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Corvus Kowenzl:
Ich bin eh immer da!
Ostalpenländische Universitätssatiren
Folge 5

Folgende bescheidene Zeilen präsentieren einige der markantesten Erinnerungen meines Berufslebens als Lehrer und Forscher an einer Universität mitten in den Ostalpen, im Lande des Grüß Gott. Die meisten dieser Erinnerungen stammen aus meiner Zeit als Leiter eines Instituts, jedoch war diese Position nicht in jedem Fall ausschlaggebend, sondern ganz einfach die Tatsache, dass ich ein Angehöriger der Universität bin.


Zu den trotz aller gegenteiliger Bemühungen unausrottbaren Übeln des Arbeitslebens gehört der Präsentismus, also die möglichst permanente Anwesenheit am Arbeitsplatz einschließlich Schlafsack, Campingkocher und Hund.

Die geistige Gleichung dahinter ist einfach: wer am Arbeitsplatz ist, kann nichts Schlimmes anstellen, wer am Arbeitsplatz ist, arbeitet, sonst wäre er ja nicht am Arbeitsplatz, wer am Arbeitsplatz ist, ist gut, wer nicht am Arbeitsplatz ist, ist schlimm oder gar böse. Wer weiss, welchen vordem unerhörten Lustbarkeiten sich doch der oder – schlimmer noch – die ergibt, die grade nicht am Arbeitsplatz aufscheint.

Zumindest ich suhle mich dann meist in der Schweinerei, einfach mal ungestört zu arbeiten, was fast stets bedeutet, dass ich zuhause am Computer sitze. Geheimdienste oder Privatdetektive würden eine Observation wohl bald aus Langeweile abbrechen. Doch selbst dieser bescheidene spirituelle Luxus wird einem von den Präsentisten geneidet.

Präsentismus ist kein vorübergehendes Leiden, wie etwa ein grippaler Infekt, er ist auch keine Neurose oder ein Komplex, sondern er ist eine Ideologie, der ein bestimmtes Menschenbild zugrunde liegt.

Der Mensch ist von Natur aus nur faul, lüstern und böse, also soll er seine Faulheit, Lüsternheit und Bosheit gefälligst in seiner Arbeit sublimieren, auf dass sie gute Früchte trage, wie sich am Gesamtzustand der Welt auch unschwer erkennen lässt. Wie es sich für eine Ideologie gehört, kann nicht einmal der augenfälligste Befund vom Gegenteil überzeugen.

Denn wie sonderbar: Als die letzte Kapitalismuskrise auf ihrem Höhepunkt wütete, da blieb es über Weihnachten und Neujahr still und friedlich und nichts Schlimmes geschah. Warum? – weil die Banken, die Börsen und überhaupt fast alles geschlossen hatte, es folglich durch den Ausfall des so segensreichen Arbeitswirkens zum Wohle der Menschheit vorerst nicht noch ärger werden konnte.

All das hilft nichts gegen die lupenreine Haltung des gestandenen Präsentisten. Man muss jedes Mal die ganze Chose von vorne durchargumentieren. Dass es nicht die reine Anwesenheitszeit am Arbeitsplatz ist, die über die Produktivität entscheidet; dass es um der Milchleistung der heiligsten Kuh des modernen Arbeitslebens – der Kreativität – willen durchaus guttut, ab und zu einmal etwas Anderes zu sehen und zu denken.

Dann einsichtiges Nicken: Ja, das stimmt schon, man muss nicht immer präsent sein, ist eh nicht gut. Und dann kommt sogleich der erste Einwand: Aber es gibt halt Zeiten, da ist mehr los als sonst, und da muss man halt zugegen sein, wegen der ständigen Meetings, ad-hoc Besprechungen, eilig einberufenen Sitzungen und Änderungen in letzter Minute.

Mein Gegenargument: Diese Zeiten sind immer, außer vielleicht am 1. Jänner vormittags und am Spätnachmittag des zweiten Sonntags im August. Wenn man also nicht ab und zu einfach mal weg ist, dann kommt man nie weg. An diesem Punkt brummt der Präsentist etwas in sich hinein, von dem man sich nicht sicher ist, was es heißen soll, doch man spürt nur zu genau: Er bleibt bei seiner Meinung, bleibt immun gegen die sophistischen Verdrehungen dieser Absentisten-Brut. Man hat einfach da zu sein und damit Basta! Ende der Debatte!

Die Bruchlinien zwischen Präsentisten und Interims-Absentisten folgen einem recht komplizierten Muster, doch gibt es einige bezeichnende Brüche, die hier kurz dargelegt werden sollen.

Eine Bruchlinie geht mitten durch das wissenschaftliche Personal. In dieser Riege gibt es zwei Sorten von Präsentisten. Der Tolerante, der zwar ständig anwesend ist, sich aber nicht groß darum bekümmert, was andere machen.

Tolerante Präsentisten sind eine seltene Spezies, die schon lange auf der roten Artenliste geführt wird, ein Typ von aussterbendem Gelehrten. Viel häufiger ist dagegen der Präsentist mit einem mehr oder weniger starken Hang zur Kontrolle.

Sein Motto lautet: ich bin hier, also haben die anderen auch hier zu sein. Jetzt denkt man sich vielleicht: ich, der Schreiber dieser Zeilen, wäre ein boshafter Mensch der fake news über ihrer Arbeit leidenschaftlich ergebene Persönlichkeiten verbreitet.

Es tut mir leid feststellen zu müssen, dass ich geradezu spektakuläre Fälle von Ineffizienz und chronischer Aufschieberei besonders in den Reihen der Hardcore-Präsentisten beobachtet habe. Schlimm ist es, wenn ein Präsentist der Vorgesetzte ist, und man auf der Karriereleiter noch ein paar Stufen rauf will. Hier bleibt nur das Mittel der Täuschung übrig, kristallisiert in einem einzigen Satz, der Balsam in die Risse des Präsentisten-Herzens ist.

Ich lernte diesen Satz von einem gleichaltrigen Kollegen auf einem Nachbarinstitut. Als ich gerade in sein Büro trat (selbstverständlich, um etwas Arbeitsrelevantes zu besprechen), telefonierte er mit jemandem von außerhalb der Universität, zeigte mir aber mit der Hand, ich solle bleiben, er wäre gleich fertig. Gegen Ende des Gespräches sagte er dann:
„Sie können sich jederzeit melden, ich bin eh immer da.“

Das war zwar eine Lüge oder zumindest eine starke Übertreibung (dafür kannte ich den Kollegen zu gut), hörte sich aber toll an. Er ist immer da: was für eine Hingabe an die Arbeit, was für ein Verantwortungsbewusstsein. Während wir anderen, wir Halbherzigen, zuhause ungestört mal richtig arbeiten wollen, bleibt er vor Ort, er opfert sich; während wir Lauwarmen Zeit mit der Familie verbringen ist er alleine drin und hält die Stellung; tja, einer muss es eben machen, und das ist er, ja, er! Wir sollten ihm dankbar sein. Ich merkte mir diesen Satz und wandte ihn sogleich im nächsten Telefonat an.

„Sie können sich jederzeit melden, ich bin eh immer da.“
„Aha, ja, gut“, mit hörbar anerkennendem Tonfall, „dann werde ich mich wieder melden, wenn ich mehr weiss.“
Eine Woche später bekam ich eine Email mit kaum verhülltem Vorwurf:
„Sehr geehrter Herr Professor, nachdem gestern mehrmalige Versuche, sie telefonisch zu erreichen, nicht von Erfolg gekrönt waren, versuche ich es nun per Email, vielleicht komme ich ja damit durch.“
Ich antwortete: „Sehr geehrter Herr, sie müssen entschuldigen, ich musste gestern im Außendienst arbeiten.“
Außendienst. Das klingt einfach besser als „Ich war nicht im Büro, weil ich wieder mal richtig arbeiten wollte“.
Prompt kam die entsprechende Antwort: „Ach so, jetzt verstehe ich, weshalb sie nicht zu erreichen waren.“
Und schon ist der Arbeitsfrieden wieder hergestellt. . .

Erreichbarkeit, das ist das Schlüsselwort, um eine andere große Bruchlinie im Universitätspersonal zu erwähnen, nämlich die zwischen dem sogenannten Allgemeinen Personal und dem Wissenschaftlichen Personal.

Zur Erläuterung: das Allgemeine Personal beinhaltet zum Beispiel Sekretärinnen und Bedienstete in den administrativen und technisch-infrastrukturellen Abteilungen, aber auch Laborantinnen und Technische Assistentinnen, um einige der wichtigsten Gruppen zu nennen.

Das wissenschaftliche Personal ist nicht ganz so vielgestaltig, ist aber dadurch gekennzeichnet, dass es eben diese Wissenschaft machen soll, die die moderne Forschungsuniversität auszeichnet. Und in Erfüllung dieser Aufgabe ist es nun mal nötig, immer wieder den universitären Arbeitsplatz zu verlassen: sei es, um Fachtreffen oder Kongresse zu besuchen, oder um forschend tätig zu sein.

Von allen Wissenschaftlern, die zur Ausführung ihrer Forschung ins Freiland (der Fachmann spricht von „Feld“) müssen, ziehen keine so sehr ein grundsätzliches Misstrauen des Allgemeinen Personals auf sich, wie etwa Geologen und Ökologen.

Vor dem geistigen Auge der Sekretärin, die am sonnigen Frühsommertag in ihrem Büro sitzt, erscheint der Geologe, der ästhetisch berührt auf lichtdurchfluteter Höhe steht und mit großer Gebärde erklärt: „Hier, da drüben, das sind die Kalkalpen. Wahrhaftig, die Kalkalpen.“ Und das war’s dann. Anschließend setzt er sich hin, verzehrt sein Jausenbrot und sonnt sich danach ausgiebig.

Zwar hat ebenjener Geologe dieser Sekretärin schon hundertmal so nebenbei gesagt, dass es wenig Sinn hat, bei schlechtem Wetter ins Feld zu gehen, aber alle diese Erklärungen, in Endlosschleife gemacht, prallen ebenso in Endlosschleife wieder ab. Es bleibt das Misstrauen: Was macht der eigentlich den lieben langen schönen Tag da draußen im Gebirge?

Ein besonders hübsches Beispiel, wie tief sich dieses Misstrauen in manche Gemüter fressen kann, erlebte ich unlängst. Es war Montags, ich saß zuhause am Computer und arbeitete an einer Publikation, so, wie ich das auch von meinem Dienstvertrag her darf. Da säuselte das Handy. Die Nummer zeigte mir, dass es sich um einen Anruf von der Universität handelte, also nahm ich das Gespräch sogleich an.

„Herr Professor Kowenzl?“, eine etwas gehetzt wirkende Stimme.
„Ja. . . bitte?“
„Hier Vizerektorat für Forschung. . . also Herr Professor Kowenzl, sie müssen schon erreichbar sein!“, mit unüberhörbarem Vorwurf ausgesprochen.
„Äh. . . nun gut, ich bin dran!“ ich, etwas irritiert.
„Das muss ich ihnen schon sagen: natürlich können sie auch zuhause arbeiten, aber erreichbar müssen sie schon sein!“ erneut die Dame vom Vizerektorat.
Nun wurde ich amüsiert: „Aber, ich bin ja erreichbar. Sie haben mich ja am Telefon. . . hallo!?, Kowenzl hier.“
„Erreichbar sollten sie schon sein!“ erneut das Vizerektorat für Forschung.

Da erkannte ich die Situation. So etwas habe ich schon öfter erlebt. Es handelt sich um eine Art von administrativ-mentalem Kurzschluss.
„Also gut“, sagte ich schmunzelnd, „ich werde mich in Zukunft bemühen, erreichbar zu sein.“
Das war es. Das hatte gereicht. Schon war der Bann gebrochen.
„Also, Herr Professor“, und sie brachte mir ihr Anliegen vor…

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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