Reinhard Margreiter - Die anthropologische Differenz - Zur Geschichte der Tierethik

Das Motiv der anthropologischen Differenz begleitet die Philosophie von ihren Anfängen an. Denn wo der Mensch thematisiert wird (und der Mensch ist – nach Kant – das zentrale Anliegen der Philosophie), muss auch sein Anderes – die Grenze und das Jenseits des Menschen – in irgendeiner Weise mitgedacht werden. Dieses Andere ist, in der Sicht der Tradition, einerseits Gott und andererseits das Tier. Wenn die Antifolie Gott gestrichen wird, bleibt die zweite Antifolie, das Tier, übrig. Und wenn sich der Mensch – was seit Darwin kaum mehr zu umgehen ist – selbst als Tier versteht, geht es um die Differenz zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren.

Am Anfang unserer Gattungs- und Kulturgeschichte steht – als eine noch schriftlose Gemeinschaft – die jagende und sammelnde Kleingruppe. Auf deren kulturellem Level gibt es weder einen universalen Begriff des Menschen, noch eine klare Grenzziehung gegenüber den Tieren, aber auch nicht gegenüber Geistern, Dämonen und Göttern – jenen Phantasiegestalten, die archaische Menschen sich erfinden, um in einer unbekannten Welt eine erste Orientierung zu gewinnen. Menschen von anderen Lebewesen prinzipiell zu unterscheiden und zu fragen, worin das Besondere und Auszeichnende des Menschlichen bestehe, ist eine historisch späte Erscheinung: in etwa so spät wie die Schrift, die Hochreligionen, die Wissenschaften und die Philosophie.

Die zwei großen Traditionen, die für das westliche Denken bestimmend sind, bringen die anthropologische Differenz auf den Punkt.
1. die Bibel mit ihren Behauptungen der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der gottgewollten Herrschaft des Menschen über die Tiere, und
2. die griechische Philosophie, namentlich des Aristoteles, mit ihrer Doppelthese vom Menschen als zoon politikon und zoon logon echon (bzw. animal rationale).

Dies bedeutet: Nur der Mensch sei zu einer von Rechtsnormen bestimmten Gemeinschaft fähig und damit zur Vernunft. Diese Vernunft – der Logos – wird gleichgesetzt mit Sprache. Ihr wird eine göttliche Aura attestiert. Aus dieser Konstellation ergibt sich, religiös und philosophisch abgestützt, der (bei näherem Hinsehen ziemlich dubiose) Tierbegriff, das Konzept des animal qua bestia: ein Sammelsurium vom Geißeltierchen bis hin zum Schimpansen. Dabei zeichnet sich eine deutliche Hierarchie ab: Der Mensch steht unter Gott und über dem Tier.

Bereits Konrad Lorenz hat gelegentlich über den universalen Tierbegriff gespottet, keiner hat ihn aber so deutlich dekonstruiert wie Jacques Derrida, der dafür – in seinem posthum (2006) veröffentlichten Buch L’animal que donc je suis (dt. Das Tier, das ich also bin) – das Kunstwort animot erfunden hat: eins der vexierenden Wortspiele, für die Derrida berühmt ist. Animot wird nämlich gleich ausgesprochen wie animaux, die Mehrzahl von animal, das Tier. Und mot bedeutet im Französischen: der Name. Womit zweierlei gesagt ist: Es handelt sich um einen Plural (der zu keinem Singular verdichtet werden kann), und es handelt sich um ein bloßes Wort, einen bloßen Signifikanten.

Zurück zur antiken Philosophie: Sie bildet – parallel zur jüdisch-christlichen Theologie – den universalen, von Tier und Gott abgegrenzten Begriff des Menschen aus. Das Wesen des Menschen erblickt sie in seiner Vernunft und Rechtsfähigkeit, was im Umkehrschluss bedeutet: Vernunftlosigkeit und Rechtlosigkeit der Tiere. Gewiss, es gibt schon im Altertum einige wenige tierfreundliche Denker und Strömungen (wie Theophrast und Plutarch, Porphyrios und Celsus, die Pythagoreer und die Kyniker). Und es gibt eine ganze Reihe tierfreundlicher Bibelstellen. Das Gros und die wirklichen Leitfiguren aber sowohl der antiken und mittelalterlichen Philosophie wie der christlichen Theologie sind dezidierte Tierverächter: um nur Aristoteles und die Stoiker, Augustinus und Thomas von Aquin zu nennen. Für sie sind die Tiere um der Menschen willen da, sie dürfen bedenkenlos genutzt, gejagt, gefangen gehalten, getötet und gegessen werden.

Die Neuzeit – bis herauf in die Gegenwart – radikalisiert diese Haltung des theologisch-philosophischen Mainstreams. René Descartes, der Begründer des Rationalismus, kann im 17. Jahrhundert mit einem neuen Konzept aufwarten. Er definiert das Tier als Maschine und als Teil jener Natur, die (nach Bacon und Descartes) theoretisch zu erkennen und praktisch zu beherrschen zentraler Zweck menschlicher Vernunft sei. Die die Neuzeit einläutende Renaissance bedeutet auch eine Wiedergeburt der antiken Vivisektionen, wie sie der Arzt Galen durchgeführt hatte. Und die Naturwissenschaften, für die Rationalismus und Empirismus die wissenschaftstheoretischen Grundlagen bereitstellen, nehmen in ihrer mechanistischen Orientierung das Maschinenmodell bereitwillig auf. Es wirkt nach bis in den Behaviorismus des 20. Jahrhunderts.

Im Zeitalter der Aufklärung wird da und dort, parallel zur Formulierung der Menschenrechte, in bescheidener Weise auch Rücksicht auf die Tiere gefordert. Insgesamt schlägt das Menschheitspathos der Aufklärung aber eher zu Ungunsten der Tiere aus: denn sie werden jetzt noch pointierter zum „Anderen“ und Fremden erklärt. Erst Jeremy Bentham und Arthur Schopenhauer finden – ab Ende des 18. Jahrhunderts – ein begrenztes Publikumsgehör für ihre Ansicht, Tiere seien zumindest eines: leidensfähig, und man solle ihre Leiden nach Möglichkeit verringern. Immanuel Kant begnügt sich noch mit dem Argument, man dürfe Tiere nicht quälen, weil es nur ein kleiner Schritt sei von der Grausamkeit an Tieren zur Grausamkeit an Menschen. Außerdem führt Kant das Argument der Besitzstörung an, sofern sich Tiere nämlich im Besitz anderer (zu respektierender) Menschen befinden.

Das 19. Jahrhundert ist sodann – motiviert von Strömungen der protestantischen Theologie, in denen das sogenannte Stewardship-Modell propagiert wird (der Mensch sei von Gott zum Steward, zum Stellvertreter und Hirten, zum Verwalter der Erde bestimmt) – das Jahrhundert der beginnenden Tierschutzbewegung (noch nicht der Tierrechtsbewegung). Der Tierschutz erhält allerdings, ihn weitgehend aushebelnd, seinen Kontrapunkt in der zunehmenden Massentierhaltung und industriellen Tiernutzung, d.h. es gibt Fortschritte in der Theorie und praktische Verbesserungen in Randbereichen, insgesamt aber erfolgt eher eine Verschlechterung der Bedingungen, denen die Tiere ausgesetzt sind.

In all den Zusammenhängen spielt die Philosophie keine besonders rühmliche Rolle. Von ihr wird die Problematik des menschlichen Umgangs mit den Tieren entweder ausgeblendet, oder die bestehenden kulturellen Vorurteile werden sogar argumentativ gestützt. Eine Ausnahme um 1900 ist Henry Salt, der den Widerspruch zwischen Tierschutz und Tierrechten analysiert und konsequent für letztere eintritt. Eine weitere Ausnahme ist Leonard Nelson, ein deutscher Kantianer, der, anders als Kant, nicht nur indirekte moralische Pflichten den Tieren gegenüber fordert, sondern auch direkte Pflichten. Aber auch Horkheimer und Adorno betonen in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, dass, parallel zur Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, die Unterdrückung der Tiere mitgegeben sei. Im Großen und Ganzen aber bleibt die philosophische Szene – wir finden nur wenige und nur leise Gegenstimmen – anthropozentrisch und tierverachtend.

Erst ab ca. 1970 formiert sich – zuerst in der anglophonen und analytischen Philosophie und mit Denkern wie Richard Ryder, Peter Singer und Tom Regan – eine fundierte und an Einfluss gewinnende philosophische Tierethik (vgl. Singer 1988, Wolf 2000, Wolf 2005, Wolf 2008). Ryder bringt den Begriff des Speziesismus in die Diskussion, Singer knüpft an den Utilitarismus an, und Regan vertritt eine quasi kantianische Position, um – mit den gleichen Zielen wie Singer, aber auf anderen Wegen – Tierrechte zu begründen.

Zum Autor
Reinhard Margreiter (* 16. August 1952 in Reith im Alpbachtal) ist ein österreichischer Autor und Philosoph, der sich mit Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Ernst Cassirer, dem Verhältnis von Mystik und Philosophie, mit Medienphilosophie und Tierphilosophie beschäftigt.

Der vorliegende Artikel ist die gekürzte Fassung eines Ringvorlesungs-Vortrags.

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