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Diethard Sanders
Replay 1848?
Essay

Wir schreiben das Jahr 1848. In den meisten Staaten wünscht man sich seit dem Ende der Koalitionskriege (1815) immer sehnsüchtiger, dass doch endlich die Menschen- und Bürgerrechte sowie Meinungs- und Pressefreiheit in den Verfassungen der Staaten installiert würden – allen voran in Frankreich, in den Gebieten des heutigen Deutschland, im Kaiserreich Österreich und in Italien, das damals noch ein politischer Flickenteppich ähnlich wie Deutschland war.

Was genau unter diesen Rechten und Freiheiten verstanden werden sollte, war von klugen Köpfen schriftlich längst festgehalten und in Form zahlreicher Petitionen den Regierungen überreicht worden, die sie jedoch abschmetterten, schubladisierten oder schlichtweg ignorierten. Sie taten weiterhin, was sie für richtig hielten: Sie bespitzelten, zensurierten, inhaftierten, bestraften und deportierten, um einer politischen Stabilität willen, die auf Entrechtung und Knebelung beruhte.

Schließlich erschien den Völkern die ganze Angelegenheit doch so dringlich, dass einige Hitzköpfe doch tatsächlich vorschlugen, man sollte eine Revolution veranstalten, denn freiwillig würden die Mächtigen ihre Forderungen wohl nie erfüllen. Das war natürlich eindeutig über die Stränge geschlagen!

Sofort wurden die aufmüpfigen Möchtegern-Revoluzzer von seriösen Vertretern des Zeitgeists in der Presse öffentlich zurechtgewiesen (ging alles glatt durch die Zensur), und zahlreiche Körperschaften wie etwa Handwerker-Gilden, Manufaktur-Arbeiter, Fabrikbesitzer, Schriftsteller, Kunstmaler, Ärzte, Musikschaffende, Studenten und Universitätsprofessoren sowie der Fachverband der rheinländischen Imker, um nur einige zu nennen, distanzierten sich in Kommunikees von solchen Ansinnen. Die Hetzer wurden ausgeforscht und für 30 Jahre in irgendeine Tropenhölle in den Kolonien deportiert. So blieb die Ruhe gewahrt. Denn Ruhe ist bekanntlich die erste Bürgerpflicht.

Und das darauf folgende Jahr 1849 sah die Völker noch immer in derselben Sehnsucht schmachten, und auch 1850, 1851 und viele viele folgende Jahre bis 2023. Kurzum: Wir würden so gut wie sicher noch immer auf Rechte und Freiheiten hoffen, die wir heute mit einer derartigen Selbstverständlichkeit für gegeben halten, dass nicht wenige Wähler (ach ja, das Recht auf freie, gleiche und geheime Wahlen gibt’s auch!) sie auf riskante Weise sogar aufs Spiel setzen.

Natürlich weiß man, wie die Geschichte in Wirklichkeit ausgegangen ist: Es gab die Revolutionen von 1848/49 tatsächlich, sie wurden zwar niedergeschlagen, aber immerhin dämmerte den Regierenden dann doch, dass sie so wie bisher nicht weitermachen konnten. Der militärische Sieg gehörte den Macht-Eliten, der moralische und strategische den Völkern (wenngleich vieles noch mit viel Geduld abgerungen werden musste).

Hätten also unsere Altvorderen einschließlich der Studenten und Universitätsprofessoren ihren Arsch nicht hochgebracht, dann stünde es heute aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich anders um uns. Oder glaubt man wirklich, man hätte uns all die Rechte und Freiheiten eines Tages freiwillig gewährt, weil wir sooo brav waren? Man kann nicht oft genug an den klugen Satz H.P. Taylor’s (1948) erinnern: Politik ist ein Spiel der Kräfte und nicht der Argumente. Das scheinen die Populisten von heute durchaus zu verstehen.


Und 2023?

Auch in unseren Zeiten haben Klimaforscher und Biologen bereits seit Jahrzehnten mit höchst überschaubarem Erfolg vor den katastrophalen Folgen gewarnt, sollten wir nicht aufhören, fröhlich CO2 in die Luft zu blasen, möglichst sämtliche Lebensräume des Planeten zu zerstören und uns hemmungslos zu vermehren.

Man hat manchmal gesagt, dass die Klima- und Öko-Krise für die Menschen zu abstrakt sei. Mittlerweile sollten die Auswirkungen aber auch dem letzten Idioten augenfällig sein, zumal diese Auswirkungen von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt dokumentiert werden. Aber was heißt das schon für einen hartgesottenen Querdenker, der die Verschwörung des elitären Wissenschaftler-Clans natürlich sofort durchschaut.

Wenn man aber ganze Landstriche nicht mehr bewohnen kann, weil es Wüsten geworden sind, oder weil es das ganze Jahr über immer wieder Unmengen regnet, ist es egal, ob man Bürgerrechte genießt oder nicht: Man muss ganz einfach weg. Wohin? Mir doch egal! Wirst schon ein Plätzchen finden!

Es ist höchst interessant, die heutige Reaktion auf die gewaltfreien Proteste der Klimaschutzbewegung zu beobachten. In einer Täter-Opfer Umkehr, die an Unverschämtheit ihresgleichen sucht, werden von einigen Politikern und bestimmten Kommentatoren die Aktivisten kriminalisiert, nur weil sie sich für ein Ziel einsetzen, das nicht nur ihnen (da könnte man ihnen wenigstens noch Egoismus unterstellen), sondern der ganzen Menschheit nützlich ist.

Worin aber wurzelt diese überreizte Reaktion von Teilen der Gesellschaft auf die Proteste? Mal nachsehen. . . und bald schon wird man in der Gehirn-Abteilung Unbegrenztes Wachstum – Effizienz – Funktionieren sowie deren Schwester-Institution Verdrängung – Realitätsverweigerung fündig.

Man hat uns Jahrzehnte lang nicht nur das Primat der Wirtschaft, sondern einer ganz bestimmten Art des Wirtschaftens (und des Erzeugens ganz allgemein) und des dafür nötigen egozentrischen Mindset und Lebensstils auf direkte und indirekte Weise ständig und von allen Seiten eingehämmert.

Verständlich, dass nun jegliche Perturbation solchen Denkens nur noch eine verstörende, ärgerliche Erfahrung sein kann. Immerhin könnte man um 30 Minuten zu spät zur Arbeit kommen, weil sich wieder ein paar Aktivisten angeklebt haben, und das passt nicht ins Bild des stets perfekten Ich und des stets effizienten Funktionierens von allen und allem.

Zum Syndrom ökonomistischer Egozentrik passt auch, dass anscheinend immer noch viele Personalchefs geradezu ratlos vor der überfälligen Tatsache stehen, dass junge Leute heute nicht nur leisten, sondern auch etwas von ihrem Leben haben wollen und dafür sogar Abstriche beim Gehalt oder bei den Aufstiegschancen in Kauf nehmen. Zumindest lässt sich eine gewisse Ratlosigkeit gegenüber dieser Erscheinung vermuten, wenn man sich die Anzahl der Zeitungsartikel zu diesem Thema anschaut. Es scheint hier Erklärungsbedarf zu bestehen.

Was aber noch viel sonderbarer ist: Wenn Hooligans wieder einmal ein halbes Fußballstadion verschrotten und sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern, dann vermisst man – gemessen an der angewandten Gewalt! – den entrüsteten Aufschrei aus der Politik. So etwas wird eher wie ein Naturereignis hingenommen, ähnlich einem Gewitter oder Schneesturm. Wer kommt da auf die Idee, mit dem Brustton moralischer Entrüstung zu fordern, dass man Fußballstadien doch einfach abschaffen und dass die Fußballspieler ihre Arbeitskraft doch auf konstruktive Weise zur Verfügung stellen sollten? Ich überlasse es der investigativen Findigkeit des Lesers, zu ermitteln, wieso derartige Ereignisse so unbehelligt durch das moralische Sieb unserer Gesellschaft fallen.


Demonstrationsrecht für Wissenschaftler

Im Jahr 2023 ist die Empfindlichkeit der Gradmesser der moralischen Entrüstung über Proteste und die mögliche Anwendung von Gewalt im öffentlichen Raum höchst selektiv. Zwar war bislang keine Zeit frei von Atavismen und moralischer Sektoralität, doch in einer Gesellschaft, die sich selbst vollmundig gerne als Wissensgesellschaft bezeichnet, sollte man doch erwarten, dass die Trennwände zwischen den moralischen Sektoren deutlich niedriger und weniger scharfkantig ausfallen.

Ins Bild dieser sektoralisierten Moral passt auch, dass bereits eine bloße Beteiligung von Wissenschaftlern an gewaltfreien Demonstrationen oder gar Protesten von nicht wenigen als unseriös und als ein Verstoß gegen die wissenschaftliche Neutralität angesehen wird.

Ein Wissenschaftler hat also seine Erkenntnisse abzuliefern und sonst das Maul zu halten. Nein, das muss er nicht! Denn Wissenschaftler sind ebenfalls Bürger und haben daher Bürgerrechte (Danke Ur-Ur-Ur-Ur-Opa!), worunter auch das Recht auf gewaltfreie Demonstrationen fällt, vor allem, wenn Gefahr im Verzug ist.

Vielleicht könnte man Wissenschaftlern in Zukunft ja die Bürgerrechte wieder absprechen und sie zwecks abgeschirmter Absonderung von Erkenntnis in neonbeleuchteten Legebatterien halten.

Es wird heute in einem für viele Gemüter offenbar mühseligen Erkenntnisprozess allmählich zugestanden, dass Menschen in ihrer Arbeit auch einen Sinn sehen wollen, der über das Gehaltskonto hinausreicht. Das gilt auch und besonders für Wissenschaftler. Denn sie sind zumeist überdurchschnittlich viel und sehr fokussiert arbeitende Menschen, was bei aller Hingabe an die Sache doch auch fordernd ist.

Hat man als Wissenschaftler daher das Gefühl, die Erkenntnisse, die man da ununterbrochen mit durchaus viel Arbeit erzeugt, landen sowieso umgehend auf dem Müllhaufen der Geschichte, dann sollte man schon verstehen, dass sich nach Jahrzehnten so etwas wie Verdruss einstellen kann – man fühlt sich unwillkürlich an die vergeblichen Petitionen erinnert, die an die Regierungen vor 1848 eingereicht wurden.

Da darf man dann auch als Wissenschaftler schon einmal brav bei einer Demo mitgehen. Aber selbst das wird von manchen als Verstoß gegen die wissenschaftliche Neutralität verurteilt. Kollege Müller, da habe ich Sie doch glatt auf einem Photo bei dieser . . . dieser Klima-Demo letzten Freitag gesehen. . . ich bitte Sie, wie konnten Sie nur so etwas tun?

Gewalt als Mittel der Konfliktlösung und Durchsetzung der eigenen Interessen abzulehnen ist grundsätzlich richtig und achtbar. Dennoch verbleibt da eine Frage, die mir keine Ruhe lässt: Hätte diese Gesellschaft in ihrer heutigen mentalen Verfasstheit, die vor allem auf kulturell anerzogener Egozentrik beruht, jemals den Mumm, wie 1848 für ein kollektives Ziel zu kämpfen? Das ist zu bezweifeln. Denn es fehlt ja in anscheinend weiten Teilen unsrerer durchkonditionierten Population sogar das Verständnis für gewaltfreien Protest für ein noch viel größeres und umfassenderes Ziel: das Überleben der Menschheit!

 

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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