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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 22
Die Eltern gehen in Pension.

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


22. Kapitel

Nachdem meine Schwester und später auch ich ganz von zu Hause weggezogen waren, gab es zwischen unseren Eltern heftige Auseinandersetzungen, weil meine Mutter aus dem gemeinsamen Ehezimmer auszog. Sie wechselte ins ehemalige Zimmer meiner Schwester. 

Das wollte mein Vater nicht wahrhaben. Darum kam es zu lauten Streitigkeiten, unsinnigen Drohungen seitens des Vaters, bis ihm aber nichts anderes übrigblieb, als die neue Situation zu akzeptieren. Er machte der Mutter jede Mengen Szenen, vor allem unter dem Einfluss von Alkohol, besonders wenn er etwas Schnaps erwischte. Eifersucht und Besitzansprüche hatten ihn fest in der Hand.

Einmal besuchte ich meine Mutter und da erzählte sie mir, dass der Vater schon seit einigen Tagen nicht mehr nach Hause gekommen sei. Er habe ein Verhältnis mit einer Arbeitskollegin. Diese neue Situation bedeutete für meine Mutter geradezu eine Erleichterung und sie sagte mir, dass sie sich nichts mehr wünschen würde, als dass der Vater mit einer anderen Frau glücklich werden würde. 

Als sie mir das erzählte und ich bemerkte, wie ernst sie das meinte, erfasste mich mit meinem Vater ein derartiges Mitleid, dass ich zu Tränen gerührt war. Tage später kam der arme Vater dann aber wieder zurück in den Weingarten und es lief wieder weiter wie vorher. Gemeinsam fuhren die beiden wieder täglich um halb sechs in der Früh in die Arbeit. Wenn sie losstarteten, dann brachte meine Mutter den Vater zuerst an seine Arbeitsstelle an der Technik und sie fuhr weiter ins Röntgeninstitut. 

Mein Vater hatte zwar erst um acht Dienstbeginn, aber natürlich begann er sofort mit seiner Arbeit, die ihn ja ganz ausfüllte. So leistete er über all die Jahre jeden Tag zwei unbezahlte Überstunden, weil er auch bis zum späten Nachmittag  blieb.

Meine Eltern gingen beinahe zeitgleich in Pension. Zuerst die Mutter, zwei Jahre danach mein Vater. Der Wechsel in den Ruhestand sollte beiden mächtig zusetzen. 

Das Röntgeninstitut in der Gebietskrankenkasse wurde aufgelöst, da ihr Chef, der inzwischen das siebzigste Lebensjahr überschritten hatte, in den Ruhestand wechselte und sich für ihn kein adäquater Nachfolger finden ließ. 

Mit dem Eintritt in den Ruhestand brach für meine Mutter die Welt zusammen und sie verfiel in eine schwere Depression, die gut ein Jahr dauerte. Sie war kaum ansprechbar und verließ kaum das Haus. Tagelang lag sie am Diwan und wenn man sie fragte, wie es ihr gehe und ob sie etwas benötige, winkte sie nur müde und abwesend ab. 

Das war keine leichte Situation für meinen Vater, der immer noch in den Dienst ging. Ein Glück war, dass die Schwester meines Vaters sich um meine Mutter kümmerte und ihr aufopfernd zur Seite stand. Nach gut einem Jahr besserte sich der Zustand und sie begann geradezu aufzublühen.

Zu jener Zeit lebte ich mit meiner Familie im Unterland und besuchte meine Eltern nur sporadisch. So bekam ich von der Krankheit meiner Mutter nicht allzu viel mit. Als sie aber wieder ganz und gar die Alte war und vor Energien strotzte, sagte sie einmal zu mir, dass sie nie wieder in so eine tiefe Finsternis fallen wolle, dafür werde sie schon sorgen. Auch erzählte sie mir, und diese Erzählung entsprach ganz ihrem Naturell, dass sie nur der Gedanke, dem Staat nicht ihre gute Pension schenken zu wollen, von dem letzten Schritt abgehalten habe.

Körperlich war mein Vater in einem sehr schlechten Zustand. Sein Tremor, das Zittern seiner Hände, der von seiner Kopfverletzung herrührte, wurde zunehmend stärker. Das führte dazu, dass ihm Mutter beim Essen das Fleisch aufschneiden musste, wobei er wegen seiner drei fehlenden Finger zusätzlich seine Probleme hatte. 

Auch war er einmal wegen eines leichten Schlaganfalls im Krankenhaus. Seine Arbeitskollegen, zu denen er ein sehr gutes Verhältnis hatte, forderten ihn immer wieder auf, dass er doch in Pension gehen und noch ein paar schöne Jahre zu Hause mit seiner Frau verbringen solle. 

Schließlich entschied er sich schweren Herzens, zumindest einmal seinen Pensionsantrag bei der Versicherung abzugeben, wobei er hoffte, dass die Bearbeitung einen langen Zeitraum in Anspruch nehmen würde. Doch sehr bald wurde er zu einer ersten Untersuchung bei einer Ärztin der Pensionsversicherungsanstalt vorgeladen, die bekannt dafür war, dass sie die Antragsteller sehr genau begutachtete und beim leisesten Verdacht, einen Simulanten vor sich zu haben, sofort einen ablehnenden medizinischen Bescheid erstellte. 

Sie untersuchte meinen Vater, ordnete ein EKG an und fragte ihn, wann er den Herzinfarkt gehabt hätte.
Welchen Infarkt?, fragte mein Vater erstaunt.
Das EKG weist eindeutig auf einen Infarkt hin, sagte die Ärztin.
Von einem Infarkt weiß ich nichts, gab er zur Antwort.
Das müssen Sie doch gespürt haben?
Übel ist mir schon öfter, sagte mein Vater.
Aha, meinte darauf die Ärztin und brach die Untersuchung auf der Stelle ab. Dann sagte sie zu meinem Vater: Sie gehen jetzt nach Hause und lassen sich noch heute von Ihrem Hausarzt krankschreiben. Ihre Arbeit an der Technik nehmen sie jedenfalls nicht mehr auf. Was den Pensionsantritt anlangt, werde ich alles in die Wege leiten. 

Im ersten Moment glaubte mein Vater nicht richtig zu hören. Er gab der Ärztin die Hand. Sie schaute ihn etwas verwundert an. Mit Tränen in den Augen fuhr mein Vater zur Personalabteilung und meldete sich ab. Die Krankmeldung würde er in den nächsten Tagen nachbringen. Mach dir keinen Stress, Hugo, sagte der Sachbearbeiter, der meinen Vater gut kannte und ihm zur bevorstehenden Pensionierung gratulierte. Jetzt hast du es geschafft, ich gratuliere.

Meinem Vater war aber nicht zum Feiern zumute, sondern ihn traf die neue Lage wie ein Hammerschlag. Zu Hause versuchte ihn Mutter zu trösten, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, was dieser Schritt für ihn bedeutete.

Die Erledigung aller Formalitäten nahm für meinen Vater als einfacher Vertragsbediensteter im Bundesdienst doch einige Zeit in Anspruch. In der Zwischenzeit war er im Krankenstand, wobei er nur einmal zur Krankenkontrolle vorgeladen wurde, weil sein Fall ohnehin eindeutig war. 

Trotzdem dauerte es mehrere Monate, bis er schließlich den Pensionsbescheid zugestellt bekam. Während dieser Zeit lief auch seine Lohnfortzahlung beziehungsweise der Krankengeldbezug. Alle Gelddinge in unserer Familie wurden von meiner Mutter geregelt. Darum hatte mein Vater auch über sein Einkommen keinen genauen Überblick und er bezog all die Jahre, wie wir Kinder früher auch, von Mutter eine Art Taschengeld, das er für Essen und Trinken benötigte. 

Alles andere, was mit Geld zu tun hatte, lief über Mutter. Darum wäre mein Vater auch nicht auf den Gedanken gekommen, sein Krankengeld, das damals noch bar ausbezahlt wurde, abzuholen. Schließlich erhielt er den Pensionsbescheid. 

Deshalb fuhr mein Vater mit dem Postbus in die Stadt und meldete sich beim zuständigen Schalter, wo ihm die Unterlagen ausgehändigt wurden, mit dem Hinweis, dass er das Krankengeld an der Kasse abholen sollte. Als er vor dem Kassier stand und ihm dieser siebenunddreißigtausend Schilling aushändigte, glaubte er an ein Missverständnis.
Hier ist Ihre Krankengeldabrechnung, sagte der Bedienstete.
Was für ein Krankengeld?, fragte der Vater verwundert. Sechs Wochen hatten Sie Anspruch auf Lohnfortzahlung, anschließend bezogen Sie den halben Lohn und das halbe Krankengeld und einen Monat lang gibt’s das volle Krankengeld, sagte der Bedienstete automatisch. 

Das konnte meinen Vater aber nicht überzeugen und darum legte er das gesamte Geld, das er in einen Briefumschlag gab, in den Schrank, weil er völlig überzeugt war, dass er in den nächsten Wochen ein Schreiben bekommen würde. Aber es kam zu keiner Aufforderung und so holte der Vater das gesamte Geld nach einem halben Jahr aus seinem Versteck und erfüllte sich einen ganz großen Wunsch. Vorerst galt es jedoch, den beiderseitigen Pensionsantritt zu bewältigen. Als die beiden nämlich gemeinsam den ganzen Tag zu Hause waren, sollte für sie die unruhigste und aufreibendste Zeit beginnen. 

Auf die heftige Depression folgte bei Mutter, wie jedes Mal, eine manische Phase. Sie war unternehmenslustig, geradezu aufgeschreckt wie ein junges Küken. Sie strotzte vor Energien, fuhr regelmäßig in die Stadt, traf sich mit ihrem ehemaligen Chef. 

Mein Vater konnte damit, jetzt, wo er ganz zu Hause war, nicht umgehen. Er wollte, dass sie mit ihm den Tag verbrachte. Aber das spielte sich mit Mutter nicht, die sich nicht einsperren lassen wollte. Da kam es aufgrund der Eifersucht des Vaters zu unschönen Szenen, die sogar so weit gingen, dass eine Scheidung ernsthaft im Raum stand. Aber schließlich, wie immer, fand sich Vater mit der Situation ab.

Eines Tages holte Vater das Kuvert aus seinem Versteck und fuhr zur Maschinenhandlung Kuhnert am Bahnhof und kaufte sich – ohne Widerrede der Mutter, die ihn gewähren ließ – eine kombinierte Hobelmaschine und noch einige weitere Handmaschinen und jede Menge Werkzeug. 

Dabei ging ihm das Herz auf und er fühlte sich wohl wie ganz selten in seinem Leben. Mutter musste mit ihrem Auto aus der Garage weichen, was sie ohne Weiteres tat. 

So wurde die Werkstätte zu Vaters neuem Betätigungsfeld. In der Früh studierte er die Tiroler Tageszeitung, besonders den politischen Teil, und natürlich auch die Todesanzeigen, danach ging er in die Werkstatt und gegen Mittag auf ein, zwei Bier ins Café Elisabeth, um sich nach dem Mittagessen eine halbe Stunde hinzulegen. 

In der Werkstatt fand er Trost und Ablenkung und so pendelte sich das Zusammenleben der Eltern wieder einigermaßen ein.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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