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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 23
Der Vater stirbt, nachdem er einen Witz erzählt hat.

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


23. Kapitel

Ende der Neunzigerjahre befand ich mich in einem privaten Desaster. Aus finanziellen Gründen blieb mir keine andere Wahl, als zu meinen Eltern zu ziehen. Dort hatte ich zumindest kostenlos mein kleines Zimmer. Das war auch der Hauptgrund, weshalb ich mich dazu entschied, denn meine Begeisterung, nach Hause zurückzukehren, hielt sich in Grenzen. 

Lieber wäre mir eine kleine Wohnung in der Stadt gewesen, aber das war nicht möglich. Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater gesundheitlich schon in einem sehr schlechten Zustand. Er war kaum in der Lage, eine Suppe zu löffeln, ohne alles zu verschütten. Auch beim Anziehen brauchte er Hilfe. 

Seine Aufenthalte in seiner Werkstätte wurden immer kürzer. Wenn er ins Café Elisabeth ging, musste er wegen der fehlenden Luft – er litt an COPD – auf halbem Weg eine Pause einlegen. Obwohl er in so einem klapprigen Zustand war, ließ er es sich doch nicht nehmen, jeden Tag seine drei, vier Flaschen Bier zu trinken. 

Wenn ich etwas trinke, dann bekomme ich besser Luft, sagte er. Einmal brach er bewusstlos auf der Toilette zusammen. Er erholte sich rasch. Der Notarzt wollte ihn ins Krankenhaus überweisen, aber er wollte zu Hause bleiben. Wir saßen ziemlich verdattert in der Stube. Der Vater hatte Tränen in den Augen und er bat die Mutter, dass sie ihm ein Bier bringen solle. Die Mutter holte sofort eine Flasche und dann nahm Vater einen ganz großen Schluck und stimmte mit gebrochener Stimme einen kurzen Liedtext an. Sag beim Abschied leise servus … Wir waren den Tränen nah. Hugo, mach es uns doch nicht so schwer, flehte Mama geradezu.

Wenige Tage später musste wieder der Notarzt kommen. Diesmal nahm ihn die Rettung mit ins Krankenhaus, ohne dass er sich gewehrt hätte. Ein paar Tage wurde er in der Internen der Uniklinik in Innsbruck behandelt und dann weiter ins Bezirkskrankenhaus verlegt. Obwohl man jetzt mit allem rechnen musste, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Vater sterben würde. Bei Mutter schien das ganz anders zu sein. 

Jeden Tag war sie ab jetzt bei ihm, von früh bis spät am Abend. Sie wich nicht von seiner Seite, sodass die Ärzte sie schon aufforderten, auf sich selbst mehr Rücksicht zu nehmen, und dass der Vater im Krankenhaus bestens versorgt sei. 

Aber das kümmerte meine Mutter nicht. Sie widmete sich jetzt ganz ihrem Mann – nach seinem Zusammenbruch in der Stube war sie sogar in das Ehebett zurückgekehrt –, wie sie es in ihrem Leben nie mit solcher Hingabe getan hatte. 

Ich besuchte Vater jeden Tag. Einmal kam ich ins Krankenhaus und er war nicht im Zimmer. Er wurde gerade gebadet. Dann wurde er zurückgebracht. Wir standen am Gang, als uns Vater im Rollstuhl entgegengeschoben wurde. Ich konnte meine Tränen nicht unterdrücken und mein Vater warf mir einen vielsagenden Blick zu. Er sagte nichts. Er blieb wortlos und das brach mir das Herz. Wir hatten eine Übereinstimmung, ohne ein Wort wechseln zu müssen. 

Er war in einem Zweibettzimmer und es war kaum zu glauben, dass sein Zimmernachbar ein alter Kriegskamerad war, den er schon viele Jahre nicht mehr getroffen, und von dem er immer wieder gesagt hatte, dass er ihn einmal besuchen wolle. Jetzt brachte sie das Schicksal noch einmal in der Klinik zusammen. 

Mein Vater war eine Woche hier, als mir der Arzt sagte, dass er medikamentös so gut eingestellt sei, dass er nach Hause gehen könne. Ich saß an seinem Bett und sagte ihm, dass ich ihn am nächsten Tag nach der Visite abholen würde. Er freute sich auf das Heimkommen. Dann verabschiedete ich mich von ihm und ich sollte ihn nicht mehr lebend antreffen. 

Am nächsten Vormittag bekamen wir den Anruf, dass er verstorben sei. Daraufhin brach Mutter zusammen. Ich fuhr ins Krankenhaus, um die Formalitäten zu erledigen. Eine Krankenschwester händigte mir die Kleidungsstücke aus und zog mich beiseite. Sie drückte mir die Hand und kondolierte. Sie schaute mich kurz an. 

Dann schien sie Mut zu fassen, um mir Folgendes zu erzählen: Ich hoffe, Sie verstehen mich richtig. Aber ich möchte Ihnen sagen, wie Ihr Vater gestorben ist. Ich war zufällig im Zimmer. Ihr Vater saß bei Tisch und frühstückte. Er erzählte seinem Kriegskameraden gerade einen Witz, ehe er aufstand und zu seinem Bett gehen wollte. Dann ist er mitten im Zimmer zusammengebrochen und war sofort tot.
Die herbeigeeilten Ärzte konnten nichts mehr machen …

Die Krankenschwester wollte mich trösten und diese letzten Momente meines Vaters waren auch tröstlich. Also war sein letzter Wunsch in Erfüllung gegangen. Er hatte mir in den letzten Jahren immer wieder erzählt, dass er jeden Abend vor dem Einschlafen den Wunsch äußerte, schnell und ohne Aufhebens sterben zu können. Dieser Wunsch war ihm erfüllt worden.

Im Krankenhaus hatte sich meine Mutter einen Infekt zugezogen, woraus eine heftige Grippe wurde, die es ihr nicht erlaubte, beim Begräbnis teilzunehmen. Die Freunde aus Frankreich, sein Bruder Willi und alle seine anderen Geschwister und Jonny waren anwesend. Er wurde an einem bitterkalten Februartag verabschiedet und wir alle froren. 

Dann kam der Sarg ins Krematorium. Vater wurde verbrannt. Als er noch in der Leichenhalle lag, hatte ich dort am offenen Sarg Abschied von ihm genommen. Er hatte einen ganz zufriedenen Gesichtsausdruck. Er war auch der erste tote Mensch, den ich direkt gesehen habe. Die Urne wurde später im engsten Familienkreis beigesetzt.

Vorher stand sie noch beim Bestatter. Ich war zu diesem Zeitpunkt auch einmal dort und befand mich kurz allein mit der Urne in einem Raum. Aus unerfindlichen Gründen nahm ich sie in die Hand und schüttelte sie, weil ich überprüfen wollte, ob ich die Silberplatte, die Vater als Kind in den Kopf operiert worden war, hören könnte. Ich glaubte, dass diese dem Feuer standgehalten hätte. Aber es klimperte nicht und mir kam der Gedanke, dass mein Vater gar nicht in diesem Gefäß drinnen sei. 

Aber das hatte jetzt keine Bedeutung. An einem sehr kalten Abend, wenige Tage nach dem Begräbnis, war ich am Friedhof und räumte die Kränze vom Grab weg. Ich trug sie zu einem Sammelplatz, wo sie dann entsorgt wurden. Anschließend ging ich ins benachbarte Pfarramt, weil ich die Totenmesse bezahlen wollte. 

Dort empfing mich der Pfarrer, der mich misstrauisch musterte: Ach das ist der Elias und geschieden ist er auch. Ich bezahlte den offenen Betrag für die Messe und stürmte wütend aus dem Widum. Ich empfand diese Bemerkung nicht nur unpassend, sondern als eine große Frechheit. Jedenfalls machte ich mich in den nächsten Tagen auf und meldete mich als Mitglied der katholischen Kirche ab.


Schluss

Dieser Text oder dieses Buch hat mit dem besonderen Geburtsdatum meines Vaters begonnen und endet mit seinem Tod. Also eine in sich geschlossene Geschichte, wie es sie in der Wirklichkeit eigentlich nicht gibt. Das Leben ist keine geschlossene Geschichte, schon gar nicht so, wie sie in der Literatur abgebildet wird. 

Der menschliche Geist, die Kunst, hat eine Konstruktionsform zur Darstellung der Realität gefunden, durch die wiederum eine eigene Realität geschaffen wird. So betrachtet, mag sich eine Geschichte zwar an der Wirklichkeit orientieren, aber funktionieren tut sie nur als eine neue Wirklichkeit. Ein Roman schneidet unter Umständen ein Stück Realität heraus, so wie man ein Foto von einer Landschaft anfertigt, die sich, obgleich sehr konkret, symbolisch auf die ganze Welt bezieht, aber mit dem Abgebildeten nur bedingt etwas zu tun hat.

So ist es auch hier.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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