Helmut Schiestl
Ein schöner Vormittag
Short Story

Ich fuhr mit einem Rollstuhl durch die Stadt, obwohl ich gehen konnte und den Rollstuhl gar nicht benötigt hätte. Ein alter Freund begleitete mich dabei, und ich sagte zu ihm, dass mich jetzt viele Leute für verrückt halten werden, wenn sie mich mit dem Rollstuhl durch die Stadt fahren sehen, obwohl ich gehen kann.

Und der Freund sagte, dass mich die Leute ja vielleicht auch bedauern könnten, weil sie ja nicht wüssten, dass ich noch gehen kann, sondern es eben – vielleicht durch einen Unfall oder eine plötzlich ausgebrochene Krankheit – nicht mehr könne.

Und so schob mich mein Freund weiter mit dem Rollstuhl durch die Straßen der Stadt, in der ich wohnte. Dann fuhr er mich wieder zurück in meine Wohnung. Die war sehr schön und hatte einen Garten.

Im Garten wuchs eine Pflanze vor sich hin, wurde immer größer und größer, so dass ich schon dachte, sie würde am Ende meinen ganzen Garten überwuchern. Und so fragte ich den Freund, ob er wüsste, wie die Pflanze heiße und ob man nicht etwas dagegen unternehmen könne, sodass sie nicht am Ende meinen ganzen Garten überwucherte.

Der Freund kannte sich in solchen Dingen aus, er hatte selbst einen großen Garten, einen noch viel größeren als ich. Er nannte mir den Namen der Pflanze und meinte, er müsse sie wohl ausreissen, was er gerne für mich erledigen könne. Dann gingen wir wieder zurück in meine Küche.

Eine Nachbarin war hereingekommen, eine, die sich immer im Garten meiner Wohnung aufhielt. Jung war sie und adrett und meist in einem leichten Sommerkleidchen, manchmal zog sie auch das noch aus, sodass sie bis auf ihren Slip vollkommen nackt war, weil sie nie einen BH trug.

So entledigte sie sich auch jetzt wieder ihres Kleidchens und tapste in meiner Wohnung herum. Das gefiel meinem Freund, vielleicht noch mehr als es mir gefiel, musste ich doch immer wieder Angst wegen meiner Nachbarn haben, die so ein Verhalten vielleicht nicht goutieren würden und am Ende gar irgendwelche Schweinereien in meiner Wohnung vermuteten oder schlecht über meinen Lebenswandel dachten. Und ich bemerkte, was für ein Lächeln die fast nackte Schönheit in das Gesicht meines Freundes gezaubert hatte, als sie sich zwar höflich, aber doch nur kurz angebunden bei ihm vorgestellt hatte, ehe sie wieder in meinem Garten verschwand.

Wir zwei waren allerdings nicht lange in meiner Küche allein. Gleich kamen, noch ehe ich mich versehen hatte, eine Menge Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses in meine Wohnung, worauf die gleich einmal voll war und wir uns darin kaum noch rühren konnten. Am Ende hatten sich wohl sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses in meine nicht gerade kleine Wohnküche gedrängt, hatten sich an den Tisch gesetzt oder umstanden diesen, weil ich ja gar nicht so viele Stühle besaß, bedienten sich mit Geschirr aus der Küchenkredenz, eine stellte einen Kochtopf auf den Herd, begann etwas darin zu kochen, von dem ich nicht sah, was es war und woher es kam.

So war mit einem Mal eine Heftigkeit und Bewegung in meiner Wohnküche, die ich wohl nie für möglich gehalten hätte. Auch mein Freund nicht. Dieser sah nur überrascht dem ganzen Treiben zu. So setzte ich mich, von der Menschenansammlung überwältigt, zu einem Mann, den ich nur vom Sehen her kannte und wusste, dass er auch ein Bewohner des Hauses war. Dieser griff allerdings, nachdem er kurz mit mir geredet hatte, auf mein Gemächt, was mir gar nicht gefiel, weshalb ich seine Hand zurückschlug. Das schien ihm nichts auszumachen, und er wandte sich anderen neben ihm Sitzenden zu.

Ein anderer brüstete sich damit, immer wieder nach Indien zu fliegen und sich dort seine Stereoanlage von einem Guru neu einstellen zu lassen. Er kam sich damit wohl besonders schlau vor, dachte ich, seinen ökologischen Fußabdruck in Betracht ziehend.

Es wurde gekocht, und schließlich gegessen, Kaffee getrunken, durcheinandergeredet und gelacht. Ich hatte die Kontrolle über meine Besucher vollkommen verloren, wenn ich sie überhaupt je besessen hatte. Die Meute war ja ohne Ankündigung ganz plötzlich in meine Wohnung gekommen und hatte sich darin ausgebreitet wie eine Schar unliebsamer Insekten.

Ja eigentlich kam ich mir plötzlich völlig nutzlos in meiner eigenen Wohnung vor. Keiner beachtete mich oder fragte mich nach etwas, ich hätte genauso gut die Wohnung verlassen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Meinem Freund mochte es wohl ähnlich ergangen sein. Auch mit ihm redete niemand, und so war er inzwischen in den Garten hinausgegangen.

Ich vermutete schon, er wolle mit meiner hüllenlosen Nachbarin, die ich jetzt allerdings auch nicht mehr sah, Kontakt aufnehmen. Aber nein. Schnurstraks ging er jetzt zu der Pflanze, die ich ihm vorher gezeigt hatte und die schon sehr groß geworden war und bedrohlich mit ihrer überdimensionalen Blüte in das Fenster hereinragte, ergriff sie mit seiner Rechten, riss sie mit einem Zug aus der Erde und warf sie in eine Ecke.

Ich hätte ihm so viel Kraft gar nicht zugetraut und wollte schon zu ihm gehen, um ihm zu gratulieren und mich für seine mutige Tat zu bedanken. Da ertönte plötzlich und wie aus heiterem Himmel ein lauter Knall, ein Pfiff, heißes Wasser strömte aus dem Küchenblock, der, wie ich sofort ersehen konnte, durch die eben erfolgte Explosion völlig zerstört war und nur mehr in Fetzen von der Wand hing.

„Jetzt ist alles aus …“, dachte ich. „Meine Nachbarn haben meine Küche ruiniert, wer von ihnen wird mir den Schaden ersetzen? Wer wird das alles wieder in Ordnung bringen?“

Ich hatte diese Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, da war schon ein in einen weißen Mantel gekleideter Mann auf der Bildfläche erschienen und begann sich an dem völlig zerstörten Küchenblock zu betätigen. War er von meinen ungebetenen Gästen dazu gerufen und beauftragt worden, den Schaden, den sie mir angerichtet hatten, wiedergutzumachen? Ich konnte das kaum glauben.

Mein Freund war inzwischen wieder aus dem Garten zurückgekehrt, besah sich die Bescherung, die da in meiner Wohnküche entstanden war, machte ein etwas ratloses Gesicht, gab mir ein Zeichen, ich solle mit ihm kommen.

Gemeinsam gingen wir erneut in den Garten, wo wir jetzt auch die junge Nachbarin wieder sahen, die völlig unbeteiligt von dem ganzen Geschehen zwischen den Blumen und Bäumchen herumspazierte, und mein Freund mahnte mich, doch die Polizei zu rufen. Ich meinte, dass ich mir dadurch nur zusätzlichen Ärger mit meinen Nachbarn einhandeln würde, vor allem, weil sie sich jetzt schon daran machten, den Schaden, den sie mir eben in meiner Wohnküche angerichtet hatten, wieder zu beheben. Und da sich niemand von ihnen bösartig oder gar gewalttätig mir gegenüber verhielt, könnte wohl auch die Polizei nicht viel dagegen ausrichten.

Mein Freund lächelte, dann sagte er mir, dass er die Pflanze ausgerissen hätte, sie würde jetzt also keine Gefahr mehr für meinen Garten und das Wachstum meiner Blumen bedeuten. Ich bedankte mich dafür bei ihm und lobte noch seine Stärke, die ich bei ihm gar nicht vermutet hätte.

Wir schauten noch eine Weile durch das große Fenster in meine Wohnküche hinein, wo die Meute meiner Nachbarn sich wieder dem Smalltalk zu widmen begonnen hatte. Alles schien sich in Fröhlichkeit und – fast hätte ich den Ausdruck Hoffnung gebraucht! – aufzulösen. Mein Freund sagte noch, er hätte nicht den Eindruck, dass die mich so schnell wieder verlassen würden. „Die sind gekommen, um zu bleiben …“, meinte er noch etwas ironisch, ehe wir uns wieder in meine Wohnküche begaben.

Ich setzte mich wieder in mein kleines Eck in der Wohnküche, mein Freund war neben mir stehengeblieben, falls doch noch Gefahr von meiner ungerufenen Besucherschar ausgehen sollte. Beide beobachteten wir die Situation. Die Dampfschwaden, die alles durchwabert hatten, begannen sich langsam zu legen, der Geruch von verbrannten Kabeln und Plastik war aber immer noch deutlich wahrzunehmen.

Einer von den Besuchern – es war jener, der mir vorher in unverschämter Weise auf mein Gemächt gegriffen hatte – blickte zu mir hin und versicherte mir mit Augenzwinkern, dass alles wieder repariert würde. Alles werde wieder gut werden, flüsterte er mir noch zu, ehe er sich wieder den anderen zuwandte.

Ein paar begannen jetzt sogar zu singen. Die Stimmung war also alles andere als aggressiv oder gedrückt. Es war ein schöner Sommervormittag. Auch wenn sich in mir langsam alles im Kreis zu drehen begann.

Helmut Schiestl

Geboren 1954 in Hall in Tirol. Bis 2019 beschäftigt an der Universität Innsbruck. Zuletzt am Innsbrucker Zeitungsarchiv des Instituts für Germanistik. Zahlreiche Publikationen und Veröffentlichungen in Tiroler Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im ORF. Bücher: "Hirnkrebs", 1991 Tiroler Autorinnen- und Autoren-Kooperative. "Der Lotusblütenesser", 1992, Edition Himmelmeer. "Porträt des Schriftstellers als armer Wurstel", 2001 Edition Skarabäus.

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