Egyd Gstättner
Alle Posten
Notizen

In Nikolai Gogols Roman-Torso Tote Seelen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird viel disputiert, viel lamentiert, viel schwadroniert, viel philosophiert. Auf Seite 518 meiner Ausgabe fragt Afanassi Wassiljewitsch den Semjon Semjonowitsch Chlobujew, welches Leben er führen würde, hätte er das Geld dafür.

„Nun, dann würde ich mir eine Wohnung mieten und mich der Erziehung meiner Kinder widmen, an mich selber brauche ich gar nicht mehr zu denken, meine Karriere ist beendet, ich tauge für gar nichts mehr: ich bin morsch, das Kreuz tut mir weh.“

„Aber wie kann der Mensch denn ohne Arbeit leben? Was für ein Leben ist das denn, ohne Pflichten, ohne Posten? Wie kann man leben ohne einen Halt auf Erden? Irgendeine Pflicht muss doch jeder tun!“

„Ich habe es ja versucht, Gott ist mein Zeuge, Afanassi Wassiljewitsch, habe versucht, mich zu überwinden. Was soll man machen, ich bin alt geworden und unfähig. Was soll ich denn tun? Doch nicht etwa einen Posten annehmen? Soll ich mich denn etwa mit meinen fünfundvierzig Jahren an einen Tisch mit Kanzleibeamten setzen, die gerade erst am Anfang stehen? Noch dazu bin ich unfähig, Bestechungsgelder anzunehmen, ich werde mir selber im Wege stehen und auch anderen schaden. Da haben sich doch schon eigene Kasten gebildet. Nein, Afanssi Wassiljewitsch, ich habe nachgedacht, habe es versucht, bin alle Posten durchgegangen, ich tauge für nichts. Höchstens noch fürs Armenhaus.“

„Alle Posten?“, fragte Afanssi Wassiljewitsch. „Alle Posten nicht! Wissen Sie was, Semjon Semjonowitsch, bewerben Sie sich doch einfach um die ausgeschriebene Stelle des Geschäftsführers des von Ihnen neu gegründeten Vereins zur Förderung der interkommunalen Zusammenarbeit für den Zentralraum Kärnten, kurz „Zentralraum Kärnten+“, der die Bedeutung und Schlagkraft von Klagenfurt und Villach stärken soll.“

„Aber den Schmarrn kauft mir doch niemand ab, Afanassi Wassiljewitsch!“

„Doch, doch, seien Sie ohne Sorge, Semjon Semjonowitsch Chlobujew, die Bürgermeister von K und V kaufen Ihre heiße Luft sicher!“

„Und was soll ich da überhaupt tun?“

„Ihre ersten Ziele, Afanassi Wassiljewitsch, müssen die Vernetzung der beiden Städte auf Verwaltungsebene und die Optimierung der Fördereinreichung bei europäischen Förderprogrammen sein…“

„Vernetzung? Optimierung? Das klingt ja unglaublich kompliziert!“

„Soll es auch, soll es auch! Aber wir behaupten einfach, sie hätten sich gegen rund hundertdreißig Bewerberinnen und Bewerber durchgesetzt. Sie brächten große Erfahrung bei der Abwicklung nationaler und internationaler Förderprojekte und der Vernetzung von Organisationen und Gebietskörperschaften mit. Ihre Karriere hätte Sie bereits von Ferlach bis ins Lavanttal geführt…“ 

„Ja, Sie haben recht, Semjon Semjonowitsch, das klingt überzeugend.“

„Und eindrucksvoll, Afanassi Wassiljewitsch, sehr eindrucksvoll! Ein starker Zentralraum ist für ganz Kärnten wichtig. Das Heben und Nützen von Synergien ist in Zeiten des globalen Wettbewerbs ein entscheidender Standortfaktor…“

„Pffft! Nicht nur Vernetzung und Optimierung, auch noch Synergien, Standortfaktor und globaler Wettbewerb… pffft, da kann einem ja ganz schwindlig werden, Semjon Semjonowitsch, ob ich das alles schaffe, das weiß allein der Teufel!“

„Gut, aber denken Sie an das Spitzengehalt in dem Spitzenjob! Die beiden Bürgermeister freuen sich über einen Geschäftsführer mit Managerqualitäten und versiertem Umgang mit internationalen Institutionen.“

„Na, was hab ich gesagt? Jetzt aber frisch ans Werk, Afanassi Wassiljewitsch!“

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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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