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Diethard Sanders
Zum hundertsten Geburtstag (26.05.23)
In memoriam Arno Gruen
Essay

Ich war noch ein Student als ich in einer Buchhandlung auf ein 1987 soeben neu erschienenes Werk stieß: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität.

Das sprach mich sofort an. In jenen Jahren war die Alltagssprache bereits merklich von der Phraseologie des Neoliberalismus durchseucht, und ich hatte zu ahnen begonnen, welche Verwüstungen ein unter wachstumsdogmatischem Imperativ definiertes Normalsein anrichten kann und wer jene sind, die sich zu Hohepriestern einer von ihnen definierten Realität aufschwingen. Das Buch stammte vom Psychologen Arno Gruen (1923-2015).

Ich werde keine Inhaltsangabe im Gymnasial-Stil des zitierten Werks liefern. Hier geht es um die Frage, wieso die Menschheit ganz offensichtlich außerstande ist, sich ihrer Psychopathen zu erwehren (99.9999% Männer). Wer wissen will, weshalb hier mit einem Male das Thema Psychopathen erscheint, muss sich der Mühe unterziehen, das Buch zu lesen.

Die Frage lautet jedenfalls: Wie geht das, dass einzelne Psychopathen zuweilen eine Macht erlangen können, die es ihnen erlaubt, mit einem Federstrich, ja, einer bloßen Nebenbemerkung in einem Gespräch, über Leben und Tod entscheiden zu können?

WIR verleihen ihnen diese Macht. Denn der Psychopath arbeitet immer mit dem gesellschaftlich allgemein Anerkannten, er arbeitet mit einer Normalität, die sich in letzter Konsequenz ausschließlich als Normierung und Gleichschaltung versteht, und er nutzt und schürt Ängste, Ressentiments und gesellschaftlich eingefleischte Vorurteile, um an Macht zu gewinnen.

Deshalb werden Psychopathen oft genug in freien, gleichen und geheimen Wahlen von einem vorher entsprechend präparierten Volk immer wieder gewählt – so oft und mit solchen Mehrheiten versehen, dass irgendwann auch für das Wahlvolk alles zu spät ist, selbst wenn die letzte Wahl eigentlich gar keine Mehrheit mehr ergibt. Dann kommt eben nach dem ersten ungläubigen Augenreiben das große Wegducken, Maulhalten und Mitschreien. Wenn man Glück hat. Denn in diesem Stadium hilft dann nur noch Glück.

Wenn der Psychopath schließlich nach Maßgabe seines Wahns wütet, gibt es kaum noch ein Mittel dagegen. Längst hat er die Schlüsselpositionen und die Nachrichtendienste unter  Kontrolle, auch wurde die Verfassung dementsprechend geändert, nach der Befragung eines hinreichend präparierten Volkes, das vor lauter Verzagtheit ob all der beschworenen, inneren und äußeren Bedrohungen beschlossen hat, schlichtes und klares Denken zu verwerfen.

Dies verweist auf eine diagnostische Eigenschaft des Psychopathen: Er selbst fühlt nichts, weiß aber, wie man Gefühle imitiert, und vor allem: wie man sie manipulieren kann. Deshalb fallen die Leute ja immer wieder auf ihn herein. Das sagt einer, der es darlegen kann.

Alleine das politisch fast unübertroffen einfallslose 20. Jahrhundert (1914 bis 2007) liefert genügend Beispiele für mächtige Psychopathen, ja, auch im Westen, und auch heutzutage, hier und nun und jetzt. Die Mittel, um die Macht dieser Typen zu brechen sind eigentlich sehr leicht und kostenlos zu haben – Ungehorsam, Verweigerung, Widerborstigkeit, fehlende Gefolgschaft, am besten aber, sie gar nicht erst an die Macht kommen zu lassen.

Falsch liegt, wer glaubt, Ungehorsam muss sich stets in Aktionen äußern, die direkt ins Gefängnis führen. Oft genügt es, in bestimmten Situationen hörbar still zu bleiben – nicht mit dem Schwarm dasselbe zu feiern, dasselbe toll zu finden, oder dasselbe zu proklamieren, sich nicht in vorauseilendem Gehorsam zu ergehen und nicht einfach das runterzuleiern oder dem sogleich dienstfertig zu folgen, was allgemein anerkannt oder wenigstens politisch korrekt ist.

Denn mit stets Demselben, dem bereits Gehabten, dem Wie-Immer-Schon, mit diesem notorischen Ganz-Ganz-Sicher-Sein-Wollen erzeugt man höchstens: genau, das Selbe, das bereits Gehabte, das Wie-Immer-Schon, das sich immer mehr verhärtet, bis die eigenen Füße einbetoniert sind und man sich nicht mehr von der Stelle regen kann.

Fehlende Gefolgschaft kann auch bedeuten, sich nicht bei jedem sozialen Netzwerk einzuloggen, das auf dieser Welt erhältlich ist – der Eigentümer könnte sich immerhin wie ein Wahnsinniger aufführen, gegen den die bisherigen Rechtssysteme kein Mittel haben, weil sie in einer Zeit entstanden sind, in der solche Leute nicht die technischen Mittel hatten, sich derartigen Einfluss zu verschaffen.

In der Erkenntnis, dass die Welt sich nicht nur einer ökologischen, sondern dadurch auch einer sozialen, kulturellen, zivilisatorischen und politischen Katastrophe nähert, hat Gruen im Alter mehrere kurze programmatische Texte zum manchmal durchaus nötigen und heilsamen Ungehorsam verfasst, die – schaut man sich die herrschende Mentalität an – Politikern aller Länder, auch der westlichen, sowie vielen Unternehmern eher zuwider sein dürften (wobei zur Ehrenrettung der letzteren angefügt sei, dass manche aus dieser Riege längst kapiert haben, was eigentlich los ist und sich dementsprechend umzustellen versuchen).

Klar, Ungehorsam macht die Dinge erstmal nur noch komplizierter, als sie von den Gehorsamen ohnehin schon mit stiller Schadenfreude oder, noch schlimmer, in guter Absicht eingerichtet worden sind. Ungehorsam ist mühselig und eine Behinderung der stets dem Allgemeinwohl so förderlichen Aktivitäten, und im schlimmsten Falle zwingt er zum höchst unwillkommenen Überdenken der eigenen Position und zum Argumentieren.

Was für ein Entgang für das Bruttosozialprodukt! Denn man will ja stets nur das Beste, und das ist nun mal das Normale und wie bisher Gehabte, das sich an den Maßgaben der Realität ausrichtet, und die Realität ist so, wie sie eben ist und behaupteter Weise immer schon war.

Man muss kein gestandener Psychopath sein, um vermittels einer Haltung, die auf einer ankonditionierten Auffassung von Normalität und Realismus beruht, Unheil mit zu verursachen. Einfaches Nicht-Wahrhaben-Wollen, schlichtes Wegschauen sowie eine Kaskade vieler kleiner Egoismen reichen dazu völlig aus.

Und bei den Wahlen wählt man die oder den, die oder der durch Gebärde, Wort und verschleppte Tat auf angenehmste Weise vermittelt, dass alles längst nicht so eilig sei, wie manche Hektiker von anderen Parteien, die doch nur Nein sagen und Unruhe stiften wollen, vorgeben. Man kann das alles ganz ruhig und normal abwickeln, und diese Ruhe und Ordnung braucht es auch, denn die Realität ist nun mal ein Gebilde des Machbaren, und das Machbare ist eben nur mal nur das Machbare, und das hat oftmals recht enge ideologische Grenzen.

Und wenn die Herausforderungen nicht in der kommenden Legislatur-Periode angegangen werden können, dann eben in der nächsten oder vielleicht der übernächsten. . .

Drastische Änderungen auf etwas drastischere Weise einzufordern ist aber nicht immer ein Zeichen von psychischer Erkrankung oder sonst welchen mentalen Abnormitäten: siehe die Schriften Arno Gruens. Gerade in Europa leben wir wie auf einer Insel immer noch in relativer Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, weil seit 1789 immer wieder drastische Änderungen eingefordert wurden, mit Mitteln, die im heutigen Polit-Sprech wohl als im höchsten Grade unkonstruktiv bezeichnet würden. Wäre es anders gegangen?

Es war damals wie heute: Erst als nicht konstruktive Mittel zur Einforderung von Änderung massiv eingesetzt wurden, reagierte man. Denn Politik ist ein Spiel der Kräfte und nicht der Argumente (Taylor, 1948) und das gilt heute genauso wie damals. Und wenn man sich anschaut, wer damals aller an dieser rabiaten Einforderung beteiligt war: Studenten, Universitätsprofessoren, Journalisten, Kulturschaffende aller Genres, Wirtschaftstreibende vom Klein- zum Großunternehmer et cetera – meist ehrbare Bürger also. Das sei jenen heutigen ehrbaren Bürgern gesagt, die für die Aktionen der Last Generation sofort laut nach strafrechtlichen Folgen rufen, obwohl die Proteste (noch) gewaltfrei sind.

Jetzt könnte man einwenden: Aber damals ging es doch um grundlegende Bürgerrechte, um Meinungsfreiheit, um Gleichheit vor dem Gesetz und das Wahlrecht und weitere Dinge, die wir heute meist bedenkenlos nicht mehr als Errungenschaften, sondern als Selbstverständlichkeiten hinnehmen.

Die Antwort: heute geht es eben um etwas anderes, aber ebenso Wichtiges. Angesichts der Vorgänge, die die Grundlagen unseres Überlebens immer schneller wegzufressen beginnen (denn begonnen haben diese Vorgänge bereits, und fortsetzen werden sie sich), und die keinesfalls nur das Klima betreffen, gilt es endlich zu begreifen, dass jetzt sogar noch viel mehr auf dem Spiel steht als damals.

Damals wurden Bürgerrechte eingefordert, aber die Welt war ökologisch noch halbwegs intakt. Wenn aber ständige Dürren die Hälfte Mittel- und Südeuropas unbewohnbar machen und die Landwirtschaft großteils zusammenbricht, könnten Bürgerrechte eher zum Nebenthema verkommen.

Gerade ehrbaren Bürgern, die sich zumeist auch etwas auf ihre Bildung zu Gute halten, sollte das doch irgendwann einmal in den Kopf hineingehen. Oder besteht die Bildung nur aus dem getreuen Nachbeten von allgemein anerkannten Stehsätzen? Wer meint überhaupt was, wenn er das Wort Bildung in den Mund nimmt? – ein zu umfangreiches Thema, um es hier abzuhandeln.

Immerhin gilt angesichts der heutigen Möglichkeiten, sich auch aus seriösen Quellen zu informieren, die übliche Entschuldigung des ehrbaren Bürgers nicht mehr, dass er in seiner Ausbildung immer nur das eine Bild von Normalität und Realität eingehämmert bekam. Schon klar, sich selbst mit einer neuen und bisher ungewohnten Materie zu befassen, kann ganz schön anstrengend, manchmal sogar erschreckend sein. Aber wie lautet doch ein Stehsatz des ehrbaren Bürgers, den er sofort parat hat – zumindest, soweit es um Belange geht, die in sein bisheriges Bild der Realität passen: Es ist nie zu spät!

Wie schön und erleichternd anzuschauen ist da doch jemand, der ruhig und in kühler Normalität, in glattgestriegelter Ansprache das, was da stattfindet und was noch kommen wird, im Spiegel der Realität und des Machbaren auf eine Dimension reduziert, die alles wie ein rein technisches Problem erscheinen lässt; was auch indirekt mitteilt, dass doch bitte die Wissenschaftler jenen Job tun sollten, dem er oder sie sich entzieht, und dass doch bitte die Wissenschaftler das tun sollten, was er oder sie konsequent verweigert, nämlich die Dinge unbequemerweise zu Ende zu denken.

Letzteres macht die Wissenschaft seit vielen Jahren bravourös, doch komischerweise finden sich in den Reihen der Normalen und der Realisten, für die Machbar ein Synonym für gemach-gemach geworden ist, zu wenige, die das zur Kenntnis nehmen wollen. Sie bleiben lieber der Normalität verhaftet. Und das beruhigt so schön, dass man sie wählt, und wieder wählt, und wieder wählt, und immer wieder wählt. Demokratische Wahlen als Groß-Veranstaltung der Verdrängung, gewonnen von jenen, die am überzeugendsten die Hoheit über die Realität erheischen.

Und dann protestieren Bauern, weil sie mehr Subventionen für das immer teurere Wasser zur Herstellung von Lebensmitteln benötigen. Wie demütigend ist das doch für den Geist des Fortschritts: jetzt muss man sich doch glatt Gedanken über so etwas Triviales wie die Ernährung der Bevölkerung machen, und das mitten in Europa! Und wo am Wahlzettel haben denn diese Bauern trotz jahrzehntelanger Warnungen ihr Kreuzchen gemacht? – Von genau diesen Regierungen fordern sie nun auch noch die Subventionen.

Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass alle jene, die Wahlen gewinnen, automatisch Psychopathen sind. Zum Glück aber auch! Doch als Wähler sollte man stets kritisch, ja sogar misstrauisch bleiben. Zuneigung, Verehrung, Treue trotz moralischer Zweifel oder gar Liebe sind die falschesten Gefühle, die man einem aktiven Politiker gleich welcher Couleur entgegenbringen sollte.

Wer das nicht aushält, taugt bestenfalls für einen Diktator, denn die wollen alle verehrt und geliebt werden. Solche Empfindungen sollte man sich – falls überhaupt angebracht – aufsparen: für die Zeit danach.


Literatur:
Gruen, A., 1987, Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität. Kösel Verlag, München, 216 pp.
Gruen, A., 2014, Wider den Gehorsam. Klett-Cotta, Stuttgart, 97 pp.
Gruen, A., 2015, Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. Klett-Cotta, Stuttgart, 205 pp.
Gruen, A., 2015, Wider den Terrorismus. Klett-Cotta, Stuttgart, 88 pp.
Taylor, A.J.P., 1948, The Habsburg Monarchy 1809–1918. Penguin Books. Clays Limited, Saint Ives Place, 304 pp.


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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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