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Egyd Gstättner
Last Exit Tolstoi
Erzählung

Meine erste Assoziation beim Anblick des Hauses der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie, wo ich einen befreundeten Selbstmordversuch besuchte, war der: Astapowo, die Bahnstation, Tolstois Sterbehaus.

Das gesamte Klinikum nun hochmodern bis postmodern. Nur die Psychiatrie ausgegliederte heruntergekommene Jahrhundertwende, dicke Backsteinmauern: Man versuchte Fortschritt nicht einmal architektonisch zu suggerieren… den glaubte ohnehin niemand, weder Psychiater, noch Patient, noch Besuch… Das Haus stand schon seit der Zeit, als es noch ganz selbstverständlich Irrenhaus geheißen hatte. Jetzt hieß es angeblich Zentrum für seelische Gesundheit, wie ja alles Öffentliche nach seinem Gegenteil benannt ist oder nach seinem Möchtegern am Nimmerleinstag. Idealism impossible.

Ein kleines Glück im großen Unglück war trotzdem, dass ich als Besuch kam, nicht als Patient, dass ich nach fünfundvierzig Minuten wieder gehen konnte, nicht mindestens zwei Wochen bleiben musste. Die Station schummrig. Halbdunkel, fürchterlich abgestandene, stickige Luft.

Hier wurde kaum gelüftet – wegen Fluchtgefahr. Ein Gefängnis. Falls man überhaupt genesen kann: Hier schon wegen der Luft nicht. Nur eine Stunde täglich im Garten. (Gartengruppe).

Krankenhaus, und statt medizinischer Apparate wuchtige Gemälde an den Wänden. Große Wasserflächen heilen die Seele, heißt es, und es sind alles Bilder von großen Wasserflächen, Seelandschaften, aber nicht taghell, nicht bei Sonnenschein, sondern nach Sonnenuntergang in der heraufdämmernden Nacht. Ich mochte gar nicht hinsehen. Die Bilder waren samt und sonders Vorahnungen des Todes.

Mein Freund im Halbschlaf, ganz benommen und mit zusammengekniffenen Augen, als ich kam; er hatte den ganzen Tag geschlafen, Frühstück und Mittagessen verschlafen, ging als erstes rauchen. Eine Selchkammer! Zum Ersticken! Die Fenster ebenfalls nicht zu öffnen. Ein paar bleiche Gestalten schlichen durch die Gänge, schauten entweder paralysiert oder redeten Schwachsinn („Ich brauche eine Postleitzahl, ich habe nämlich einen Container…“ etc.)

Der Freund aufgeschwemmt, er zählte die Medikamente auf, die er bräuchte, aber (wegen seiner Drogensucht) nicht bekam. Er wirkte wie ein Medikamentenexperte. Ergotherapie: Er arbeitet am liebsten mit Ton. Vormittags Gesprächstherapie mit einer jungen Therapeutin. Familienaufstellung mit Plastikbechern. Er hatte so gut wie niemanden aufzustellen, nur seinen toten Vater und einen völlig zerfetzten Becher seiner Exfrau. Defamiliarisiert. Desozialisiert.

Er flüsterte, er sehne sich in eine Zeit zurück, als es noch keine Familienaufstellungen gab, dafür Familien. Ich dachte mir: Diesen Satz werde ich in meinem nächsten Roman verwenden!

Da draußen dürfe man nicht mehr rauchen, aber alle Menschen müssten Psychopharmaka schlucken. Jedes zweite öffentliche Wort hieße ‚Wellness‘ oder ‚Spa‘, jedes zweite private ‚Burnout‘ oder ‚Depression‘. Es gäbe keine Familien mehr, nur noch ein einzigartiges Durchunddurch-Durcheinander von der Geburt bis zum Tod. Es gäbe keine Freunde und keine Freundschaften mehr, nur noch Analytiker und Therapien.

Er habe erzählt, was seine Mutter ihm angetan habe, und man hat gesagt, das sei ja ganz normal. Warum soll sie sich nicht selbst verwirklichen? Nach ihrer Phase als „Lebensabschnittspartner“ meines Vaters habe sie ihm die Chance zu einer neuen „Herausforderung“ geboten, „noch einmal neu durchzustarten“… So reden die Eloi allen Ernstes!

„Unter dem Deckmantel der Ich-Stärkung betreiben die Analytiker in Wirklichkeit eine skandalöse Zerstörung des menschlichen Wesens“, schimpfte der Selbstmordversuch. Hätte ich eine Zeitmaschine, ich reiste als erstes zum Doktor Freud und forderte ihn auf, den Beruf zu wechseln und die Psychoanalyse bleiben zu lassen! Er wird nichts als Schaden anrichten! Er wird die Gesellschaft in eine Therapiegesellschaft verwandeln und die Menschheit in die globale Neigungsgruppe ‚Zwangsneurose‘. Er wird den ultimativen unglücklichen Menschen erschaffen. So furchtbaren Schaden wie die Psychotherapie wird keine der Religionen anrichten, und sei sie noch so blutrünstig und brutal. Sie wird eine ganze Gesellschaft zerstören.

Neun von zehn Psychoanalytikern seien total ungebildet und hätten gar keinen geistigen Horizont! Freud sei noch gebildet gewesen, die Legion der Epigonen nicht. Die meisten Psychoanalytiker ordinieren heute in Pantoffeln oder barfuß, das sage doch alles! Ob ich mir vorstellen könne, dass Freud in der Berggasse barfuß psychotherapiert hätte? „Die überbezahlten, eitlen und dummen Psychoanalytiker vernichten bei ihren so genannten Patienten ein für alle Mal jede geistige und körperliche Liebesfähigkeit und verwandeln sie in niederträchtige Bestien!“ Dann kamen die Pfleger und ich musste gehen.

In ihrer Freizeit schrieben diese Therapeutinnen und Analytikerinnen Kriminalromane, in denen „zitronengelbe Schmetterlinge in der Mittagssonne durch die Luft torkeln“… Jedenfalls sollte ein Selbstmordversuch gelingen, meint er, und man sollte sich auf gar keinen Fall dabei erwischen lassen, sonst muss man sich von solchen Kriminalautoren analysieren lassen. Sie mögen ja messerscharf beobachten, Frau Doktor, aber die torkelnden Schmetterlinge sind fatal für die Analysesituation! Sie widerlegen sich selbst, Frau Doktor!

In der Welt, in der ich würde leben wollen, flattern die Schmetterlinge! Aus einer Welt, in der sogar die Schmetterlinge in der Mittagssonne durch die Luft torkeln, muss man sich davonstehlen! Man sei stigmatisiert. Und hier würde nichts besser. Vielleicht, liebe Frau Doktor, sollte man bescheiden beginnen und zuerst die armen torkelnden Schmetterlinge therapieren und dann erst die armen torkelnden Menschen… was wären die großen Erfolge ohne die kleinen?

Er habe zuerst gesagt, er habe die Tabletten verwechselt, aber dann doch zugegeben, dass er sich umbringen wollte. Eine Kurzschlusshandlung. Ein Mann vom Gericht sei gekommen, habe ein Protokoll angefertigt (und etwas ganz anderes protokolliert, als er zu Protokoll gegeben habe) und dann angeordnet, dass er zwei Wochen hier bleiben müsse. Und was ist dann? Wird die „Familie“ in vierzehn Tagen anders aufgestellt sein? Werden die Schmetterlinge in vierzehn Tagen wieder flattern?

Zwei „Auszucker“ hier nach Streit mit einem Pfleger, eine Tasse zu Boden geschmettert, gefesselt worden. (Die andere Seite sagt übrigens nicht „fesseln“, sondern „fixieren“. „Fesseln“ wäre so wertend…) Im Grund werde man den ganzen Tag sediert, mit Medikamenten niedergehalten. Nur die eine Stunde Garten pro Tag, dann wieder Düsternis und abgestandene Luft.

Ich schaute mehrmals auf die Uhr, ich konnte es nicht erwarten, dass die fünfundvierzig Minuten Besuchszeit endlich zu Ende waren, nicht wegen meines Freunds, sondern wegen meiner eigenen Atemnot. Es werde viel gestohlen hier, Süßigkeiten und sogar Zahnbürsten. Heute sei er perlustriert worden. Die eine oder andere Tablette, die er nicht nehmen wollte, versteckte er hinter dem Gaumen…

Eine Betreuerin habe ihn an den Handgelenken massiert und sei dabei auf ein mögliches Problem mit dem Urgroßvater gestoßen, den aber niemand in der Familie kannte… Er führe jetzt auch ein Tagebuch. Die Depressionen lange vor den Drogen, die waren bloß Neugier. Die Depressionen habe er schon lange, so seit dem zwölften Lebensjahr. Nur nie darüber gesprochen. Mit wem auch? War ja niemand da. Hatte ja keiner Zeit.

Tolstoi liegt auf der Flucht im Sterben. Rundherum Familienaufstellung im Sumpf Astapowos. Alle halten seine Frau für irrsinnig, ich ihn. Ging es durch sein „moralisches“ Verhalten, mit dem er seine Familie zerstörte, auch nur einem Menschen auf der Welt besser?

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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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