als gut, edel und auf der Höhe der Zeit zu präsentieren.


Opportunismus und Feigheit

So führten die Denunziationen und Gehässigkeiten, wie sie im Blog des Markus Wilhelm aufbereitet wurden, gemäß der längst auch in anderen Fällen in Österreich praktizierten Unsitte noch vor jeder Erkenntnis oder Entscheidung der Gerichte dazu, dass Kuhn mehr oder weniger genötigt wurde (die dafür zur Verfügung stehenden Machtmittel wurden bereits am Anfang meiner Analyse erwähnt), nicht nur seine Position in Erl zu räumen, sondern auch den vom ehemaligen Landeshauptmann Wendelin Weingartner überreichten Tiroler-Adler-Orden als Dank für die Verdienste um das Land Tirol zurückzugeben. Eine Demütigung, die all jene, die sie von Kuhn abverlangten, in dem Moment in ein noch schäbigeres und von miesem Opportunismus gekennzeichnetes Licht tauchte, als sich abzeichnete, dass die gegen Kuhn vorgebrachten Anklagepunkte wegen sexueller Belästigung und Nötigung auch aufgrund von Verjährung nicht einmal zu einer Anklageerhebung reichten.

Letzter Ausweg blieb daher, um sich noch einigermaßen vom Makel zu befreien, etwas zu schnell die Fähnchen in den Wind des Zeitgeists gehängt zu haben, die Anrufung der Gleichbehandlungskommission, eine Einrichtung, die eigentlich darüber zu wachen hätte, dass niemand aufgrund seines Geschlechts Diskriminierung erfährt, und deren Aufgabe schlicht nicht darin zu bestehen hat, abseits gerichtlicher Verfahren allfällige Gerichte zu ersetzen. Genau dies tat sie jedoch im konkreten Fall pflichtschuldigst, womit all jene Politiker, deren Aufgabe, da auf die österreichische Verfassung vereidigt, eigentlich darin bestünde, vor einem die Existenz ruinierenden Rufmord zu schützen, von der Sünde exkulpiert wurden, einen unbescholtenen Bürger als Treibmittel missbraucht zu haben, vor der Bevölkerung als heiligmäßig, sittenstreng und modern dazustehen. Und dies mit der hanebüchenen Begründung, dass, wenn Kuhn schon nicht von den Gerichten belangt werden könne, dann zumindest sein durch die Gleichbehandlungskommission bestätigtes unsittliches Verhalten und sein darüber hinaus auch durch andere Unregelmäßigkeiten ruinierter Ruf die Tiroler Festspiele Erl in einer Weise beschädigen könne, dass sein weiterer Verbleib an ihrer Spitze undenkbar sei.


Das Gewaltmonopol des Staates

Eine der größten Errungenschaften des menschlichen Zusammenlebens besteht im staatlichen Gewaltmonopol, der kollektiven Übereinstimmung also, dass nur der Staat Recht sprechen und bestrafen darf, und zwar auf Basis von klar vorgeschriebenen Regeln, über deren Einhaltung professionell ausgebildete Richter zu wachen haben. Dieser Verzicht auf gegenseitige Gewaltausübung, ohne den die Gesellschaft, zumindest nach Hobbes, zu einem lebensfeindlichen Kampfplatz herabsinken würde, behagt naturgemäß all jenen nicht, die davon leben, über ihre Mitmenschen herzuziehen und sich durch hochtrabendes Gerede über sie zu erheben, was insbesondere für Politiker, die wiedergewählt werden wollen, und für Journalisten gilt, die, wie derzeit, im Kampf gegen das Internet mit dem Rücken zur Wand stehen und mit allen Mitteln gegen das Sinken der Auflagen und damit auch gegen die Entwertung ihres Status als Angehörige der schwätzenden Elite ankämpfen.

Es war der großartige Jacques Offenbach, der schon im Jahre 1858 in der Operette „Orpheus in der Unterwelt“ die öffentliche Meinung zum Gegenstand des beißenden Spottes machte. Mehr als eineinhalb Jahrhunderte später hat sich nicht viel geändert, im Gegenteil, alles wurde nur noch schlimmer, wie die wochenlangen Debatten in Österreich über die Sittsamkeit illegitim an die Öffentlichkeit gelangter Handychats von führenden Politikern und deren angebliches Sexualverhalten beweisen.


Keine Anklageerhebung

Ganz in dieses Bild passt denn auch die planmäßige öffentliche Hinrichtung Gustav Kuhns, der sexueller Belästigungen und Übergriffe bezichtigt und zum Rücktritt gezwungen wurde, bevor noch die Justiz Gelegenheit hatte, als Repräsentantin des Gewaltmonopols aktiv zu werden. Als dem nämlich so war und nicht einmal Anklage erhoben wurde, weil eine professionell ausgebildete Gerichtsbarkeit einerseits die Suppe zu dünn befand und andererseits manch angebliches Delikt als verjährt einstufte, war die Demontage des Maestros bereits vollendet. Von nun an wurde argumentiert, dass, abseits der Einschätzung der Gleichbehandlungskommission, die Vorwürfe gegen Kuhn deshalb aufrecht blieben, weil man von seinen Opfern sowohl aus karrieretechnischen als auch aus Gründen der psychischen Belastung niemals erwarten hätte können, an die Öffentlichkeit zu gehen – nur die Todesmutigsten hatten diesen Schritt getan -, weshalb eine Verjährung nichts an der schwerwiegenden, zumindest moralischen Verfehlung selbst etwas ändere.


Zeitgeist und Moral

Homosexualität zwischen Erwachsenen wurde 1971 legalisiert. Im Jahr 2002 wiederum wurde nach einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs das Schutzalter für männliche Homosexuelle von 18 auf 14 Jahre gesenkt. Vor einigen Wochen entschuldigte sich nun die österreichische Justizministerin Alma Zadić in diesem Zusammenhang dafür, dass bis zur Aufhebung der Strafbarkeit der Homosexualität die Existenz von ca. 15.000 Österreichern ruiniert worden sei.

Ohne in die zeitgeistig tobende Schlacht zwischen über Jahrhunderte entrechteten Frauen und alten weißen Männern eingreifen zu wollen, sollte dieses Beispiel insofern zum Nachdenken anregen, als alles, was mit sexueller Übergriffigkeit im engsten und im weitesten Sinn zu tun hat, einer in den letzten Jahren und Jahrzehnten rasch sich ändernden Beurteilung unterlag und schon allein deshalb das Argument, dass Verjährung nichts an der moralischen Verwerflichkeit einer Tat ändere, widerlegt sein dürfte.

Sollte also von Seiten Kuhns tatsächlich schuldhaftes Verhalten gegeben gewesen sein, so hätten die Betroffenen nicht, aus welchen Gründen auch immer, zuwarten dürfen, da der Staat, um Rechtssicherheit gegenüber einem sich stetig wandelnden Zeitgeist zu wahren, abgesehen von Kapitalverbrechen aus guten Gründen das Prinzip der Verjährung eingeführt hat. Dies gilt auch für die angeblichen Versuche Kuhns und seines Teams, die Karriere jener, die Widerstand gegen ihn leisteten, zu schädigen, wobei in diesem Fall die Beobachtung nicht unerwähnt bleiben darf, dass gerade in den darstellenden Künsten das Ausbleiben eines Erfolgs nur von den allerwenigsten den eventuell mangelnden eigenen Talenten oder Befähigungen zugeschrieben wird, vielmehr ganz im Gegenteil stets die böse, das eigene Genie nicht wahrnehmende Kollegen- bzw. Gesellschaft schuldig gesprochen wird.


Abschied vom Rechtsstaat

Tatsache ist jedenfalls, dass Kuhn nach Ansicht der Gerichte bis dato als unschuldig zu gelten hat, woraus sich die Frage ergibt, weshalb ihm keiner und keine von jenen Politikern und Politikerinnen Beistand leisteten, von denen man schon allein aufgrund ihrer satten Gehälter davon ausgehen müsste, dass sie über ein Minimum an Wissen darüber verfügen, wie ihr Staat, an dessen Spitze sie gewählt wurden, funktioniert und zu funktionieren hat. Dies betrifft vor allem die Politiker Beate Palfrader als interesselose Landesrätin für Kultur und den Landeshauptmann von Tirol Günther Platter, der sich noch vor seiner letzten Wahl von Gustav Kuhn per Inserat öffentlich adorieren ließ.

In gleicher Weise, in der Hans Peter Haselsteiner als erfolgreicher Unternehmer und prominenter Liberaler mit Hang zur politisch korrekten Rede berechtigterweise Angst haben musste, durch #metoo wie sein Freund Gustav Kuhn in die Abgründe geschäftsstörender Verdächtigungen gezerrt zu werden, so dürften ähnliche Ängste den Landeshauptmann geplagt haben, wohingegen die ehrgeizige und karenzierte Schuldirektorin Palfrader die große Chance witterte, sich österreichweit als Dirndlfeministin zu outen.


Kotau vor der öffentlichen Meinung

Und so sehr es bei Hans Peter Haselsteiner verwundert, dass er als Reaktion auf die Scherereien, die er sich für seine Großzügigkeit als Opern-Mäzen eingehandelt hat, nicht umstandslos alles hinwarf, so deprimierend ist die Erkenntnis, dass sich ausgerechnet unsere Tiroler Politiker, die sich routinemäßig einer dem Nationalhelden Andreas Hofer abgeschauten angeblichen Widerständigkeit befleißigen, im Falle Kuhn als besonders bedauernswerte Feiglinge dem Zeitgeist gegenüber und somit als Verräter am Rechtsstaat erwiesen.

Selbiges gilt natürlich auch für die Medien, die es in Vorwegnahme eines fiktiven, unter allen Umständen durch radikale Anbiederung bei der Stange zu haltenden Lesers verabsäumten, dem ursprünglichen Auftrag journalistischer Tätigkeit nachzukommen, die Aufklärung für ein breites Publikum zu befördern. Ganz im Gegenteil: weder ein totalitärer feministischer Anspruch, noch die Realitätshaltigkeit von behaupteten Unterdrückungszusammenhängen wurden einer kritischen Analyse unterzogen.


Entschuldigungsgründe

Zur Entschuldigung für dieses Verhalten könnte immerhin angeführt werden, dass Kuhns Fähigkeit, durch sein Charisma eine Schar von Jüngern um sich zu versammeln und Geldgebern gegenüber fast schon messianische Qualitäten zu entwickeln, im Falle der geringsten Enttäuschung im Hinblick auf seine charakterlichen Qualifikationen offenbar eine fast ebenso große Abstoßungsreaktion hervorrief. Da stellte des Maestros Vorbild in Salzburg Herbert von Karajan es schon viel klüger an, wenn er sich mit seiner schönen Eliette als skandalfreier Gesandter der Künste mit Porsche oder Privatjet in seine Villa nach Anif zurückzog, um nach den Konzerten im Swimmingpool seine kaputten Bandscheiben zu pflegen, statt junge Damen lediglich als Besitzer eines Motorrads unsittlich anzubaggern.

Ebenso entschuldigend sollte nicht unerwähnt bleiben, dass viele von jenen, die sich von Kuhn distanzierten, vielleicht tatsächlich ernsthafte Sorgen hegten, dass der Erfolg und der Fortbestand der Tiroler Festspiele Erl unter seiner weiteren Leitung gefährdet sei. Es ist heute noch zu früh, um im Hinblick auf diese Ängste ein eindeutiges Urteil zu fällen. Tatsache ist jedenfalls, dass nach Kuhn, der immerhin mit seinem Haus in Erl als Wahl-Tiroler durchgehen kann, wieder einmal flächendeckend unsere nördlichen Nachbarn das Kommando als Kultur-Söldner bei den doofen Ösis und hier wohl bei den besonders doofen Tirolern übernommen haben, und in Erl unter fast völligem Ausschluss heimischer Kräfte mit Steuergeldern aus Tirol und Österreich unter der Leitung eines deutschen Opern-Oberbuchhalters Stücke aufgeführt werden, die mit deutscher Romantik sehr viel, mit den Realitäten Österreichs bzw. Tirols bzw. der Eigenschaft des Landes als Verbindungsglied zwischen Nord und Süd, und schon gar mit seiner Gegenwart fast nichts zu tun haben. Pardon: die Aushilfskräfte am Buffet sind natürlich schon Einheimische!


Die Verhältnismäßigkeit

So bleibt am Ende eines aufwändigen Familienstreits, der sehr selten nur aus einem Teil Schuldiger und einem Teil Unschuldiger besteht, als letzte Frage jene nach der Verhältnismäßigkeit übrig. Sind Kuhns Verfehlungen, von den Gerichten nicht verfolgt und nur von einer fragwürdigen Gleichbehandlungskommission bestätigt, tatsächlich so schwerwiegend, dass es gerechtfertigt ist, ihn seines über 25 Jahre aufgebauten Lebenswerks zu berauben?

Ich für meinen Teil würde diese Frage eindeutig mit Nein beantworten und darauf verweisen, dass dieses biedere und spießige Tirol, das aus einer durch Armut geprägten bäuerlichen Knausrigkeit heraus immer noch meint, große Leistungen der Kultur um einen kleinen Teil jenes Preises, der anderswo erbracht werden muss, geschenkt zu bekommen, und das aus dieser Kleinkariertheit heraus vollkommen unfähig ist, mit bedeutenden Künstlern auf Augenhöhe so zu verhandeln, dass das produktive und oft sogar streiterfüllte Verhältnis zwischen Geldgebern und Kreativen zu Höchstleistungen befähigt, in gleicher Weise in Erl gescheitert ist wie der Gründer und Initiator der Festspiele möglicherweise an sich selbst gescheitert ist.

Wer diese Erkenntnis auch nur im Ansatz ernst nimmt, würde es als ein Mindestmaß an Wiedergutmachung begrüßen, wenn Kuhn als Ehrenpräsident mit Stimmrecht in die Führungsetage der Tiroler Festspiele Erl wieder einziehen und pro Saison als immer noch wirkmächtiger Publikumsmagnet eine Opernaufführung und Konzerte übernehmen könnte. Ganz abgesehen davon, dass ihm der Tiroler-Adler-Orden schleunigst wieder zurückgegeben werden sollte.

Die altgriechische Tugend, Maß zu halten (σωφροσύνη), hat auch nach zweieinhalbtausend Jahren nichts von ihrer Bedeutung verloren.

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Ferdinand Von Bothmer

    Lieber Herr Schöpf,
    In der ruhigen weihnachtlichen Zeit konnte ich endlich meine Leseschulden begleichen und bei dieser Gelegenheit ist mir Ihr Essay „Das geraubte Lebenswerk“ untergekommen.
    Ich finde dieses Essay wirklich großartig und es veranlasst mich, Ihnen zu schreiben.
    Ich denke, dass wir beide bemerken, dass wir in einer Zeitenwende sind, in der das Revidieren von Stigmatisierung und Diffamierung in den medialen, aber auch in den gesellschaftlichen Diskurs Eingang findet.
    Ein Macron verteidigt den wichtigsten und erfolgreichsten Schauspieler Frankreichs gegen unbewiesene und in den Raum gestellte Beschuldigungen.
    Das Einmalige ist doch, dass ein Politiker an dieser Stelle den Mut hat, die Individualrechte eines angesehenen Bürgers zu verteidigen. Warum kann das nicht ein Tiroler Landeshauptmann? Wieso schafft es die Politik in Tirol nicht die Rechte eines Bürgers zu verteidigen, der sich um die Kultur verdient gemacht hat? Ist es Feigheit? Ist es Wurschtigkeit?
    Wie kann eine Republik in der jetzigen Zeit überleben, wenn die grundlegendsten Rahmenbedingungen eines Rechtsstaats nicht einmal von der politischen Elite verteidigt werden. Leider fehlen mir die Mittel dazu, sich gegenüber der Politik bemerkbar zu machen.
    Und wir sehen doch beide, in welch einem Zustand die Tiroler Festspiele sind.
    Wenn ich denke, was Kuhn und auch wir Musiker und Sänger in 20 Jahren aufgebaut haben. Und wir hatten nicht einmal annähernd die Mittel, die jetzt den Festspielen zur Verfügung stehen und trotzdem eine Akademie geschaffen, die es so nicht gibt und aus der bedeutende Sänger und Musiker herausgekommen sind.
    Ich glaube, dass Ihnen dieser Missstand ebenso innerlich aufstößt und deswegen konnte ich meinem Gefühl nicht widerstehen, Ihnen dies mitzuteilen.
    Ich wünsche Ihnen ein Frohes und erfülltes neues Jahr

  2. Simone M.

    Oje, es gibt sie also immer noch, Menschen, die derartige Zusammenhänge nicht verstanden haben und denken, Künstler wären unantastbare Genies, losgelöst von jeglicher moralisch-ethischen Verantwortung.
    Umsomehr muss es also Aufgabe des Publikums, der Leser, Hörer und Seher sein, sich sehr gut zu überlegen, wem man applaudiert, wessen Karten man kauft, welche Quoten man unterstützt, wen man abonniert und wen anklickt.
    Künstler, Publizisten, Blogger, Schriftsteller schreiben, inszenieren, interpretieren immer auch als die Menschen, die sie sind, entlang jener Werte, die sie gutheißen.

    Erfreulicherweise gibt es Künstler, Publizisten, Blogger, Schriftsteller usw. (auch in Ihrer Generation) die ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen.

    In Erl läuft mittlerweile übrigens alles viel besser als zu Kuhn`s Zeiten.

  3. Lieber Alois,
    Es genügen Anzeigen, um Rücktrittsforderungen öffentlich aussprechen zu dürfen. Ketzerisch gesagt- es ist aus eigenem Unvermögen Sinnvolles zu schaffen eine Generation einer neuen Art von Kopfgeldjägern entstanden.
    Wenn jemandem ein Makel angehängt werden kann oder tatsächlich einer existiert, ist auch dessen künstlerisches Schaffen nichts mehr wert. (Aus heutiger Sicht der „Obergerechten“ hätten Künstler in diktatorischer Zeit nicht auftreten dürfen. Also werden sie verurteilt, ohne dass sich die Verurteiler fragen, wie sie sich damals selbst verhalten hätten.)
    Es wird versucht, Gedenktafeln und Straßennamen geächteter Künstler entfernen zu lassen.
    Man hat also eine „praktische“ Methode gefunden, sich selber Aufmerksamkeit zu verschaffen bzw. Gegner oder Andersdenkende los zu werden.
    Wir leben in einer Zeit, in der der Stumpfsinn die Macht zu ergreifen scheint.
    Lieber Alois, ich kann Dir für Deinen Mut, die Dumm- und Feigheit beim Namen zu nennen, nur danken und jeden Satz deines Essays unterschreiben, ausgenommen was die Tiroler Verhältnisse anbelangt. Die sind mir nicht bekannt – allerdings Gustav Kuhn und vieles, was er – auch schon vor seiner Erler Zeit – dirigiert hat; auch wie er seine Erfahrungen und sein musikalisches Können versucht hat, an Jüngere weiterzugeben. Seine Art Musik zu machen und sie zu feiern hat mich einfach fasziniert.
    In Erl habe ich Kuhn auch als Opernregisseur kennen gelernt und musste mit Bedauern feststellen, dass ihm ausschließlich Emotion, die durch Musik entsteht, wichtig war – nicht aber das im Musiktheater fast ebenso wichtige emotionale Zusammenspiel der Sänger. Doch ohne seine Direktion, seine Musik und sein Charisma wäre Erl nie das geworden, was es bis zu seinem erzwungenen Abgang war.
    Trotz seiner Unarten war es ein Fehler Gustav Kuhn Erl zu verwehren; die Zukunft dieser einmaligen Unternehmung wird es vermutlich bestätigen.
    Ein Nachsatz:
    Würde man alle berühmten Regisseure, Direktoren und Künstler ebenso versuchen zu durchleuchten wie Kuhn, sehr viele „Makellose“ würden nicht übrig bleiben.

  4. Mag. Priska Szczutkowski

    Sehr geehrter Herr Schöpf!
    Die Nähe Erls zu meiner Heimatgemeinde erlaubt es mir, die dort erarbeiteten Produktionen seit vielen Jahren genauer zu beobachten, sowohl als Besucherin als auch als Betrachterin dessen, was dort unter „Erarbeitung“ zu verstehen ist. Nach den vielen Jahren der zum Teil entrüstet, zum Teil unter vorgehaltener Hand kolportierten Geschichten rund um Dr. Kuhn erlebte ich die ernsthafte Befassung mit den Arbeitsmethoden des Dirigenten und Geschäftsführers als wohltuend. Nach der klaren und beherzten öffentlichen Stellungnahme seitens einiger Künstlerinnen und Künstler, aber auch der eindeutigen Aussage des Maestros in der ZIB2 vom 23. 10.2018, wonach ihm nicht ganz klar sei, was sexuelle Übergriffe seien (https://www.youtube.com/watch?v=GTePngNJ7vc&ab_channel=tompart) befasste sich auch die Staatsanwaltschaft mit der Causa und fand – wenig erstaunlich – nichts strafrechtlich Verwertbares, durchaus auch dem Umstand geschuldet, dass einige Vorkommnisse als verjährt gelten (was ja auch impliziert, dass es Vorkommnisse gegeben hat). Außer Frage stehen mittlerweile Arbeitsmethoden, die niemand aushalten möchte, auch nicht in Erl, auch nicht zum Preis großartiger Produktionen – die ja auch ganz ohne Kuhns Mithilfe mittlerweile wieder in Erl zu bewundern sind.
    So gesehen hat es den Erler Festspielen vor allem genützt, dass der Sölder Publizist Markus Wilhelm mit seinem Blog dietiwag.org zum Sprachrohr derer wurde, die etwas ans Tageslicht befördert haben, was man sonst nicht so laut sagen durfte in Tirol, wo das Klatschen auf den Hintern und Grapschen an der Brust – so von älteren und vor allem „wichtigen“ Männern praktiziert – von den Betroffenen als Auszeichnung und nicht als sexueller Übergriff zu gelten hat(te). Auch wenn strafrechtlich keine Verurteilung erfolgte, kann heute das künstlerische Tun in Erl ohne Erniedrigungen und sexuelle Grobheit höchst gedeihlich vonstatten gehen.
    Dass sich Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, erst zeitverzögert zu reden getrauen, hat vor allem damit zu tun, wie die Gesellschaft rundherum mit ihrer Not umzugehen pflegt. Und da keimt erst in jüngster Zeit ein kleines Pflänzchen in Tirol auf, das sich „Frauenrechte“ nennt. Männern mit einem Menschenbild, wie es ein Herr Dr. Kuhn als zu ihm gehörig leben möchte, gehört selbstverständlich eine klare Absage erteilt, auch ohne strafrechtliche Bescheinigung. Auch wer gegen die guten Sitten respektvollen Zusammenlebens nachhaltig und bewusst verstößt, muss die Konsequenzen tragen und hat in einer Präsidialfunktion rein gar nichts verloren. Was wäre das für ein Zeichen, das die Festspiele setzten? Dazu wird sich das Haus in Erl niemals hergeben.
    Sie zitieren die altgriechische Tugend des Maßhaltens. Gerade darüber ist Dr. Kuhn mehrfach gestolpert und schließlich liegengeblieben, zurecht. Es ist ihm dennoch viel geblieben, etwa die Arbeit in Italien, aber auch die Erinnerung vieler an wunderbare Erler Aufführungen. Menschlich hat sich Dr. Kuhn aber selber „erlegt“, das ist nicht Herrn Wilhelm zur Last zu legen und es ist höchst befremdlich, dass Sie ihn zu einer Hassgestalt hochstilisieren wollen, ohne Dr. Kuhns selbstverschuldetes Elend näher auszuleuchten.
    Von einem „Raub des Lebenswerks“ und einem nachfolgenden „Makel der Niedertracht“ ist rund um die Person Dr. Kuhns in jedem Fall zu sprechen – der Räuber ist er allerdings ganz und gar allein selber.
    Mit freundlichen Grüßen
    Mag. Priska Szczutkowski

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