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Egyd Gstättner
Ich will Ionesco sehen!
Erzählung

Stellen Sie sich vor, sagte mir Ionesco, meine Nashörner sind in vierzig Ländern gespielt worden! Auch in Deutschland. Die deutsche Presse hat nach der Premiere geschrieben: So sind wir Nazis geworden! Da hat man mich verstanden.

Nur in Russland gab es Schwierigkeiten, ausgerechnet dort! Die Russen schrieben mir, die dramatischen Qualitäten der Nashörner seien brillant, doch könne es gewisse Missverständnisse geben. Ich müsse begreifen, schrieben die Russen, sie müssten ihr Publikum erziehen. Damit es ganz genau weiß, wer diese Nashörner seien, müssten gewisse Repliken geändert werden. Sie bezweifelten nicht, dass ich ein Progressist war und dass die Nashörner für mich dieselben waren wie für sie.

Ich antwortete, es sei besser, nichts an dem Stück zu ändern, da es sowohl in kapitalistischen wie in sozialistischen Ländern so gespielt wurde.

Nun, sehen Sie, Fraundorfer, in Russland, in der Sowjetunion sind die Nashörner nie gespielt worden. Man wollte eben nur rechte Nashörner. Die Russen behaupteten, ich sei zweifellos krank, und sie hätten bei sich psychiatrische Kliniken für asoziale Schriftsteller erbaut und eingerichtet. Die Russen könnten mich heilen und alle anderen ungesunden, exzentrischen und rebellischen Autoren ebenfalls.

Es war das erste Mal, dass ich von sowjetischen psychiatrischen Kliniken für Künstler und Intellektuelle hörte, aber damals glaubte ich es nur zur Hälfte. Ich hielt es für einen Scherz.

Jetzt wissen wir, dass es das gibt. Zensoren, Politiker und Funktionäre hatten zu entscheiden, was die gerechte Sache war. Der Schriftsteller, der Künstler durfte keine Ideen oder Ideologien haben, die nicht die des Staates waren und die der Staat ihnen zu haben befahl. Weil Schriftsteller und Künstler vom Staat bezahlt würden, hätten sie seine Bediensteten zu sein. Mir wurde angst vor der Zukunft der Kultur. Ganz offensichtlich war es die Absicht der Regierungen und Ministerien, die Kultur zu dirigieren…

Aber die Sowjetunion, der Kommunismus sind zerbrochen und zugrunde gegangen, lieber Meister, ganz so wie von Ihnen vorhergesagt!

Ich weiß, ich weiß, Fraundorfer. Ich habe das Verlöschen als Greis noch erlebt. Aber meine Prophezeiung hat mir wenig Applaus eingetragen; auch dann nicht, als sie sich erfüllt hatte. Nur der König von Rumänien hat im Exil geklatscht; er wollte, dass ich ihm nach Ceausescu bei der Rückkehr helfe…;

Der Kommunismus ist zugrunde gegangen, aber nicht die Mechanismen, die bedingten Reflexe zwischen rechts und links, die Instrumentalisierungen, die Inszenierungen, die Diffamierungen, die völlige Verwahrlosung aller Wahrheiten, die Degradierung sämtlicher Weltwahrheiten zu Interessen der Macht…

Zuerst galt ich als Linker, Fraundorfer, weil ich den Faschismus, Hitler und seine Konzentrationslager ablehnte. Aber dann galt ich, weil ich auch den Kommunismus, Stalin und seine Konzentrationslager ablehnte, als Rechter, und man mied mich und feierte andere im Land, die, die Stalin feierten und zu seinen Konzentrationslagern schwiegen: Sartre etwa, dieses Nashorn von Rang.

Dieselben abscheulichen Verbrechen, die ihre Feinde begangen hatten, nannten sie, als ihre Freunde sie begingen, historische Notwendigkeiten! Nashörner gibt es überall. Geschichte ist nicht Wahrheit, Fraundorfer, Geschichte ist Irrtum!
Erst wer von allen Ideologien geheilt ist, hat zur Wahrheit die Möglichkeit.

Dieselben, die mich als Progressisten gefeiert hatten, ächteten mich später als Reaktionär. Das geht hier schnell. Es geht auch in Frankreich in Fragen von Kultur und Kunst nicht um Kultur oder Kunst, sondern um Macht. Immer um Macht. Nie um Wahrheit, immer um Macht. Um die Macht, die ganze Macht und nichts als die Macht!

Ausgesöhnt hat sich die Linke mit mir nie. Als ich ein sehr alter Mann war und mein ganzes Werk schon vollbracht hatte, mied und missachtete die vom sozialistischen Kulturminister dirigierte Kulturmafia mich. Die Mafiosi sagten indigniert, ich sei nicht so wichtig, ich sei tatsächlich, wie einst von den Reaktionären behauptet, bloß ein kleiner Witzbold. Man habe sich in mir getäuscht, man habe mich überschätzt.

Ich hatte keine drei Jahre mehr zu leben, als der tschechische Staatspräsident zu einem Staatsbesuch nach Paris kam, der Schriftsteller und früher im Kommunismus als Dissident und Regimekritiker im Gefängnis gesessen war. So ist die Geschichte nun einmal: Eine Abfolge von Irrtümern und Machtmissbrauch, Fraundorfer, ein gigantischer Schwindel!

Aber nun hatten sich die Dinge und die Verhältnisse geändert. Zu Ehren des hohen Besuchs gab der französische Kulturminister einen Empfang, zu dem alles geladen war, was in Frankreichs Kultur Rang und Namen hatte. Ich gehörte nicht dazu. Aber als der tschechische Staatspräsident und Schriftsteller zum Empfang kam, fragte er den französischen Kulturminister als erstes: Wo ist Ionesco? Welcher Ionesco?, fragte der Minister. Ist das ein Herr vom Weltkulturerbe? Oder dieser gehbehinderte Rechtsreaktionär?

Ionesco ist so rechts oder links wie ich, fauchte der tschechische Präsident den französischen Minister an, Ionesco ist ein Klassiker der Moderne! Ohne ihn wäre Ihre französische Literatur nicht das, was sie ist. Auf viele Gesichter, die hier bei Ihrem Empfang sitzen, könnten Sie verzichten, Herr Minister, auf Eugène Ionesco nicht. Ein Klassiker ist weder links, noch rechts, ein Klassiker ist ein Klassiker. ICH WILL IONESCO SEHEN!

Präsident sticht Minister: Altes Gesetz.

Was für eine peinliche Situation! Jetzt musste der diplomatische Notdienst aktiviert werden. Alles, was in Frankreichs Kultur Rang und Namen hatte und Soletti in sich stopfte und Champagner in sich schüttete, musste Frankreichs gemaßregelter Kulturminister links liegen lassen, sich hinter die Kulissen praktizieren und seine Frau instruieren, doch dringend Frau Ionesco anzurufen und ihrem Mann zu huldigen. Er sei der Größte, Bedeutendste, Richtungsweisendste blablabla, ein Monolith in der literarischen Landschaft Frankreichs, ein Mann wie Beckett und Joyce und Shakespeare zusammen blablabla, ein bedauerliches Missverständnis natürlich, man lade ihn und seine bezaubernde Gattin zum Staatsbankett ein, das bereits begonnen habe, man hole das Paar mit einer Staatslimousine ab, die Vorspeise würde nachgereicht!

Bitte, bitte, bitte, jetzt keine Umstände machen, die Zeit drängt, jetzt nicht nachtragend sein, lieber staatstragend sein, jetzt ans Wohl der Nation denken, allons enfant de la patriiie, der Grand Nation, le jour de gloire est arrivé, marchons! Marchons au Pinguining! Bitte, bitte, bitte! Die Frau des Ministers, so der Minister, solle beim Bauchpinseln des gehbehinderten rechten Theaterwitzbolds irgendwie auch moralische Schönheit hineinverwursten, Anmut, Würde und Erhabenheit, ganz tief in den Schmalzkübel hineingreifen, Liebe, Achtung, tragisches Mitgefühl, scheiß die Micky Maus drauf!

Und so kam es, Fraundorfer, dass die Kinder vom Montparnasse sahen, wie eine dunkle Staatskarosse am Boulevard Nr. 96 hielt und nicht nur die Ministergattin mit einer Blaulichtfrisur am Kopf, sondern auch zwei Staatsdiener ausstiegen, die einen roten Teppich bis hinauf ins sechste Stockwerk rollten, mich in den Rollstuhl hoben, mich die sechs Stockwerke im Rollstuhl hinauf peppelten, während die Ministergattin, immer drei Schritte voraus, die Barcarole trällerte und mich, nachdem mich die beiden Staatsdiener aus dem Rollstuhl in die Limousine gehoben hatten, behutsam fragte, ob ich es mir eventuell vorstellen könnte, anlässlich dieses Staatsbanketts eine Krawatte umzubinden, worauf ich entgegnete, das könne ich mir weder eventuell, noch sonstwie vorstellen, da ich Zeit meines Lebens Rollkragenpullover trüge, da Krawatten erstens ein Zeichen der gesellschaftlichen Gezügeltheit darstellen und mich zweitens würgten, was die Ministergattin mit einem Ganz-wie-Sie-meinen quittierte und bloß in Gedanken ergänzte: Du seniler Tepp mit deinen absurden Tränensäcken!

Diesen Gedanken bezahlte ich mit einem Einskommafünf-Sekunden-Schmunzeln, und meine Frau Rodica neben mir sagte der Ministergattin scharf: Das habe ich gehört!

Bei meiner Ankunft – der Kulturminister war schon zur Wachsfigur erstarrt – begrüßte mich der tschechische Präsident mit besonderer Herzlichkeit, dankte mir coram publico nicht nur für mein Kommen, sondern für mein Wirken und sagte so laut, dass es das ganze Kulturgünstlingsgesindel und alle, die in Frankreichs Kultur Rang und Namen hatten, hören mussten, mein Werk habe ihn überhaupt erst zum Schreiben animiert. Und übrigens einen schönen Gruß vom Papst!

Nach der Abreise des tschechischen Präsidenten wurde ich in Paris natürlich desto energischer gemieden. Die Nashörner trampelten indigniert an mir vorbei.

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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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