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Diethard Sanders
Die größten Erfindungen der Menschheit
Satire

Vor vielleicht bereits 300.000 Jahren ist der Homo sapiens erschienen, der sich bekanntermaßen durch eine im Vergleich zum restlichen Tierreich überdurchschnittliche Hinterlistigkeit und ausgiebigen Werkzeug-Gebrauch auszeichnet.

Nach einer Anfangsphase, während derer die Innovationsfreudigkeit eher langsam Fahrt aufnahm, kam man so richtig auf den Geschmack: die Gesellschaften wurden größer und komplexer, Sesshaftigkeit und Ackerbau wurden salonfähig, aus Auseinandersetzungen mit Nachbarn wurden immer längere und größere Kriege, während man gerade deswegen weiterhin unverdrossen ersann und entwickelte, baute und bastelte.

Dennoch erschienen erst – wenn ich mich recht erinnere – vor etwa 35 Jahren die ersten Rollkoffer auf den Flughäfen. Das ist höchst erstaunlich! Denn rein von den technischen Möglichkeiten her hätte man Rollkoffer bereits in der frühen Bronzezeit herstellen können.

Ich vermute, dass die im Vergleich zur Dauer der vorherigen Zivilisationsgeschichte verblüffend späte Erfindung des Rollkoffers darin begründet ist, dass der Mensch überflüssige Mühen geradezu unfassbar fatalistisch erträgt, so lange diese Mühen auch den geliebten Nächsten betreffen.

Ich schleppe, du schleppst, wir schleppen, sie schleppen. Längst schon ist es schwierig geworden, überhaupt noch einen Koffer zu finden, der keine Rollen hat. Solche Stücke sind mittlerweile am Dachboden oder in Museen für Technikgeschichte gelandet, als abschreckendes Beispiel: Schau, mein kleiner Schatz, mit so was ist noch dein Opa auf Reisen gegangen. . . schlimm, nicht?“ Und man atmet erleichtert auf ob der Gnade der späten Geburt.

Oft sind es ja überhaupt eher kleine, anfangs unscheinbare Ideen, die sich als der eigentliche Kitt des zivilisatorischen Zusammenhalts erweisen. Hierunter sei auf drei Erfindungen hingewiesen ohne die, wie ich behaupte, unsere Welt wahrscheinlich längst schon sang- und klanglos zusammengebrochen wäre.

Da wären zum Ersten die post-it Zettelchen zu nennen. Sie wissen schon, das sind diese kleinen, zumeist hellgelben Zettel mit einem Kleberand. Man schreibt was drauf – etwa: Tommy anrufen, ÖFAG, Jahresbericht, MS – review? – oder ähnliche kryptische codes.

Dann klebt man den Zettel auf den Computer, oder auf den Tisch, oder auf den Drucker, oder auf den Badezimmerspiegel oder auf den Hintern oder wohin sonst noch und wähnt sich in Sicherheit. Das wird man nun nicht vergessen, denn der Zettel erinnert einen jedes Mal, wenn man ihn zufällig anschaut.

Bis man eine E-mail bekommt mit dem Hinweis, dass der Jahresbericht eigentlich schon vor zwei Wochen fällig gewesen wäre. Dann sucht man zuerst den post-it Zettel und findet ihn in braver Pflichterfüllung immer noch am Rand des Computerbildschirms kleben. Man hatte sich schon so an ihn gewöhnt, dass man ihn nicht mehr wahrnahm. Dennoch möchte man ohne post-it nicht mehr leben.

Die zweite Erfindung, die unsere Zivilisation in einem noch viel wörtlicheren Sinne zusammenhält ist die foldback Büroklammer, wie sie fachlich richtig heißt. Ein Blatt aus kräftigem, schwarzen Federstahl ist zu einer Art Maul geformt, das man vermittels zweier beweglicher Hebelchen durch Fingerdruck öffnen kann, um dann in diesem offenen Maul Dinge einzuklemmen, die wenigstens vorübergehend zusammengehalten werden sollen, zumeist ein Stapel aus bedruckten Seiten, wie etwa ein Manuskript. Da der Federstahl der Klammer wirklich stark ist, bleiben die Seiten verlässlich zusammengehalten.

Das ist ein Gegensatz zur althergebrachten Büroklammer, die schwächer ist und sich zudem ständig an allem Möglichen unerwünscht unterhakt und sich verheddert. Da die foldback so viel praktischer und einsatzstärker ist als die normale Büroklammer, ist sie drauf und dran, letztere endgültig zu verdrängen. Ich habe noch einen Vorrat an alten Büroklammern aus früheren Tagen. Manchmal schenke ich einem jüngeren Kollegen oder einer Kollegin eine davon als eine Art Vintage Souvenir. Bei besonderen Leistungen gibt’s zwei.

Es gibt die foldback in vielen verschiedenen Größen, und man kann damit beileibe nicht nur Papier zusammenhalten. Das macht sie ja erst so richtig wertvoll. Fast alles, was zusammengehalten werden soll, aber mit der Möglichkeit, diesen Zusammenhalt gegebenenfalls auch rasch wieder aufzulösen, kann mit foldbacks erledigt werden – wie etwa Zeltbahnen oder Schottenröcke. Folgerichtig tauchen sie immer öfter an Stellen und in Kontexten auf, wo man früher alles, nur keine herkömmliche Büroklammer erwartet hätte.

Vermutlich gibt es irgendwo im hintersten Weltall ein Ende, an dem beide Seiten der Raumzeit des Universums ein wenig aufgerafft sind und von einer gigantischen foldback zusammen gehalten werden.

Zuletzt und zum dritten soll hier endlich jene Erfindung eine kurze Würdigung erfahren, die in den Lobtiraden auf den Fortschritt oft stillschweigend übergangen wird, die aber für den psychisch intakten Fortbestand der zivilisierten Menschheit längst unerlässlich geworden ist: der Ohrstöpsel.

Ohrstöpsel können einzeln oder paarweise getragen werden, einer pro Ohr.
Gründe, sich das Ohr zu verstöpseln gibt es verschiedene. Es kann medizinisch angezeigt sein, etwa bei Gehörgang-Entzündungen. Es kann auch mit der Absicht erfolgen, ein empfindliches Ohr vor Wind und Kälte oder Eindringen von Staub zu schützen.

Der weitaus häufigste Anwendungsfall allerdings ist der: sich vor Lärm respektive unerwünschten Geräuschen und Klängen zu schützen.

Man möchte meinen, dass der Lärm mit der Erfindung des Explosionsmotors und des elektronischen Verstärkers in die Welt gekommen ist. Wer aber einmal einen Fiaker durch eine enge kopfsteingepflasterte Gasse hat rattern hören, der weiß, dass Verkehrslärm zumindest im Prinzip kein reines Privileg des Benzinozäns ist.

Was die neuen Zeiten allerdings vor den guten alten auszeichnet, ist das mögliche Ausmaß von Heftigkeit, Permanenz und Pervasivität des Lärms.

Da hat sich also der ruheliebende Herr Forstenberg nach einigem Sparen und Aufnahme eines Kredits endlich sein einzeln stehendes Haus im Grünen gekauft, nur um festzustellen, dass sein Anwesen trotz über 10 km Entfernung vom Flughafen vor allem am Wochenende mit reichlich dröhnendem Lärm von Flugzeugen im Sinkflug oder – schlimmer noch – im Steigflug bestrichen wird. Die Lösung: Ohrstöpsel.

Wie gesagt, die technischen Möglichkeiten zur Lärmerzeugung sind heute entschieden ausgereifter als damals. Die Wahrscheinlichkeit unerwünschten Lärms steigt mit zunehmender Verdichtung der Besiedlung immer weiter, vor allem, da auch die Lärmquellen immer vielfältiger und durchdringender werden.

Dies gilt besonders für die Stadt. Da gibt es zum Beispiel die sommerliche Studentenparty, die, am großen Balkon im Hinterhof ausgetragen, nicht nur für Grillschwaden, sondern vor allem für einen mit den Nachtstunden und dem Alkoholgehalt zunehmenden Lärmpegel sorgt. Aber das gönnt man den jungen Leuten ja gerne, die es heute sowieso viel schwerer haben als wir damals – man drückt sich mit gekonntem Dreh die Stöpsel rein, schlummert sanft und steht dann wohlausgeruht wieder auf, wenn der letzte Studi endgültig das Handtuch geworfen hat.

Oder die neuen Mieter in der Wohnung genau über einem, die aus unerfindlichen Gründen stets nach 20 Uhr den Umbau ihrer Behausung fortsetzen. Das ist die erhöhte Schwierigkeitsstufe: denn Hämmern oder Schlagbohrer lassen sich auch mit den derzeit besten erhältlichen Ohrstöpseln nur sehr ungenügend vom Trommelfell fernhalten. Da gibt es nur eines: nochmals rein in die Kleider und rauf zu den lieben neuen Nachbarn und sie darauf aufmerksam machen, dass es inzwischen elf Uhr nachts ist und man zu schlafen gedenkt.

Worauf die neuen Mieter sich als akustische Autisten outen, die sich jedes Mal baff erstaunt zeigen: Ach soo, das hört man sooo gut runter, das wussten wir doch nicht, ach so, ach so . . . mit dem Erfolg, dass sie dann, wenn man sich wieder im Bett eingekuschelt hat, noch etwa zwei Stunden weiterhämmern, aber zugegebener Maßen weniger herzhaft.

Immerhin: Die Ohrstöpsel tun ihren Dienst und im Verein mit dem sanfteren Hämmern fällt man gegen zwölf Uhr nachts in den Schlaf des Gerechten.

Doch es gibt eine Steigerungsstufe der urbanen Lärmbelästigung, die von Städten bis hin zu ansonsten unverbauten Landschaften auftreten kann: das Hotel. Es spielt keine Rolle, wie viele Sterne das Hotel hat, zwei, vier oder acht. Es ist immer laut. Vor allem in der Nacht. Auch Vielreisende, die gewohnheitsmäßig in 4- und 5-Sternehotels logieren, bestätigen, dass kein Utensil für die angenehme Nachtruhe so wichtig ist wie die Ohrstöpsel. In gut geführten Häusern bekommt man zusammen mit der Badezimmer-Ausrüstung auch gleich ein Paar davon diskret auf die Etagère gelegt.

Den tiefsten orcus gastronomisch induzierter Lärmbelästigung erreicht allerdings der, der in einem Hotel schläft, oder schlafen muss, das vorwiegend von Italienern in Sommerfrische bevölkert ist. . . dieses Volk, das ich aus mir unbekannten Gründen trotzdem liebe, würde sogar das sprichwörtliche Murmeltier binnen einer Stunde aus seinem bekannt tiefen Winterschlaf erwecken.

Da hat man sich als braver Vollpensions-Bucher mit vollgeschlagenem Bauch so gegen halb elf Uhr nachts in die Kissen und kurz darauf in den Schlaf fallen lassen – da wird man um Mitternacht trotz ebenso vorsorglich wie sorgfältig placierter Ohrstöpsel aus tiefem Schlummer von zwei Männerstimmen geweckt, die anscheinend unmittelbar vor der eigenen Zimmertür eine laute und angeregte Unterhaltung führen.

Der Unerfahrene denkt sich, na die werden noch ein paar Worte wechseln und dann auf ihr Zimmer gehen. Doch weit gefehlt. Zuerst mal bleiben sie, wo sie sind, und setzen ihre Unterhaltung fröhlich palavernd fort, so, als stünden sie tagsüber auf einem Marktplatz. Bald aber hört man ein vielfältiges Klappern von Sandalen, Frauenstimmen und Kinderrufe langsam über die Treppe näherkommen. Jetzt wird man es bald ausgestanden haben, denkt man sich. Die Männer haben noch was unter sich besprochen, aber jetzt kommen die Familien nach und alle werden sich auf ihre Zimmer verteilen. Doch wieder weit gefehlt!

Natürlich sind alle über das Wiedersehen höchst erfreut, und nun erhebt sich noch lauteres Stimmengewirr, alle reden durcheinander, zwischendurch wird herzlich gelacht, die Sandalen der Frauen klappern herrlich am Steinboden des Hotelflurs, dazwischen weinen übermüdete Kinder. Das kann doch nicht wahr sein, denkt man sich und beißt unwillkürlich in den Rand der Bettdecke. So liegt man eine Weile, bis man unrettbar hellwach geworden ist und beschließt, das Undenkbare zu tun: man regt sich auf.

Man steigt aus dem Bett, stellt sich vor die verschlossene Zimmertür und schreit hindurch: Ouu! Per favore! Io voglio dormire, voglio solo dormire, dormiiire! Nach diesem Ausruf der Verzweiflung verstummt die Gesellschaft kurz, um sich dann in aller Ruhe weiterplaudernd langsam fort zu bewegen. Gegen ein Uhr nachts herrscht endlich Stille am Gang.

Es verbleibt eine Schlussfolgerung: darf man das post-it und die foldback Klammer als technisch ausgereift ansehen, so herrscht im Bereich der Ohrstöpsel– und cranialen Geräusch-Abdämmungs-Technologie noch extremer Innovationsbedarf. Die besten Ohrstöpsel einer fernen Zukunft werden als Qualitätslabel Italy summer hotel tested auf der Verpackung stehen haben. . .

. . . zumindest, bis man ein Stadium erreicht hat, in dem man verschmitzt grinsend einfach seine Hörgeräte rausnimmt.

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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