Elias Schneitter
Josef und Maria
Erzählung

Hilde war im ersten Moment etwas erstaunt, als ein VW-Rabbit mit einem deutschen Kennzeichen in die Einfahrt zu ihrem Haus einbog, ein älteres Paar ausstieg, der Mann mit einer Plastiktragtasche in der Hand. Sie fragte sich, was es mit den beiden Unbekannten auf sich habe, als sie sich dem Eingang näherten und läuteten. Sie öffnete die Tür und grüßte etwas verlegen. Sie hatte keine Ahnung was der Mann und die Frau wollten, aber bereits auf den ersten Blick herrschte Vertrauen zwischen ihnen, denn das Pärchen machte nicht den Eindruck, als ob es von Haustür zu Haustür unterwegs war, wie Vertreter.

Hilde war jedenfalls sehr gespannt, als der Mann mit schwäbischem Akzent die Frage stellte: „Sie sind doch die Hilde, eine geborene Gutleben?“
„Ja“, antwortete Hilde, „das bin ich. Wollen Sie nicht hereinkommen?“, und sie lud das Paar höflich ein, denn plötzlich hatte sie eine Ahnung, wer da vor ihr stand. Ihre Gedanken sprangen zurück, viele viele Jahre, nach dem Krieg, nach dem Zusammenbruch, als sie gerade sechzehn Jahre alt geworden war und ihr Heimatdorf zuerst von amerikanischen und wenige Wochen später von französischen Soldaten besetzt wurde.

Sie war eines von insgesamt fünf Kindern der Familie Gutleben, die sich in den Dreißigerjahren und während des Krieges mehr schlecht als recht durchgeschlagen hatte.
„Wenn wir nicht von der Familie meines Vaters unterstützt worden wären und er nicht hin und wieder eine Weihnachtskrippe oder einen geschnitzten Herrgott verkauft hätte“, erzählte Hilde oft noch Jahre danach, „wären wir wohl alle verhungert.“

Trotz dieser schweren Zeit brachte Hildes Vater, den sie abgöttisch liebte, noch Humor auf. Mit dem Spruch „Gut-leben heißen, aber nichts zu fressen haben!“ sorgte er oft für einen Lacher in der Familie.

Der Vater hatte zwar den Beruf eines Tischlers erlernt, verfügte aber auch über ein großes Talent als Krippen- und Herrgottsschnitzer, sodass seine Arbeiten von einigen nicht nur gelobt, sondern auch gekauft wurden, wenngleich damit nicht viel zu verdienen war.

Er hatte die Angewohnheit, wenn es die Temperaturen erlaubten, bei offenem Fenster in der Parterrewohnung seinen Schnitzarbeiten nachzugehen. Und als sich bei Kriegsende die amerikanischen und französischen Soldaten im Dorf aufhielten, tauchten einige immer wieder davor auf, um dem Vater zuzuschauen.

Hilde erinnerte sich sogar an schwarze Amerikaner, die im Tausch gegen Fleischdosen, Zucker, Mehl, Tabak und jede Menge Kaugummi Holzfiguren als Souvenir für sich zuhause erwarben. Es wurde langsam ein lukratives Geschäft, sodass die Familie zum ersten Mal seit langer Zeit keinen Hunger mehr zu leiden hatte.

Damals war außerhalb des Dorfes ein Barackenlager eingerichtet, in dem deutsche Soldaten kaserniert waren. Sechs- bis siebenhundert junge Uniformierte, die unter der Aufsicht der Alliierten standen. Die Insassen hatten die Möglichkeit, sich zu bestimmten Zeiten frei im Dorf zu bewegen. Für ihre Verpflegung war die Gemeinde zuständig, aber da die Einwohner selbst nicht viel zu essen hatten, schaute die Ernährung dementsprechend mager aus.

Hildes Vater brachte deshalb immer wieder einige von den Internierten mit nach Hause und lud sie zum Essen ein. Einer davon war Josef, an den sich Hilde noch sehr gut erinnern konnte. An diesen jungen Mann vor so viel Jahren, der einige Male bei ihnen zu Tisch gesessen hatte!

Josef stellte Hilde nun seine Frau Maria vor, mit der er seit vierzig Jahren verheiratet war, und begann vom guten Essen, das er jedes Mal auf Besuch bei der Familie Gutleben bekommen hatte, zu erzählen.

Einmal hätte es sogar einen Hasenbraten gegeben. Maria fiel ihrem Mann ins Wort und erzählte, dass er immer wieder von diesem vorzüglichen Braten erzählt habe und dass er stets betone, sein ganzes Leben nie wieder so einen guten Hasen gegessen zu haben.

Oft hätten sich Josef und Maria vorgenommen, hierher zurückzukehren, um Hildes Eltern zu besuchen. Aber es hatte sich nie einrichten lassen. Erst heute! Sie hätten den Friedhof besucht und das Grab der Eltern ausfindig gemacht und von einer Friedhofsbesucherin ihre Adresse erfahren.

Während sie sich bei einer kleinen Jause und Tee bestens unterhielten, verging die Zeit wie im Flug. Hilde erzählte von ihren Eltern, die schon seit Jahren tot waren, und dass nur noch ein Bruder von ihr am Leben sei.

„Wie es eben im Leben so ist“, sagte Hilde etwas traurig, und während sich Josef und Maria, als es draußen schon dunkel wurde, zum Gehen vorbereiteten, holte Josef aus der Plastiktasche ein Stück Speck vom eigenen Hof im Schwarzwald, den jetzt sein Sohn weiterführte. Auch hatte er zwei Flaschen Rheinwein dabei und ein Kuvert mit Geld, für das Hilde eine Heilige Messe im Andenken an ihre Eltern lesen lassen sollte.

Sie war von dieser Geste so gerührt, dass sie mit ihren Tränen zu kämpfen hatte, während sie auf die großen abgearbeiteten Hände von Josef und Maria schaute.

Als sie sich voneinander verabschiedeten, vereinbarten sie, sich in wenigen Monaten wieder zu treffen. Die beiden hatten den Plan, ein paar Tage im Ort zu bleiben, wo Josef nach dem Krieg als Gefangener kaserniert gewesen war.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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