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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Erinnerungen
Folge 1

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


1. Kapitel

Mein Vater wurde am 24.12.1924 geboren. Zweifelsohne ein ganz besonderes Geburtsdatum. Trotzdem wurde er auf den Vornamen Hugo getauft. Ein Christkind namens Hugo. Manchmal hat mich die Frage beschäftigt, wie meine Großeltern für ihren Erstgeborenen mit so einem Geburtsdatum gerade auf diesen ungewöhnlichen Vornamen kamen. Besonders, wenn man in Betracht zieht, in welches Umfeld mein Vater hineingeboren wurde.

Einige Male habe ich in den vergangenen Jahren in der Franz-Plattner-Straße kurze Spaziergänge unternommen. Hier sind sowohl mein Vater als auch ich zur Welt gekommen, beides Hausgeburten, er auf dem Bauernhof der Großeltern, ich einige Häuser unterhalb am Ende der Straße.

Wenn ich spätnachts und zumeist angeheitert die Franz-Plattner-Straße entlangschlenderte und das gedämpft orangebraune Licht der Straßenbeleuchtung (zum Schutz von Mückenarten) in die Blätter, in die Bäume und in die Sträucher fiel, dann mischte sich in meine Hochstimmung immer etwas Wehmut.

Am Anfang der Straße steht noch heute die Tischlerwerkstätte, die einst mein Großvater von einem Vorfahren übernommen und die auch mein Vater einige Jahre bis zu seinem Konkurs betrieben hatte und die auch heute noch von einem entfernten Verwandten weitergeführt wird.

Sehr gut kann ich mich an meine frühe Kindheit erinnern, als mein Vater hier gearbeitet hatte, an die riesige Band- und die Kreissäge und an die Hobelbänke und an den Geruch von Holzleim und Hobelspänen, von Beize und von Nitroverdünnung. Die Tischlerei war sowohl im Parterre als auch im ersten Stock untergebracht und dort hinauf führte eine außen angebaute Holztreppe, wo die einzelnen Staffeln an den Kanten mit Eisenschienen verstärkt waren, sodass man die metallisch klappernden Schritte gut hören konnte, wenn die Treppe von jemandem benützt wurde.

Der Werkstätte direkt gegenüber lag der Bauernhof meiner Großeltern – inzwischen zu einem Wohnhaus umgebaut – und zwischen diesen beiden Gebäuden ist ein Vorplatz, wo Holzstöße aufgestapelt und luftgetrocknet wurden und wo Lieferanten ihre Materialien abluden beziehungsweise Möbelstücke, Türen und Fenster auf die Fuhrwerke aufgeladen und zu den Kundschaften transportiert wurden.

Ins Bauernhaus führte eine grün-weiß gestrichene Eingangstür, die es auch heute noch gibt, und zu Zeiten meiner Großeltern war es nicht ungewöhnlich, dass das Haus bis zu zwanzig Menschen, Erwachsene und Kinder, beherbergte und für damalige Verhältnisse entsprechend Platz bot.

Auf der Hinterseite des Bauernhauses war länglich das Stallgebäude mit Heustadel angebaut und davor tummelten sich viele Hühner, die Großmutter mit Maiskörnern fütterte, begleitet von ihrem „pull … pull … pull“-Singsang.

Daran schlossen sich der große Baum- und Gemüsegarten, die Frühbeete, die Ribisel-, die Stachelbeer- und Himbeerstauden sowie die Apfel-, Birnen- Kirsch- und Zwetschkenbäume an. Dieses Areal zog sich bis zum Schlossbach hin, der die östliche Grenze des ansehnlichen Besitzes meiner Großeltern bildete.

Wenn ich mir heute das ehemalige Anwesen der Großeltern in Erinnerung rufe oder alte Fotografien betrachte, dann war dieser Bauernhof, zusammen mit der Tischlerei, eine große, geschlossene Einheit und mit den Wiesen und Äckern, die die Familie im Estrichfeld und in den Flussauen besaß, war das ein eigener Kosmos, eine Welt für sich, wie es sie heute in unserer Gegend kaum noch gibt, und der die große Familie mit mehr als dem Nötigsten versorgte und, verbunden mit dem unbändigen Fleiß aller Familienmitglieder, relativ gut über die Runden brachte, auch während der ganz schlechten Zeiten.

Meine Großmutter war in ihrem Leben nicht weniger als zwanzigmal in anderen Umständen. Fünf Kinder verlor sie durch Aborte, drei weitere starben in den ersten Lebensmonaten, sodass schlussendlich noch zwölf Kinder übrig blieben und durchzubringen waren.

Tirol war zu Zeiten meiner Großeltern katholisch geprägt. So auch meine Großeltern, wobei beide, was die Religion anlangte, einen recht pragmatischen Umgang damit pflegten. Vor allem mein Großvater, der sich an die Feiertage und die Traditionen hielt, wie es halt üblich war, sich aber sonst von den religiösen Lehren der Kirche nicht allzu sehr in Beschlag nehmen ließ.

Meine Großmutter übernahm zwar ganz selbstverständlich das katholische Weltbild, die Bibel als lebenslanger Leitfaden, aber sie lebte Religion ohne große Bigotterie.

Es gab den Himmel und es gab die Hölle und es gab das Fegefeuer und es gab die Todsünden und es gab lässliche Sünden und es gab die Heiligen und es gab den Teufel und es gab das ewige Leben und es gab das Jüngste Gericht und es gab den kirchlichen Jahreskreis, und an Sonn- und an Feiertagen besuchte sie die Abendmesse, weil sie besonders an diesen Tagen zu Hause, wie auch an all den anderen Tagen, für die Küche zuständig war, damit die riesige Familie unter Mithilfe ihrer Töchter unter ihrer resoluten Aufsicht eine Mahlzeit vorgesetzt bekam.

Mit den religiösen Regeln arrangierte man sich auf vernünftige Weise. Geprägt war der Alltag von harter Arbeit (auch sonntags), die unverrückbar und unwidersprochen im Zentrum des Familienlebens stand und die unter der Oberaufsicht meiner Großmutter passierte.
Während Großmutter zu Hause das Heft in der Hand hielt, war Großvater mehr für die Vertretung nach außen hin zuständig, er war, neben der Tischlerei, vor allem ins Dorfgeschehen, in die Dorfpolitik, bei den Vereinen und auch an den Stammtischen der Wirtshäuser eingebunden.

Der Sinn des Lebens bestand vor allem in harter körperlicher Arbeit, so wie es in der Bibel stand: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein tägliches Brot verdienen. Diese Erkenntnis stand unerschütterlich im Zentrum der Familie (nur Großvater genoss hier eine kleine Sonderstellung) und damit waren die Großeltern sehr erfolgreich, denn alle ihrer zwölf Kinder sollten im späteren Leben tüchtige, fleißige Menschen werden, die im ganzen Dorf in dieser Hinsicht hohes Ansehen genossen. Nicht ein einziges schwarzes Schaf sollte unter diesen zu finden sein.
In den letzten Lebensjahren meiner Großmutter, als die Kinder längst aus dem Haus waren und der Großvater bereits gestorben war, rückte das religiöse Leben etwas mehr in die Mitte ihres Daseins, aber auch nur wieder in einem recht vernünftigen Ausmaß.

Sie machte kleine Zuwendungen an die Kirche, damit sie einige Pluspunkte für das Jenseits sammeln konnte. Einmal spendete sie einen ansehnlichen Betrag zur Anschaffung von Sitzkissen in der Altersheimkapelle, damit die alten Leute (und auch sie) bei der Heiligen Messe weicher und vor allem nicht auf den kalten, harten Holzbänken sitzen mussten. Natürlich war dieses Geschenk an die Bedingung geknüpft, dass der Auftrag an ihren Schwiegersohn zu gehen hatte, der ein Raumausstattungsgeschäft im Dorf betrieb.


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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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