Diethard Sanders
Kurze Betrachtung über den Untergang
2. Teil:
Ein Un-Untergang

Im Anschluss an den ersten Teil dieser Betrachtung kann nun also gefragt werden: Was geht denn eigentlich unter, wenn man das Wort Untergang verwendet? Bei einem lecken Schiff ist ziemlich klar, was untergehen wird, bei einer Zivilisation aber nicht so ganz. 

Ich möchte hier auf einen besonders markanten Fall hinweisen, bei dem das Wort Untergang meist in renaissancehafter Pose lustvoll-sentimental verwendet wird, und doch um nichts weniger falsch ist, nämlich der gewissermaßen nicht geglückte Untergang Roms, ein Un-Untergang sozusagen. 

Noch immer wird in den Schulen der Untergang des römischen Reiches mit der Jahreszahl 476 in Verbindung gebracht. Dabei gibt es vielleicht kein anderes Reich, das so wenig untergegangen ist, wie dieses. Zuerst einmal zwei triviale Feststellungen, nämlich dass im Jahr 476 die weströmische Regierung einfach die Truppen nicht mehr bezahlen konnte, und dass sich im gleichen Jahr das oströmische Reich bester Gesundheit erfreute und immer noch stand wie ein Monolith.

Die Auflösung Westroms aber kam alles andere als unerwartet. Bereits die ungestrafte Plünderung Roms im Jahre 410 (als das Reich also offiziell immer noch stand) durch die Westgoten hat allen Bewohnern des Reichs eindringlich vor Augen geführt, wie die Dinge inzwischen gelagert waren. 

Die sogenannten Barbaren – vor allem die Westgoten, Vandalen und Sueben – waren längst nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in der Politik zu ebenbürtigen Gegnern gereift. Also wussten sie schon mindestens zehn Jahre vor dem Datum 476 Bescheid, dass Westrom aus dem allerletzten Loch pfeift, und richteten ihre Politik danach aus. Westrom? War da was? 

Dabei scheint es den Barbaren nicht um die Zerstörung Westroms gegangen zu sein, nein, die wollten einfach in Frieden und Ruhe leben. Als die weströmische Regierung schließlich den Staatsbankrott erklärte, erhob niemand lautes Siegesgeheul. Man war sich bewusst, dass dies eine empfindliche Störung des prekären politischen Gleichgewichts war, die neue Unbill auf den Plan rufen konnte. Wie es denn auch kam.

In Italien bekam man vom Senator in Rom bis zum Bauern am Land im eigenen Leben erstmal ziemlich wenig von diesen Änderungen mit. Der Senat trat weiterhin zusammen, als gäbe es das Reich noch. Umso mehr, als sich der Ostgote Theoderich der Große als neuer Herr Italiens bemühte, römischer als die Römer zu sein und eine Politik der Anbiederung gegenüber Ostrom betrieb – ganz einfach, weil vielleicht mit Ausnahme der Hunnen alle Barbaren Rom nicht nur bekämpft, sondern vor allem bewundert und beneidet hatten, und weil er an der Ostflanke seines Reichs Ruhe haben wollte. 

In Italien herrschte derweil immer noch Frieden. Hätte man die Leute auf der Straße gefragt, was das Jahr 476 bedeutet, so hätte man wohl nur selten eine Antwort bekommen. Im Jahr 535, dem Jahr, als die wirkliche Katastrophe hereinbrach, trat der römische Senat immer noch regelmäßig zusammen. Die hätten vielleicht gefragt: Untergang? Na gut, wir haben Gebiete verloren, aber schauen sie, es gibt uns noch.

Im Jahr 535 überfiel Ostrom Italien. Kaiser Justinian hatte seine besten Feldherrn aufgeboten und dachte, die Aufgabe wäre schnell erledigt. Aber die Ostgoten wehrten sich erbittert, und beide Seiten agierten mit einer Politik der verbrannten Erde. 

Zugleich mit dem Krieg trat eine Pestepidemie und andere Seuchen auf, und die Asche von Vulkanausbrüchen in Island verdunkelte jahrelang die Sonne, sodass es zu Hungersnöten kam. Erst jetzt war Italien in einen für alle unübersehbaren Untergang hinein geraten. 

Als die Feldherrn nach nur mässigem Erfolg endlich abberufen wurden, die Seuchen durchgezogen waren und die Sonne wieder richtig schien, war das Land nach 18 Jahren Katastrophe großteils verwüstet. Jetzt erst begann die lange Zeit der politischen Zerstückelung der Halbinsel. 

Und dennoch: Rom war und blieb das strahlende Vorbild. Besonders die Kirche hatte die hierarchischen Strukturen des Reiches übernommen und lavierte auf diese Weise erfolgreich durch die unruhigen Zeiten. 

Doch auch die weltlichen Herrscher Europas bemühten sich nach Kräften, wenigstens einen Abglanz der Organisation, der Rechtssicherheit und des Prestiges des römischen Reiches herzustellen, versinnbildlicht in der Idee des Heiligen Römischen Reichs. 

Und nicht zuletzt blieb die römische Antike in der Erlernung des Latein in den Klosterschulen nach klassischen Literatur-Texten, in der theologischen Praxis und in der Rechtspflege ohnehin stets präsent. Rom hat in den Köpfen stets weiter existiert. 

Erst 1806 wurde das Heilige Römische Reich offiziell für beendet erklärt. Die Strahlkraft dieses Reiches, vereint mit dem Christentum, war einer der stabilisierenden Faktoren über das ganze Mittelalter hindurch, diesem oft verspotteten Zeitabschnitt, dem unter großen Schwierigkeiten und mit viel Improvisation eine gewaltige Leistung gelungen war – nämlich das vor allem zivilisatorische Vakuum abzufangen, das nach der Auflösung Westroms drohte.

Blendet man ins Heute zurück, so verbleibt eine Frage: Könnten wir im Falle unseres politischen Untergangs Weltbilder, politische Konzepte und Strukturen hinterlassen, die das Zeug haben, für über 1000 Jahre als Vorbild zu dienen? 

Was alles könnte man von unserer jetzigen Zivilisation subtrahieren, ohne dass eine mögliche große Idee, ein Wollen oder gar eine Vision, die da vielleicht im ganzen modernen Staaten- und Wirtschafts-Getriebe dennoch herumgeistern mag, Schaden nehmen würde? 

Kurzum: Was wollten wir denn eigentlich? Und hätten wir es geschafft, dieses Wollen (sofern es überhaupt gelungen ist, es zu formulieren) in eine Form zu bringen, in der es als umsetzbares Vorbild für die Zukunft dienen könnte?

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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