Christoph Themessl
Ist Armut eine Krankheit?
Notizen

Bier und die Sozialdemokratie gehören zu den größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Das ist nun einmal mein Satz, mag man ihn kritisieren oder um einige Punkte wie Desinfektionsmittel und Antibiotikum erweitern.

Um den Fluss des Biers – wenn auch unverschämt teuer geworden – brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Aber wie ist es um die Sozialdemokratie und ihre wichtigste Voraussetzung, die Empathie für individuelles Schicksal, bestellt?

Der Fluss der sozialen Liebe, sofern nicht staatlich und juristisch zumindest auf Notstandslevel verordnet, scheint immer bedrohlicher ins Stocken zu geraten.

Hinter individueller Armut in volkswirtschaftlich reichen Ländern (und das sind Richtung Norden und Westen alle EU-Staaten) steckt fast immer irgendein seelisches Leiden. Zwar sind keineswegs alle derart Leidenden arm, aber nahezu ausnahmslos alle Armen (reicher EU-Staaten) sind seelisch krank.

Alkoholismus, Depressionen, Angststörungen – um nur die gängigsten existenzbedrohlichen Zustände zu nennen – begleiten das Schicksal der Armen zumeist ein Leben lang.

Allerdings hapert es nicht selten bei der Beweisführung der Erkrankungen – oder bei ihrer rechtzeitigen Erkennung –, so dass die davon Betroffenen von den Karteien und Dateien des Staatsapparates oftmals wie normale Gesunde geführt werden.

Besteht bei ausgeprägter paranoider Symptomatik bei Ärzten wie bei Laien weitestgehend Einhelligkeit über die Unfreiwilligkeit, Nicht-Selbstverantwortlichkeit des Betroffenen für sein Leiden – und infolge daraus auch für seinen sozialen Abstieg und folglich für Armut –, so verhält es sich bei den weiter oben genannten Zuständen, die bei weitem in der Überzahl sind, vollkommen anders.

Eine bunte Menge von Symptomen, die nicht einmal von den Experten eindeutig definiert werden können, irritiert das Urteil bei den Laien (der Bevölkerung) über die Betroffenen und macht ihnen nicht selten zu einem persönlichen Vorwurf, was an sich Teil des Leidens, sprich ein Symptom ist: Faulheit, Desinteresse, körperliche Vernachlässigung, Mutlosigkeit, Wankelmütigkeit u.v.m. Solche Symptome zweiten Ranges werden gerne mit Ursachen oder Charaktereigenschaften verwechselt.

Der wissenschaftliche Anspruch der Messbarkeit (nebst einer fragwürdigen Nomenklatur) und die tatsächliche Nicht-Messbarkeit psychischer Erkrankungen führen in Kombination zu einem Vakuum seelischen Leidens verkrachter Existenzen, die beim Laien seit langem nicht nur einen Verdacht gegen die Wissenschaftlichkeit der zuständigen Disziplinen, sondern zum Leidwesen der Betroffenen auch gegen die Realität ihrer mysteriösen Krankheit erwecken. Von daher erfolgt dann auch die Häme einer gegebenenfalls selbst zu verantwortenden Armut.

Körperlich Kranke, insbesondere die definitiv schwer Behinderten, sind vergleichsweise zu beglückwünschen, da Rollstühle, Prothesen, Krücken und dergleichen auch vom größten Ignoranten nicht als Mimikry oder Simulation interpretiert werden können (der Gegenbeweis wäre zumindest leicht erbringbar).

Dass allerdings auch sie – selbst körperlich Schwerbehinderte – in einer Zeit und in Ländern des breiten Wohlstandes – welche Geld genug haben, gegebenenfalls Milliarden an Millionäre auszuschütten – von Verarmung bedroht sind, ist wiederum ein politisches oder eigentlich ein moralisch-ethisches Versagen der letzten Jahrzehnte, dessen Schande die jeweiligen Staaten treffen sollte, die alle so schwer einordenbaren Kranken, so darf man konstatieren, in etwa gleich arm machen.

Besinnen wir uns also zumindest als Bürger und Privatpersonen auf die größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation und bringen den Strom sozialdemokratischer Empathie wieder ins Fließen.

Sei es auch nur darum – wenn uns sonst nichts daran liegen sollte –, dass das teure Bier wohlverdient ist und wieder besser schmeckt.


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Christoph Themessl

Christoph Themessl, Dr., geb. 1967 in Innsbruck, ist Schriftsteller, Philosoph und Journalist. Er arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und war mit seiner Firma PR-Zeitungen Themessl als Magazin-Produzent fünfzehn Jahre lang selbständig. Zu seinen Publikationen zählen: „Der Tod kann warten“ (Roman; 1997), „Bewusstsein und Mängelerkenntnis; Philosophische Psychologie für die Praxis“ (studia Verlag, 2013), „Als die Seele denken lernte“ (studia Verlag, 2016) und „Sinn- und Sinnlosigkeit. Die Entscheidung des philosophischen Praktikers“ (LIT Verlag, 2021). Themessl betreibt in Lans eine philosophische Praxis namens „Safe House – das Sorgendepot“ und arbeitet in der Behindertenhilfe des Landes Tirol.

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