Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 19
Wochenendhaus auf der Alm
Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.
Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.
19. Kapitel
Um 1970 hatten wir einige Zeit sogar so etwas – was wir bis dahin nie gehabt hatten – wie ein durchschnittliches Familienleben. Wir vier lebten im Haus am Weingarten zusammen, ich versuchte mich auf der Universität, die Schwester unterrichtete in einer Volksschule, Mutter war als Assistentin für Röntgentherapie bei der Krankenkasse tätig und Vater hatte seine Anstellung als Hausarbeiter an der Technischen Universität in Innsbruck.
Meine Mutter erledigte zusätzlich den Haushalt und kümmerte sich um den Garten, dem sie immer mehr Aufmerksamkeit schenkte. Dafür hatte sie eine großartige Hand. Bäume wurden gepflanzt, Sträucher gesetzt, Blumenzwiebeln vergraben, sogar meine Oma kam hin und wieder vorbei und half bei der Arbeit mit.
Am Sonntag saßen wir dann, wenn es das Wetter erlaubte, im Freien, tranken Kaffee und es gab Kuchen, und im Regionalradio lief das Wunschkonzert mit Margit Humer-Seeber. Häufig kamen Besucher vorbei und fast alle redeten von einem Paradies, in dem wir lebten, wenngleich einige einen Blick auf die bedrohliche Felswand warfen, die hinter unserem Haus emporragte. Habt ihr keine Angst, dass ein Steinschlag herunterkommt? Aber Vater hatte für derlei Befürchtungen nur eine wegwerfende Handbewegung übrig. Was soll da herunterkommen?
Er war ein Mensch, der immer eine Beschäftigung, eine Arbeit brauchte. Entweder, indem er bei anderen aushalf oder indem er bei uns zu Hause irgendwelche Umbaupläne, einen Zubau oder einen Ausbau im Keller in Angriff nahm. Nur an den Sonntagen ließ er, ganz im Gegensatz zu früher, die Arbeit ruhen, aber diese Ruhe diente nicht nur zur Erholung und um einmal eine Pause einzulegen, sondern dazu, um immer wieder neue Pläne zu schmieden.Vater konnte einfach keine Ruhe geben!
Darum dauerte es nicht lange, bis er wieder eine Idee im Kopf hatte. Als meine Mutter mitbekam, was ihn beschäftigte, geriet sie ganz außer sich. Er wollte – so wie einige seiner Geschwister auch – auf Thomasegg ein Wochenendhaus errichten. Von dieser wahnsinnigen Idee hielt sie überhaupt nichts, aber Vater war nicht umsonst im Sternzeichen Steinbock geboren. Er handelte auch so.
Meine Mutter drohte ihm, dass sie ihn nicht unterstützen werde, dass er nicht mit ihrer Hilfe rechnen könne, weil das Ganze keinen Sinn mache. Wofür brauchen wir ein Wochenendhaus auf Thomasegg? So ein Blödsinn. So ein Wahnsinn, geriet sie ganz außer sich. Jetzt haben wir es endlich geschafft, unser Heim unter größten Mühen im Weingarten so weit zu bringen, dass wir es genießen können. Und bitterböse fügte sie hinzu: Dieses Projekt wird deine Gesundheit endgültig ruinieren.
Aber all ihre Drohungen nützten nichts, zu sehr steckte er schon in diesem neuen Unternehmen. Auch alle Warnungen seiner Freunde und Bekannten schlug er in den Wind, ebenso wie die Mahnung seiner Mutter, die ins gleiche Horn stieß: Du hast in deinem Leben viel mit Krankheiten zu kämpfen gehabt. Jetzt gehst du schon auf die fünfzig zu. An deiner Stelle würde ich mir das sehr gut überlegen.
Das Vorhaben war, gelinde gesagt, äußerst abenteuerlich, aber Vater war nicht mehr davon abzubringen. Er hatte sich als Jugendlicher nach seinem Unfall geschworen, dass er Thomasegg in seinem Leben nie wieder betreten würde. Jetzt waren aber einige seiner Geschwister dort mit ihren Hüttenbauten beschäftigt. Da wollte er nicht zurückstehen, das trieb ihn an. Alle hatten sich ein Stück Alm als Erbe überschreiben lassen und begannen sich nun Wochenendhäuser – Kochhütten, wie es hieß – zu errichten. Auch sie hatten alle im Tal bereits ihre Einfamilienhäuser errichtet. Ihre Tüchtigkeit strebte jetzt nach neuen Herausforderungen.
Als Kinder hatten dort alle ihre Sommermonate verbracht und jetzt wollte man das auch in Hinkunft in einer eigenen komfortableren Hütte, einem Rückzugsort für die Erholung, wieder erleben, wie es hieß. Meine Großeltern waren beide bis zu ihrem Lebensende fast jeden Sommer auf der Alm. Auch ich kam als Kleinkind häufig in den Genuss, einige Wochen mit Tanten und Onkeln dort zu verbringen und bei der Heuernte und den üblichen Arbeiten dabei sein zu dürfen.
Auch nachdem mein Großvater bereits gestorben war, verbrachte Großmutter ihre Sommer oben in den Bergen in der alten, wunderbaren Holzhütte. Sie hatte sogar stets einige Haustiere bei sich, Hasen, Hühner und auch einige Schafe. Diese ließ sie sogar in die Hütte herein, wenn draußen ein grausliches Wetter war. Wehmütig sagte sie manchmal: Dieses Schaf war noch mit uns auf Thomasegg, als mein Mann noch gelebt hat. Großmutter verstarb übrigens in jenem Sommer, als in Wien die Reichsbrücke einbrach und in China der Diktator Mao Tse-tung seinen Löffel abgab.
Auch mein Vater bekam eine Parzelle überschrieben, die aber gleich auf meinen Namen eingetragen wurde. Dabei war die Lage des Grundstücks ein Thema. Um die Alm nicht zu sehr zu zerstückeln, wurde den Geschwistern jeweils nur ein kleiner Teil übergeben, und die Grundstücke lagen alle nebeneinander. Da wollte mein Vater aber kein Grundstück. Er wollte ein Grundstück am oberen Ende, das abseits von den anderen lag, was ihm auch zugesprochen wurde.
Für den Bau dieser Wochenendhäuser war Thomasegg völlig ungeeignet, denn es führte noch immer kein befahrbarer Forstweg auf die Alm. Die Lieferung des Materials war das letzte steile Stück nur mit einer Materialseilbahn möglich. Die Geschwister meines Onkels verfügten inzwischen über eine solche.
Da Vaters Grundstück noch abgelegener war, musste er selber eine Bahn bauen. So nahm er dies unter Mithilfe von Verwandten und Bekannten in Angriff. Noch gut erinnere ich mich, wie mein Onkel Willi, ein kraftstrotzender Mann, den achtzig Kilo schweren Dieselmotor auf den Rücken geschnallt, den steilen Hang hinauftrug. Es war ein unmenschlicher Kraftakt und als er ankam, glühte sein Kopf so sehr, dass man fürchten musste, er würde explodieren, und seine Halsschlagadern waren dick wie zwei Gartenschläuche.
Das Tragseil, gut vierhundert Meter lang, wurde gespannt, eine notdürftige Holzhütte aufgestellt, und unter der Oberaufsicht von Onkel Willi, der von Beruf Schlosser und Schmied war und als solcher viele Heuaufzüge für Bauern errichtet hatte, wurde der Aufzug in Betrieb genommen.
Mein Vater nannte ihn stets die Geisterbahn, die auch eine frappante Ähnlichkeit mit der Konstruktion von Alexis Sorbas aufwies. Das Ganze erfolgte natürlich ohne irgendwelche Bewilligungen oder behördliche Auflagen, alles wurde wild und ungestüm verwirklicht.
Der Großteil der Alm war seit Generationen im Familienbesitz und darum kümmerte sich niemand um etwaige Vorschriften. Der Bau der Kochhütten fiel noch in eine Zeit, in der der Wohlstand Einzug hielt und sich ein jeder, der fleißig und gesund war, etwas schaffen konnte.
Selbst die notwendigen Bewilligungen für solche Kochhütten waren damals weiter kein Problem. Auch für Vater wäre so eine Bewilligung kein Problem gewesen, aber er verzichtete darauf. Wozu Geld für Stempelmarken ausgeben, war seine Devise, eine Ansicht, die noch so manche Schwierigkeit mit sich bringen sollte. Mein Vater war damals für die Sozialisten im Gemeinderat und der Bürgermeister war ein guter Freund.
Jedenfalls hatte Vater seinen Aufzug und es konnte mit den Lieferungen losgehen. Das war natürlich auch wieder nicht ganz so einfach, denn um zur Talstation der Geisterbahn zu gelangen, musste man erst einmal dorthin kommen. Zwischen dem Tal und der Geisterbahn lagen gut zehn Kilometer Entfernung. Zum Großteil eine schottrige Forststraße mit 132 Kurven. Vater hat das jedenfalls immer behauptet. Dazu kam, dass er zwar einen Führerschein besaß, aber kein Fahrzeug für solche Lieferungen. Der VW Käfer, mit dem meine Eltern täglich in die Arbeit fuhren, war alles andere als dafür geeignet. Darum musste er für jede Fuhre jemanden auftreiben, der zumindest einen Traktor mit Anhänger besaß.
Dann konnte es endlich mit der Lieferung des Materials für unseren Prachtbau losgehen. Tagelang stand mein Vater an der stinkenden, rauchenden Dieselmaschine, gerade das Richtige für ihn, und eine Fuhre nach der anderen wurde in die Höhe gezogen. Für die Kommunikation hatten wir ein Grubentelefon, das in einer Kohlengrube in Lothringen im Einsatz gewesen war.
Zuerst wurden der Schotter und der Zement für die Fundamente geliefert. Dann kam die Lieferung der Holzbretter. Bei einer Fahrt konnte man höchstens zehn bis zwölf Bretter befördern und jede dauerte mit dem Be- und Entladen gut eine halbe Stunde. Und natürlich ging die ganze Angelegenheit alles andere als reibungslos vonstatten. Belud man die Kiste nicht sorgfältig, dann konnte es leicht passieren, dass sich das Ende eines Bretts an einem Baumast verfing und es zu Komplikationen kam.
Besonders gefährlich waren die Talfahrten der Kiste. Ungefähr auf halber Strecke war ein kleiner Knick bei einer Stütze, das Tragseil machte eine Richtungsänderung und um diese sicher zu passieren, musste man vorher leicht abbremsen, damit die Kiste nicht geradeaus im Gelände landete. Das passierte immer wieder, besonders nachmittags, denn der Vater benötigte bei dieser schweren Arbeit im Lauf des Tages einige Flaschen Bier und das erhöhte das Risiko, weil seine Konzentration nachließ.
Jedenfalls konnte man in der Talstation, wo ich mich meist befand, sehr deutlich einen Knall vernehmen, wenn die Kiste wieder einmal im Gelände landete. Dann quietschte das Grubentelefon und es hieß, sich zur Unfallstelle aufzumachen. Mit aller Kraft musste ich die Kiste mit beiden Händen am hinteren Ende festhalten, Widerstand erzeugen, damit Vater langsam losfahren konnte und wir das Gefährt wieder zum Ausgangspunkt brachten. Jedes Mal eine Tortur, und da kann man verstehen, dass sich meine Begeisterung für die Tage auf Thomasegg in Grenzen hielt.
Am Samstag in der Früh klopfte mein Vater stets an meine Schlafzimmertür, öffnete diese kurz und meinte: Und, sind wir so weit?
Der Vater hatte die Holzhütte sehr geräumig geplant, sogar mit einem zweiten Stock. Da er immer freiwillige Helfer zur Verfügung hatte, war die Außenhülle des Gebäudes in kürzester Zeit aufgestellt. Dann brach der Herbst herein und der erste Schneefall legte sich auf die Alm. Die Arbeiten mussten bis zum Frühjahr eingestellt werden.
Am letzten Arbeitstag auf Thomasegg meinte ein Freund zu meinem Vater, er sollte doch zur Sicherheit einige Stützpfeiler unterstellen, für alle Fälle. Aber Vater sah dafür überhaupt keine Notwendigkeit. Auf diesen Firstbaum kannst du Lokomotiven draufstellen, sagte er voller Überzeugung, Ich habe ihn sogar bei uns auf der Technik von einem Professor testen lassen.
Das Werkzeug zusammengepackt, alles aufgeräumt, so weit wie möglich alles winterfest gemacht, noch ein Feierabendbier und ein großer Schnaps getrunken und die Alm für dieses Jahr verlassen. Bald darauf stellte sich in den Bergen der Winter ein, der ungewöhnlich viel Schnee bringen sollte und eine prachtvolle Winterlandschaft, wie schon seit Jahren nicht mehr, lieferte.
Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.
Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen
Gelungene lebendige Darstellung der damaligen Zeit.