Andreas Niedermann
Habe ich Angst?
Vor Kühen?

Anfang der 80er Jahre wurde mir der Job eines Almhirten angeboten. Almhirte, ich? Nein. Ich wollte nicht. Es war damals angesagt, sich als Senner und Hirte zu verdingen. Back to the roots, sozusagen, zurück zu den Ursprüngen der „Swissness“. Oder so. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Ich sagte trotzdem zu, denn ich steuerte geradewegs auf die Obdachlosigkeit zu, außerdem war ich pleite, und mein Körper und mein Geist waren von diversen, fortgesetzten Exzessen aufgeschwemmt und abgeschlafft. Ein Sommer als Hirte in den Bergen würde all diese Probleme mit einem Schlag beseitigen. Unterkunft, Geld, und sichere Distanz zu den Verführungen der Großstadt.

Meine Kenntnisse der Hirterei waren nicht dürftig, sie waren nicht existent. Der Almmeister gab mir vor Ort äußerst vage Ratschläge, und umriss grob die Aufgaben meines Jobs. Und schon ging’s los. 72 Stück Jungvieh. Kälber und Färsen.

Dieser Job geriet zur schmerzvollsten Erfahrung meines bisherigen Lebens. Und wurde doch die beste aller Erfahrungen. Ich setzte mich in der Herde durch, wurde das Leittier. Ein Tier unter Tieren. Den Hund, den man mir als Unterstützung angedient hatte, lehnte ich ab. Hunde sind okay, aber ich ahnte, dass ich genug mit mir zu tun haben würde. Einen jungen, möglicherweise noch unerfahrenen Hund konnte ich nicht brauchen.

So lebten wir drei Monate in den Bergen. Die Tiere – und auch ich – entwickelten sich in dieser Zeit. Wir wurden fit. Und wild.

Als ein befreundeter Hirte seine großartig ausgebildete Bergamaskerhündin losschickte, um sechs meiner Färsen zu treiben, bildeten diese einen Halbkreis und stießen mit ihren Hörnern nach dem Hund, der hilflos kläffend und erfolglos hin und her lief. Die Färsen wussten nicht, was ein Hirtenhund ist. Es könnte irgendwas sein. Auf jeden Fall würde man dieses Etwas töten, wenn man es mit dem Horn erwischte. Ich musste hinuntersteigen und sie selber holen.

Ein ahnungsloser holländischer Wanderer beschloss einige Tage später auf der Alm sein Zelt aufzuschlagen und da zu nächtigen. Es dauerte nur Minuten, bis die Tiere das Zelt entdeckt und zertrampelt hatten. Seine Versuche, sie zu verscheuchen, misslangen. Sie reagierten einfach nicht auf das Schwenken eines Tuchs und seine peitschenden Hiebe mit dem Wanderstock.

Es genügten also wenige Wochen in Freiheit und menschlicher Absenz, um die domestizierten, harmlosen, schreckhaften und leidlich folgsamen Kälber und Färsen in eine Art Wildrinder zu verwandeln. Ich mochte das.

Aber wenn ich heute auf meinen Wanderungen Weiden mit Rindern zu queren habe, beobachte ich durchaus nervös das Verhalten der Tiere. Es müssen nicht mal „Weidefleischrinder“ mit Kälbern sein. Egal, ich traue ihnen nicht mehr.

Niemals zuvor, auch nicht als Kind, habe ich mich vor einer Kuh gefürchtet. Kühe waren gutmütige Tiere, die brav ihren Platz im Stall ansteuerten, denen man die Kette um den Hals band, die man hin wieder striegelte und die gröbsten trockenen Köttel vom Hintern schabte, Gras in die Krippen schippte und ihrem mächtigen schnaubenden Atem zuhörte.

Aber das ist irgendwie nicht mehr so. Heute weiß der Wanderer nicht mit Bestimmtheit, wen er da im Gras lagern sieht. Denn auch der Kontakt zwischen Landwirt und Tier ist nun eher maschinell, denn kreatürlich. Oder gar liebevoll. Wie damals. Das wirkt sich aus.

Also quere ich die Weiden wachsam und schnell, und bin darauf bedacht, Abstand zu halten.

Es ist alles ein bisschen seltsam.

Andreas Niedermann

Andreas Niedermann, 1956 in Basel geboren. Nach einer Laborantenlehre einige Jahre in Europa unterwegs. Informelle Ausbildung zum Schriftsteller in genau 50 ausgeübten Berufen. U.a. als Steinbrecher, Alphirte, Kranführer, Kinobetreiber, Krafttrainer, Koch und Theatertechniker. Seit 1989 mit Familie in Wien lebend. Gründete 2004 den Songdog Verlag. Publizierte einige Romane, Storybände und Novellen. Zuletzt „Blumberg 2 (Die Wachswalze)“ bei Edition BAES.

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