Christoph Themessl
Philosophie als Therapie
Essay
Seit Mitte der 1980-er etablieren sich weltweit philosophische Praxen als Psychotherapie-Alternative. Im Vordergrund der Gespräche stehen allerdings nicht psychische Krankheiten, sondern individueller Lebens-Sinn, Weltbilder und alte Weisheiten.
Manche fürchten die Philosophie, weil sie zu abstrakt sei, manche verachten sie, weil sie keine „harten“, empirischen Fakten liefere. Wirklich ist Philosophie manchmal „nicht mehr“ als ein Sprachspiel. Aber Bewusstsein ist Sprache! Und von daher ist das Wort die Pforte zu unserem seelischen Befinden.
Philosophie hat mehr mit Sprachtheorie zu tun, als viele ahnen. Die Sprachphilosophie etwa ist ein analytischer Zweig und eine Verwandte der Linguistik, und die philosophische Praxis als eine Einrichtung, seelische Angelegenheiten zu thematisieren, könnte man überhaupt als sprachliches Experiment und in diesem Sinne als „Gesprächsanalyse“ bezeichnen.
Die Arbeit am Wort und dessen Verständnis setzt den philosophischen Praktiker meines Erachtens auch in ein Verwandtschaftsverhältnis mit den Dichtern und Schriftstellern und von daher scheint mir dieser Beitrag auf einem literarischen Blog nicht fehl am Platz zu sein.
Aber woher kommen eigentlich die philosophischen Praxen? Als ihr Begründer gilt der deutsche Philosoph Gerd Achenbach, der in den Achtzigern die erste derartige Einrichtung gründete.
Achenbach versuchte eine Alternative zu den Psychotherapien zu etablieren und gewann eine große Klientel an Menschen, die nicht so sehr Zweifel an ihrer psychischen Gesundheit oder „Normalität“ plagte, sondern die Frage Montaignes „Was tue ich eigentlich?“ umtrieb.
Die Hinterfragung der persönlichen Motive war schon vor über zweitausend Jahren der Ausgangspunkt der Philosophie des Sokrates, der nur ein geprüftes Leben für ein „lebenswertes“ hielt, wohingegen ein nur so dahingelebtes, fraglos angenommen- oder übernommenes ein „vertanes“, „nicht wirklich gelebtes“ Leben sei. Der Sklave seiner Motive ist blind für dieselben und dabei gar nicht unähnlich etwa dem modernen Sklaven warenförmiger Fetische (Konsumationssucht) oder dem schlecht bezahlten Arbeiter im unteren Segment wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse.
Erst wenn wir auf die wie auch immer gearteten Ketten unserer Existenz hingewiesen werden, erfasst uns ein schauriges Gefühl unseres (bisherigen) Ausgeliefertseins. Leider können wir die Spielregeln, an die sich viele halten müssen, nicht so einfach umschreiben, aber ein Bewusstsein für dieselben, eine Erweiterung des Weltbildes beim Klienten herzustellen, ist oft der erste Schritt zu Veränderungen und Verbesserungen.
Selbstverständlich gibt es noch ganz andere Ketten, an welchen wir alle mehr oder weniger fest hängen. Ideologien, spießige Vorurteile, Karrierismus, grundlose Minderwertigkeitsgefühle, neuerdings auch wieder Klassendenken…
Arthur Schopenhauer brachte die „Falle des vergeudeten Lebens“ vielleicht am besten auf den Punkt: „Die Meisten werden, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, dass sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein, zu sehen, dass das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, eben ihr Leben war, eben das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen, in der Regel, dieser, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt.“
Der Versuch, dies zu verhindern, ist noch keine vollständige Definition für eine philosophische Praxis, aber ein bedeutender Teilfaktor.
Achenbachs Idee mit den philosophischen Praxen hat sich rasch in die jüngste Geistesgeschichte eingeschrieben und wird sich mit Sicherheit nicht als historische Eintagsfliege entpuppen. Inzwischen gibt es die Praxen und nationale wie internationale Gesellschaften philosophischer Praktiker – hierzulande etwa die GAP (Gesellschaft für angewandte Philosophie) in Wien – schon weltweit. Großer Beliebtheit erfreuen sich die Praxen in Deutschland, der Schweiz und Amerika. Wer googeln will, wird auch in Innsbruck fündig.
Für das, was eine philosophische Praxis ist, gibt es allerdings keine einheitliche Definition, und „philosophische Praxis“ gab es natürlich schon vor Achenbach.
Philosophische Praxis waren einst die schon erwähnten sokratischen Gespräche zur Staatsführung, Ethik und Seele, wie sie uns von Platon am besten überliefert sind. Man trennte das eine nicht vom anderen, Wissenschaft und philosophische Erkenntnis sollten dem seelischen Wohle des Individuums und in ethischer Hinsicht dem Wohle einer größtmöglichen Anzahl von Individuen im Staat dienen; so zumindest bei Aristoteles.
„Philosophische Praxis“ sind heute diverse Ethikkommissionen, „philosophische Cafes“ (öffentliche Diskussionsrunden) und eben Einzelgespräche zu denselben alten, menschlichen Fragen, wobei das Individuum und sein Lebensglück, die Frage nach dem „Sinn meines Lebens“, gemäß der Zeit und kulturellen Entwicklung nun im Vordergrund steht.
Man sagt gemeinhin, die philosophische Praxis sei eine Einrichtung zur Sinnstiftung und ethischen Beratung, eine Krisenintervention nicht so sehr auf psychologischer, sondern auf „geistiger“ Ebene. Daran ist einiges richtig.
Schon der Psychiater Viktor Frankl wies vor Jahrzehnten darauf hin, dass am Grunde seelischer Leiden zumeist ein Sinnproblem bestünde und von daher in der Praxis explizit philosophische Konzepte zur Anwendung gelangen sollten. Es bieten sich dazu etwa die Phänomenologie Edmund Husserls, die Existenzphilosophie Martin Heideggers oder Nietzsches „Willensphilosophie“ an.
Auch das situative, bisweilen „eklektizistische“ Herauspicken „zeitloser Weisheiten und moralischer Wahrheiten“ aus der langen Geschichte der Philosophie können ihren Zweck erfüllen. Und dann gibt es viele, viele andere kreative und auch künstlerische Ansätze, die dem Klienten/der Klientin neben dem analytischen Aspekt mehr Lebenssinn, Daseinsbefriedigung, mehr „Licht und Leichtigkeit fürs Innere“ versprechen. Gemeinsame Spaziergänge bringen den Sinn in Fluss, gemeinsame Lektüre regt die Reflexion an usw.
Eine der wesentlichen Theorien der philosophischen Praxis geht von der Annahme aus, dass eine gute, d.h. zugleich ethisch vertretbare Lebenstheorie im Allgemeinen wichtiger ist als so genannte Ursachen und Fakten (im psychologischen Sinne negative Erfahrungen, Traumen u.a.). Die Theorie interpretiert erst die so genannten Fakten und stellt sie in einen Sinnzusammenhang.
Aber was hat oder „macht“ (wie man heute gerne und nicht ganz unrichtig sagt) einen „Sinn“?
Der Begriff bildet eine merkwürdige formale Hülle, die auch bei etymologischer Betrachtung bestehen bleibt. Wie das verwandte Verb „sinnen“, das schon im Althochdeutschen „gehen, reisen“, später auch „streben, begehren“ bedeutete, meint Sinn einen „Gang“, einen „Weg“, eine „Reise“. Die gesamte germanische Wortgruppe, die ich hier nicht zusammenstellen möchte, geht auf die indogermanische Wurzel „sent-“ zurück (gehen, reisen, fahren), deren ursprüngliche Bedeutung vermutlich „eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen“ war. Dazu gehört außergermanisch auch das lateinische „sentire“ (fühlen, wahrnehmen) und „sensus“ (Gefühl, Sinn, Meinung).
„Der nach einem Weg Sinnende nimmt eine Fährte auf“, schiene mir für unseren heutigen Sprachgebrauch eine gute Definition für den Sinnsuchenden. Man könnte aber auch sagen: „Der Sinnende ist der wahrnehmende, fühlend Reisende, der eine Fährte aufgenommen hat“. Das „Sinnen wonach“, „wohin die Fährte führt“, bleibt offen.
Diese Feststellung scheint mir deshalb wichtig zu sein, da wir Sinn und Sinnsuche heute häufig fast zwanghaft mit einem konkreten Inhalt in Verbindung zu bringen versuchen, als gäbe es für jeden oder gar für eine ganze Gesellschaft nur einen bestimmten Sinn, den es zu finden gilt. Der Sinn ist die Abstraktion der Tätigkeit des Sinnens, und es scheint im Laufe der Zeit durch religiöse, politische, wirtschaftliche, sittlich-moralische (bürgerliche) Zielvorgaben der hochzivilisierten Gesellschaften zu immer abstrakteren Sinnsuchen per se ohne Tätigkeit des eigentlichen Sinnens zu kommen.
„Der Weg ist das Ziel“, heißt es richtigerweise. Der Weg ist vorüber, wenn das Ziel den Sinn dominiert. Der Wanderer versteht das noch, der Leistungssportler nicht mehr. Menschen brauchen Fährten, aber vorherbestimmen zu wollen, wohin diese zu führen hätten, ist eigentlich per definitonem sinnlos. Das Festklammern an überehrgeizigen Zielen, an Familien- und Lebensplanungen, nicht selten gar über Jahrzehnte („in dreißig Jahren ist der Kredit für das Haus abbezahlt…“), ist der sicherste Weg in die „existenzielle Obsession“, die einer inneren Erstarrung gleichkommt und also das Gegenteil von „reisen, gehen“ geworden ist.
Ein vernünftiges, vorübergehendes Ziel zu verfolgen ist schön und oft vernünftig, aber wer an ganz konkreten Inhalten, vor allem an fernen Ergebnissen materieller Natur klammert, wird vom Ziel fixiert und um den Sinn seiner Gegenwart betrogen.
Die Klage über ein unerfülltes Leben, mit der jeder Praktiker verlässlich regelmäßig konfrontiert wird, ist keine weinerliche Einbildung um Neujahr, sondern häufig bei Personen, die um eines „reichen Morgen“ willen heute einen monotonen Lebensstil führen.
Es gibt das seltsame Paradoxon, dass ausgerechnet Leute, die viel Zeit zur Verfügung hatten, also nicht von (beruflichen) Tätigkeiten erfüllt waren und denen die Tage eher lang wurden, am Abend des Lebens über dessen Kürze klagen. Auch Immanuel Kant führt solche Beispiele in seiner lesenswerten „Anthropologie“ an.
Zeit will mit sinnlichen Eindrücken aufgefüllt werden, um sich nicht als Leere zu erweisen. Dazu bedarf sie des Raumes. Nimmt man zum Beispiel eine Strecke Weges reich an Eindrücken (das Beispiel stammt von Immanuel Kant), an Landschaften, Dörfern, Häusern usw., so „bewirkt sie in der Erinnerung den täuschenden Schluss auf einen großen zurückgelegten Raum.“ Umgekehrt erscheint bei einer monotonen Strecke gleichbleibender Eindrücke, durch eine moderne, gleichförmig betonierte Wohnlandschaft etwa, der Raum im Nachhinein klein. Entsprechend dazu wird die zum Zurücklegen der Strecke benötigte Zeit jeweils einmal kurz und einmal lange empfunden.
Dieses Phänomen kennt jeder Berufspendler, der lange genug Tag für Tag dieselbe Strecke, die er schon nach einem Monat auswendig kennt, zurücklegen musste. (Da hilft nur gute Lektüre, das Gespräch oder andere Ablenkung – sofern der Pendler ein öffentliches Verkehrsmittel benützt.)
Indem wir den Raum also sinnlich füllen, kürzen wir auch die Zeit ab. Umgekehrt, wenn wir das Sinnen bleiben lassen, keiner Fährte folgen, erregt „die in sich wahrgenommene Leere an Empfindungen ein Grauen (horror vacui) und gleichsam das Vorgefühl eines langsamen Todes, der für peinlicher gehalten wird, als wenn das Schicksal den Lebensfaden schnell abreißt.“ (Kant, Anthropologie)
Und das scheint fast schon die Antwort auf unsere Frage nach dem Sinn des Sinnes oder dem Sinn im Sinn zu sein. Die Antwort ist zwar immer noch formal, und ich will nicht sagen, dass der Sinn des Lebens darin bestünde, die Zeit möglichst schnell totzuschlagen. Andererseits jenes langsame Sterben in der Leere der Sinnlosigkeit, das Kant beschreibt, zu vermeiden, ist schon fast Inhalt genug.
Der Zahnarzt füllt hohle Zähne, der philosophische Praktiker, könnte man cum grano salis sagen, versucht dabei zu helfen, „hohlen“ Raum anzureichern.
Aber auch das ist nur eine Art philosophischer Praxis, vielleicht nur meine. Manche schwören auf Friedrich Nietzsche und seine Analysen zur Entstehung der Auto-Aggression (von welchen sich übrigens Sigmund Freud inspirieren ließ), andere auf Hegel, mit dessen Hilfe sie den „(Welt)Geist“ ihrer Klienten auf Entdeckungsreisen des Selbst schicken. Mit Adorno wird es politischer und subversiver, mit Martin Bubers Gesprächskultur der aufmerksamen Ich-und-Du-Begegnung religiöser.
Auch in Verbindung mit neueren Theorien der Linguisten und Philosophen zur Bedeutung von Sprache für das Bewusstsein können wir uns in der Praxis weitestgehend auf Konzepte der eigenen Disziplin stützen und sollten dies auch durchaus selbstbewusst tun – quasi mit Ansprüchen auf ein disziplinäres Urheberrecht von Theorien.
Denn wenn die Psychiater und Psychotherapeuten von den Konzepten der Philosophen schon lange Ausleihe machen, so können sie sich darauf verlassen, dass die Philosophen schon bald auf das Recht pochen werden, davon auch selbst Gebrauch machen zu dürfen – und zwar in praxi und ohne Wenn und Aber.
Aber das ist ein anderes, juristisches Thema und ein spezifisch österreichisches Problem.
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