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Helmuth Schönauer im Interview
Was ist los im Vaterland?



Der Tiroler Helmuth Schönauer ist der „Generalrezensent der österreichischen Literatur“. Tausende Bücher hat der gelernte Bibliothekar gelesen, sechstausend davon besprochen. Ein Gespräch mit dem Kenner der österreichischen Seele. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Südtiroler Tageszeitung, das Interview führte Heinrich Schwazer.


Herr Schönauer, wir blicken ungläubig staunend über den Brenner. Unsere Schutzmacht scheint gegenwärtig Reinhard Fendrichs „Tango Korrupti“ zu tanzen. Was ist los im Vaterland?

Helmuth Schönauer: Der Wiener Schmäh, die Tiroler Schilehrerwitze, der Spruch, „eine Mehlspeise geht immer“ leben davon, dass man es mit der Korruption nicht so genau nimmt. Ein Wiener Innenbezirk mit ein paar Tausend Beamten und Notaren, die sich alle kennen und abfeiern, ist wie geschaffen für Geschäfte unter der Tuchent. Und ein Bundesland Tirol, das von einem Touristiker als Landeshauptmann regiert wird, lässt sich wie ein Hotel bei Schönwetter führen.
Wenn es dann pandemisch streng wird, kommt es zu einem entlarvenden Sager des Landeshauptmannes: „Bleibts zu Hause, damit die anderen kommen können!“
Das werden ihm die Tiroler auch bei Sonnenschein nicht vergessen.

Österreich hat im weltweiten Korruptions-Ranking tüchtig aufgeholt. Hat Korruption mit dem berühmten österreichischen „Schmäh“ zu tun, der ja so etwas wie ein inoffizielles Unesco-Weltkulturerbe ist?

Der letzte Korruptionsschub kam ja von einer Studententruppe, die den Schmäh ins Internet übertragen hat. Die Schmalspur-Bachelors glaubten, sie könnten die Republik unterhalten wie auf einem Institutsfest, wo am Schluss alle eingeraucht und Familie sind.

Muss man Thomas Bernhards Charakterisierung des homo austriacus als gleichermaßen katholischen wie nationalsozialistischen Menschen mit dem homo corruptus ergänzen?

In den Machtzentren ist vor allem keine Intelligenz dabei und keine Empathie für das Land.
Wenn man weiß, dass der reichste Österreicher lange ein Dosenfabrikant für Zuckerwasser gewesen ist, und der patriotischste ein Rennfahrer und Flugunternehmer, wobei er jeweils Bruchlandungen hingelegt hat, so zeigt das die Struktur eines Landes, das sich am ehesten mit dem Putinschen Russland vergleichen lässt.
Die Unternehmer haben sich die Verstaatlichte unter den Nagel gerissen, die privaten Lebensmittelhändler die Genossenschaften, und die Hoteliers die ehemaligen Almenden, also agrarischen Gemeingüter.
Der homo corruptus lässt sich flächendeckend ausmachen. Ein Sprichwort lautet: Sag Stalin zum Markt und du wirst verlässlich vernichtet.

Der Lieblingsschwiegersohn aller ÖsterreicherInnen, besser bekannt als „Sebastian, kurz Bundeskanzler“ sagt leise Servus und verdrückt sich nach Kalifornien. Hinterlässt er blutende Herzen?

Die ehemaligen Fans sind irritiert, dass sie wieder einmal einem auf den Leim gegangen sind, und fragen sich, wer hat schon wieder Leim ausgelegt. Manche halten sich an der Fügung fest, dass ja die Unschuldsvermutung gilt, und den dritten (wie etwa dem Seilbahnkönig) ist es ausgesprochen peinlich, wenn man sie auf einem Video „Basti, Basti“ rufen hört.
Das Volk neigt am ehesten zur These, dass es sich bei Kurz um einen Startupler gehandelt hat, und ein Startup ist ja nichts anderes als der Versuch eines Bluffs, der manchmal aufgeht, die meiste Zeit aber nicht.

Gegangen ist er mit der Begründung, dass er seine Papapflichten erfüllen muss. Hat es Sie da vor Lachen vom Stuhl gehauen?

Wir Alten fragen uns im Scherz, ob wir seinerzeit mit unserer Geburt unsere Väter auch in den Rücktritt getreten haben.
Wir sind wohl zuwenig knallvoll auf die Welt gekommen, um jemanden zum Rücktritt zu zwingen, oder aber unsere Geburten waren so schwach, dass sie keine Karriere beeinflusst haben.

Nach Türkis ist jetzt wieder Schwarz angesagt. Für Außenstehende ist der Farbwechsel nicht leicht unterscheidbar. Was bedeutet er?

Jetzt unter den Schwarzen wird wieder öffentlich gemauschelt und nicht über Chats. Jetzt gibt es in Tirol wieder monolithische Politik, Stalin hat das mit der Schwerindustrie gemacht, die Schwarzen machen das mit dem Tourismus.
Sie rekrutieren ja auch niemand unter den Frauen, Unis oder Künstlern und fahren diesen Retro-Kurs, bis der letzte Gletscher weg ist, was ja bald einmal sein wird.
Wer siebzig Jahre unter einer Einheitspartei leben muss, kriegt überall Asyl, wo die Menschenrechte gelten. Als Künstler sollte man diese Option im Auge haben.

Die Ibiza-Affäre war eine Porno Polit Klamotte, die kein Kabarettist besser erfinden könnte. Was würde der „Herr Karl“ dazu sagen?

Der Herr Karl würde empört darauf hinweisen, dass man nicht einmal im eigenen Keller (Fritzl-Affäre) und schon gar nicht auf der Lieblingsinsel der Österreicher unbeobachtet das ausspucken kann, was man sich denkt.

Der ehemalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat sich auf dem Ibiza-Video mit dem Spruch „Bist du deppert, die ist schoarf“ nicht nur in die Politikgeschichte, sondern in die Literaturgeschichte eingeschrieben. Ein Satz, der bleiben wird.

Die Österreichische Zeitgeschichte schreibt den Versagern meist Sager zu, die sie unsterblich machen.
„Wo war meine Leistung“, „Austria is too small for me“, „Lügen tragen Kurz auf Beinen“ sind solche Bonmots, die sich wohl eine zeitlang im Gedächtnis halten werden.
„Mehr Pudern statt Partys“ hat übrigens eine Unterrichtsministerin gesagt und daraufhin die Rechtschreibung mit einer Pseudoreform zerstört.

Wo ist nach Thomas Bernhard die große literarische Tradition der Österreich-Beschimpfung geblieben? Gibt es sie noch oder ist sie mit ihm entschlafen?

Der theatralische Gestus, mit dem diese Beschimpfungen vorgetragen wurden, ist heute samt Thomas Bernhard vorbei. Thomas Bernhard ergeht es letztlich wie Felix Mitterer, sie sind beide auf ein kleines Gebiet beschränkt, wo die Konnotation funktioniert wie beim Kabarett.
In Kiel wundert man sich schon heute, was die Bernhard-Stücke für eine provinzielle Aussage haben.
Da ist das „absurde Theater“ Ionescos, von dem sich ja im Aufzug diese Greisenstücke Bernhards herleiten, mittlerweile wieder flotte Weltliteratur, vor allem, seit es Fake-news auf jedes Rednerpult schaffen.

Sie selbst dürfen sich mit Gewissheit zu dieser Tradition rechnen. Polemik, Satire und Witz gehören seit jeher zu Ihrer Schreibe. Sind das Instrumente der Selbstverteidigung?

Ionesco ja, Bernhard nein, die größte Verbindung besteht freilich zu Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“, wo Bürokraten, Kleinadelige und Zeitungsleser den Weltuntergang in Gestalt des Ersten Weltkriegs in einem Aufwaschen produzieren und kommentieren.
Eine von den Germanisten stillgelegte Ader führt vielleicht zu Fritz von Herzmanovsky-Orlando, was das Ordens- und Ehrungsklimbim betrifft. FHO wird freilich in der Rezeption als Geheimnazi geführt, wodurch er nicht mehr zitabel ist.

Den „Generalrezensent der österreichischen Literatur“ hat man sie getauft. Mit monumentalen sechstausend Buchbesprechungen seit 1982, die im sechsbändigen „Tagebuch eines Bibliothekars“ und den drei Bänden „Buch in Pension“ gesammelt sind, haben sie mehr besprochen als eine mittlere Stadt in zehn Jahren liest. Wie schafft man das?

Ein Lokführer wird auf dem Weg zur Rente sagen, dass er mit dem Zug hundertmal zum Mond und retour gefahren ist, ein Koch wird sagen, dass er höchst persönlich 100.000 Schweine auf den Grill einer Dolomitenbar geworfen hat, und ich habe einige Tausend Bücher gelesen und davon sechstausend beschrieben.
In der Literatur wird man nie das, was man werden wollte, sondern etwas Interessanteres.
Ich bin lesender Schreiber geworden, eine Art Endverbraucher der Literatur, nach mir erlebt das Buch nichts mehr, außer das Archiv.
So bin ich von Büchern umgeben, die nach Luft und Würdigung schnappen, dieses Grundbedürfnis eines Buches erfülle ich als gelernter Bibliothekar.

Zum Niederknien sind Ihre Pflanzereien der Germanisten. Was haben Sie gegen die akademische Zunft?

Germanisten sind dann am besten, wenn sie keine Germanistik betreiben.
Sie haben aber die Eigenschaft, dass man sie für alles verwenden kann, zum Beispiel hocken in der jetzigen deutschen Regierung vier Germanisten, und man sieht es ihnen nicht an. Auch die Headhunter hatten lange den Spruch, nimm den Germanisten für deine Arbeit, denn er hat das Sinnlose auf der Uni gesehen und wird die Arbeit für dich freudig und sinnvoll erledigen.
Die Germanisten im engeren Sinn sind mittlerweile korrumpiert, sie müssen sich nämlich ihre Forschungsaufträge, Literaturhäuser und Symposien durch Wohlgefallen erwirtschaften.
Zudem herrscht eine große Mutlosigkeit, weil jeder nur mehr über „Sicherheitsthemen“ forscht.
Zur Zeit liegt Stefan Zweig im Ranking ganz oben, er hat ein berührendes Schicksal, ist Weltgeist, und mit einem File über ihn kann man überall auf der germanistischen Welt einen Lehrstuhl besetzen, wenn einer ausgeschrieben ist.

Autorenkollegen, Freunde und Wegbegleiter haben Sie mit einer Anti-Festschrift unter dem Titel „Einer hält durch“ gewürdigt. Ist das Ihr Lebensmotto?

Dieses Motto war ursprünglich für die Welt der ehrenamtlichen Bibliothekarinnen gedacht, die es in den Dörfern oft nicht leicht haben, im Ort eine Bibliothek im Gespräch zu halten.
Bald einmal hat sich herausgestellt, dass dieses Durchhalten auch die Autoren brauchen, die sich oft zäh durchs Leben schlängeln müssen mit nichts anderem in der Hand als einem Text, den niemand lesen will.

„Die Menschen tun alles, um nicht lesen zu müssen, wir helfen ihnen, indem wir die guten Bücher verstecken“ lautet eine Ihrer bitterbösen Kritikerweisheiten. Klingt realistisch, aber ein bisschen resigniert.

Lesen ist unbezahlte Arbeit, wer will das schon. Auch wenn man ergänzt, Arbeit an sich selbst, ist das für die meisten noch nicht verlockend. Daher ist es besser, man versteckt die guten Bücher im Sinne des Darknets. Erst wenn man Lesen klandestin, verschlüsselt und prekär betreibt, kann es seine volle Kraft entfalten.
Und wir wollen ja alle das volle Programm, nicht bloß Klappentexte.
Im Zoo wird ja auch bei manchen Zöglingen das Futter versteckt, damit sie eine Freude und einen Lebenssinn haben, wenn sie das Futter finden.
So machen es kluge Dichter mit ihren Büchern, sie verstecken sie, damit ihre Entdeckung Freude und Lebenssinn macht.
Was sind dagegen Dichterlesungen, hast du einmal eine durchgemacht, hast du alle gesehen und bist satt!

Sie besprechen auffallend oft Bücher aus Kleinverlagen und AutorInnen, denen nur flüchtiger Erfolg beschieden ist. Übertriebene Ehrfurcht vor den gehätschelten Stars des Literaturbetriebs gehört nicht zu Ihren Eigenschaften.

Ich bespreche keine Bestseller, weil die schon jemand gelesen hat. So erspare ich mir viel Konfektionsware, die wie alle Massenartikel nicht sehr nachhaltig ist.
Wir dürfen dem Literaturmarkt nicht als Markt begegnen, hat ein Kollege einmal geschrieben und meint, dass wir uns beim Lesen auf jene Punkte konzentrieren sollen, an denen im Sinne eines Umspannwerkes der Weltgeist zu uns herabsteigt in die Provinz, wo wir die Gedanken ausleben und umformen und wieder zurückschicken ans Weltnetz.
Bei dieser Einstellung tun sich immer öfter Freundschaften auf, so dass ich an Sonnentagen im Garten sitze und nicke: Ich kenne doch ein paar hundert Autoren, und letztlich sind es Freunde, auch wenn sie schon gestorben sind.

Hat man Sie schon einmal wegen eines Verrisses mit Prügel bedroht?

Da ich meist die einzige Rezension bin, die erscheint, kriege ich als Rezension und Mensch kaum Prügel. Eine ungute Diskussion entwickelt sich freilich immer mit jenen Kollegen, die gerade ihren Vorlass verkaufen wollen, was ich für Korruption im Literaturbetrieb halte.

Verraten Sie uns die ersten zehn Bücher Ihres ganz persönlichen
Literatur-Kanons?

(alphabetisch)
Walter Abish, Wie deutsch ist es;
Thomas Bernhard, Amras;
Rolf Dieter Brinkmann, Rom Blicke;
Michael Brodsky, Der Tatbestand und seine Hülle,
Ljubko Deresch, Die Anbetung der Eidechse;
Barbara Frischmuth, Verschwinden des Schattens;
R. P. Gruber, 365 Tage;
Franz Kafka, Prozess;
Andrej Platonow, Der makedonische Offizier;
Thomas Pynchon, Die Versteigerung von No 49;

Zuletzt: Helmuth Schönauer im Ruhestand kann man sich nicht wirklich vorstellen. Schreiben Sie an Ihrem eigenen Werk weiter?

Ich halte es mit Rolf Dieter Brinkmann: Wir alle produzieren einen lebenslänglichen Scheißfaden, solange wir leben. Oben putten wir hinein, unten binden wir die Wurst ab zu Büchern. Ich habe mittlerweile an die fünfzig Abbindungen, wie ich die Bände nenne. Am „Schreibfaden“ werde ich noch weiter arbeiten, zumal ich als Vertreter des Austrian Beat dem Motto huldige: „Die Rente des Beatniks ist der Tod.“


https://www.tageszeitung.it/


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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