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Egyd Gstättner
Nestroy geht sch…
oder:
Kleine Buchgeschichte


1. Früher im Cafè


Früher einmal war ein Buch eine Sensation und ein Ereignis – schon lange vor seinem Erscheinen. Zum Beispiel saß der Schriftsteller im Kaffeehaus, blätterte ein Bein über das andere geschlagen vielleicht gerade eine Zeitung durch, schlürfte seinen Mokka, zwei Tische weiter saßen zwei Leser und tuschelten miteinander, angeblich schreibt er wieder an einem neuen Roman, nein wirklich, worum geht es denn diesmal, streng geheim, aber angeblich eine ganz arge Geschichte, wird er die Wahrheit dem Menschen wieder zumuten, klaro, und wird er wieder rücksichtslos unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen und Fehlentwicklungen reflektieren, logo, einige einflussreiche Persönlichkeiten zittern bereits heute, ob auch sie kenntlich gemacht werden, klagen wäre sinnlos, das nützte nur dem Buch, sie lassen sich natürlich nichts anmerken, wann wird denn der Roman erscheinen, angeblich bereits im übernächsten Jahr, er wird einschlagen wie eine Bombe, ich kann es kaum noch erwarten, wie wird der Roman denn heißen?

Das ist ein streng gehütetes Geheimnis, vom Titel hängst ja alles ab, und vom Umschlag und vom Verlag, ursprünglich sollte er angeblich Nestroy geht scheißen heißen, aber der Verlag war dagegen, jetzt heißt es möglicherweise Nestroy geht schießen, damit wäre der Verlag einverstanden, wir können den Schriftsteller ja fragen, zugelegt hat er übrigens auch ein bisschen, um seine Gesundheit steht es nicht zum Besten, er zahlt gerade, um Himmels willen nein, stören wir ihn nicht, er kann ja sehr aufbrausend sein, gehen wir lieber in die Buchhandlung, vielleicht wissen die schon etwas, oder nein, wir schreiben seiner Haushälterin, die weiß alles!

Bis das lange erwartete Werk dann tatsächlich erschienen war, war es – auch dank der Vorabdrucke in prominenten Zeitungen sowie Interviews in Radio und Fernsehen – gerüchteweise in der ganzen Stadt und im ganzen Land bekannt, und nun mussten natürlich alle nachprüfen, ob die Gerüchte auch stimmen… ab fünf Uhr früh campierten die Leser – und vor allem die Leserinnen – am Erstauslieferungstag vor der verschlossenen Eingangstür der Buchhandlung, verzweifelt versuchten aufgeregte Redakteure aus nah und fern beim Verlag oder beim Schriftsteller direkt anzurufen, um einen weiteren Interviewtermin zu bekommen, erhielten aber die stereotype Auskunft: Vormittags spricht der Dichter nicht, keine Auskunft vor 14.00. Allüren!

Gymnasialprofessoren und Gymnasialprofessorinnen hofften, zeitgemäß, aktuell und kritisch zu sein, indem sie Nestroy geht sch… gleich durchmachten und als Klassenlektüre festlegten. Eltern beschwerten sich bei der Direktion. Ein paar Schülerinnen und Schüler interessierte das sogar tatsächlich…

Heute hingegen erscheinen unentwegt so viele Bücher so vieler Autoren gleichzeitig, dass man eine ganze Zeitungsausgabe allein mit den kleingedruckten Autorennamen und den Buchtiteln füllen könnte, was aber auch keine Literaturvermittlung und kein literarisches Leben im strengen Sinn mehr wäre.

Die meisten Neuerscheinungen schaffen es überhaupt nicht in die Buchhandlungen, geschweige denn auf die Ladentische. Natürlich könnte man sie bestellen, und sie wären binnen vierundzwanzig Stunden da, aber wie soll man etwas bestellen, von dem man gar nicht weiß, dass es existiert?


2. Der schwangere Vater

Der Schöpfer ist also in der Hoffnung, wenn auch eher hoffnungslos. Was soll der Vater auch sagen, bevor das Baby geboren ist? Noch ist der Vater schwanger, sozusagen in Vaterschaftsschutz.

Wie viel jetzt in den letzten Monaten der literarischen Schwangerschaft noch passieren könnte, denkt er, an dem die Schöpfung noch scheitern könnte! Vom nervtötenden Baulärm in der Nachbarschaft bis zur Schaffenskrise! Die nagenden Selbstzweifel! Der aussichtslose Kampf gegen die eigenen Ansprüche! Zunächst einmal sollte der Schriftsteller nicht sterben. Das gilt zwar prinzipiell für alle Menschen, die etwas schaffen wollen. Aber niemand denkt so oft und intensiv an den Tod wie Schriftsteller und Philosophen. Sie sind eine Art Bestattungsunternehmer ohne Gewinnbeteiligung…

Er sollte auch auf gar keinen Fall morgens (vormittags) mit der plötzlichen Erkenntnis aufwachen: Was für ein Blödsinn, den ich da seit vier Jahren zusammenschreibe! Leider wacht er fast jeden Morgen mit solchen Gedanken auf:

Der beinharte Kampf mit sich selbst. Oder gegen sich selbst? Man muss sich selbst besiegen. Aber wenn man sich selbst besiegt, verliert man ja auch gegen sich selbst. Habe ich die Ränder der Sprache ausgelotet? Und was ist dabei herausgekommen? Unglaubliche Schöpfungsqual! Ob das bei einem Magistratsbediensteten auch so ist? Oder bei einem Liegenschaftsreferenten? Oder bei einem Kulturreferenten? All diese Selbstzerfleischungen am Weg nach oben, all diese Selbstzerstörungen am Weg zum Triumph… Und dann ist über allen Gipfeln nichts! Nur Luft.

…und natürlich darf der Schöpfer nicht ernstlich erkranken. Schließlich kann er sich nicht krank melden! Jedenfalls bekommt er in seiner Matratzengruft kein Krankengeld. Ein Schriftsteller, der hauptberuflich Lehrer, Universitätsprofessor, Richter, Arzt, Krankenhauspsychologe, Kulturbeamter, Dramaturg ist, der kriegt Krankengeld und später eine anständige Pension. Ein Schriftsteller, der hauptberuflich Schriftsteller ist, der nicht. In Pension sollte er möglichst auch erst vierzehn Tage vor dem Tod gehen, sonst kann er sie sozusagen nicht genießen.

Aber noch viel, viel schlimmer ist ein anderer Punkt: Er ist in seinem Beruf jedenfalls in der Phase absolut unersetzbar! Ein praktischer Arzt kann seine Vertretung an die Praxistür nageln, bevor er sie schließt, im Klinikum kann einer des anderen Dienst übernehmen, auch ein erkrankter Lehrer kann sich supplieren lassen.

Er als praktischer Dichter kann aber nicht moribund und schmerzverzerrt zu einem befreundeten Schriftsteller gehen und sagen: Geh, schreib bitte du die nächsten vierzehn Tage meinen Roman für mich weiter, bis ich mich wieder besser fühle. Und auch der Literaturhausdirektor wird seinen Roman nicht an seiner Stelle weiterschreiben können, wenn er ausfällt. Tja, so schaut es aus!

Dieser krassen Benachteiligung wird er sich nur entziehen können, indem er, wie es sich für einen Dichter, eine Dichterin in unserer Gesellschaft traditionell gehört, sozialverträglich früh ablebt und damit bei seinem Publikum ein wohliges Schaudern erzeugt. So ein Elend! So ein Drama! So früh! So tragisch! Vielen Dank! Respekt! Aber jetzt lebt er – in einem höheren Sinn. Jetzt, wo er gestorben ist, ist er unsterblich – mindestens bis übermorgen!


3. Das Buch als Konsumartikel


Geschafft! Das Werk ist da, das Kind ist auf der Welt, der Autor lebt. Jetzt hat der erschöpfte Schöpfer seine Schuldigkeit getan, es sei denn, er wird – immer seltener, aber doch – zu Lesungen eingeladen, jetzt wo sein Kind in der Auslage liegt.

Früher einmal sind nicht nur viele gespannte Leute, sondern auch gespannte Literaturredakteure den Heiligen Drei Königen oder Königinnen gleich zu Lesungen und Präsentationen gekommen und haben üppig davon berichtet, leidenschaftlich, oft natürlich auch sehr subjektiv und ungerecht, sodass regelrechte Fehden und Literaturkleinkriege und Skandale entstanden, die dann wochen- und oft monatelang Gesprächsthema waren. Ein Buch schrieb Geschichte, auch und gerade dann noch, wenn es fertig war – gebunden, aber nicht gestorben. Die Gesamtsituation hieß: Kultur!

Solche subjektiven Ungerechtigkeiten und Verrisse kommen heute nicht mehr vor, weil gar nichts mehr vorkommt. Die Redakteure würden es als Zumutung empfinden, die Redaktion bloß wegen Kultur verlassen zu müssen. Da berichtet man lieber prinzipiell gar nicht. Geburt = Totgeburt. Wenn, dann über Preisverleihungen, also über Literaturveranstaltungen ohne Literatur. Da kann man nichts falsch machen. Da muss man nur Prosecco trinken.

In Maike Albath`s Buch Rom, Träume – Moravia, Pasolini, Gadda und die Zeit der Dolce Vita liest man zum Beispiel über Elsa Morante: Die Menschen in ihrem Roman sind Gefangene ihrer Lebensumstände und werden von den Zeitläuften zermalmt, Handlungsfreiheit entpuppt sich als Illusion. ‚La Storia‘ wurde zu einem literarischen Fall und provozierte breite Diskussionen…

Breite Diskussionen? Vielleicht gar noch kontroversielle? Das waren noch Zeiten! Hier und heute provoziert kein Buch, kein literarisches Werk noch irgendwelche Diskussionen oder Debatten – geschweige denn breite – (denn Diskussionen, Diskurse, Debatten sind gesellschaftspolitisch nicht mehr vorgesehen; man will gesellschaftspolitisch Ruhe und Reibungslosigkeit und noch einmal Ruhe und noch einmal Reibungslosigkeit), im Rahmen der Freiheit der Kunst lässt man die Publikumsbeschimpfungen, Gesellschaftsbeschimpfungen, Obrigkeitsbeschimpfungen, Autoritätsbeschimpfungen, Expertenbeschimpfungen, Staatsbeschimpfungen, Machtbeschimpfungen, Herrschaftsbeschimpfungen naserümpfend oder wegschauend oder weghörend geschehen, ignoriert sie und kümmert sich übersprungshandelnd nicht weiter darum, das Buch soll ganz einfach gekauft und eventuell noch konsumiert werden (um das Wort lesen zu vermeiden, aber das wäre dann schon privat).

Globalisierte, kapitalistische Stromlinienförmigkeit und noch einmal Stromlinienförmigkeit: Buch oder Butter, Kraut oder Kurzgeschichte, Roman und Rüben: Konsumartikel. Der Moment, in dem der Konsumartikel Buch, der Konsumartikel Butter über den Kassatisch gezogen wird und die elektronische Kassa „Piep“ macht: Das ist der Moment der Entwertung, der unwiderruflichen Entwertung, der Moment der Wahrheit, der symbolische Tausch und der Tod: von diesem Moment weg ist der Konsumartikel nicht mehr der Rede wert, weder der Konsumartikel Butter, noch der Konsumartikel Buch.

Mir fällt auch kein Schriftsteller ein, der über diesen brutalen, unappetitlichen Mechanismus ernstlich Beschwerde führte. Vielleicht lässt man ihn einfach nicht. Man muss für die einmalige Erwähnung schon sehr dankbar sein: In der Masse des theoretisch über den Ladentisch zu Ziehenden ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht gehört das ganz einfach zum Geschäft. Man ist Teil des Systems. Man ist Opfer des Systems. Man ist je nach Erfolg auch Nutznießer des Systems.

Dass ein Buch Geist ist, dass ein Buch Kulturgeschichte – und damit Landesgeschichte – ist, dass ein Buch Vergangenheit ebenso wie Zukunft, Gedächtnis wie Vision ist – dafür ist im herrschenden Gesellschaftssystem nicht mehr viel Verständnis.

Die Menschen sind Gefangene ihrer Lebensumstände und werden von den Zeitläuften zermalmt, Handlungsfreiheit entpuppt sich als Illusion…

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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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