Nicole Staudenherz
Willkommen im Wilden Westen!
Warum Lynchjustiz keine Lösung ist.
Essay
Die Rückkehr der Wölfe: Kaum ein Thema erhitzt die Tiroler Gemüter so sehr wie dieses. Landwirte laufen Sturm, weil sie ihre Almtiere in Gefahr sehen. Weite Teile der Bevölkerung glauben allzu bereitwillig den medial aufgebauschten Mythos vom „bösen Wolf“.
Höchste Zeit für einen Faktencheck.
Kürzlich auf Social Media, in einer Almbauern-Gruppe: „Hostn scho daschossn?“ – „Schweigen“. Für Natur- und Tierschutzbewegte ist diese Wildwest-Mentalität schwer auszuhalten. So brüstete sich im Mai 2021 ein Tiroler öffentlich und mit Klarnamen auf Facebook, im Karwendel möglicherweise einen Wolf abgeschossen zu haben. Was tatsächlich passiert ist, werden die zuständigen Behörden herausfinden müssen – es gilt die Unschuldsvermutung.
Jedenfalls machte der Autor des Postings keinen Hehl daraus, dass er kompromisslos fürs Abschießen der Wölfe eintritt. Lynchjustiz ist aber keine Lösung. Und illegal ist sie obendrein. Denn Artenschutz ist europaweit Gesetz und nicht Geschmackssache. Zudem zeigen die positiven Erfahrungen aus unseren Nachbarländern ganz deutlich, dass eine friedliche Koexistenz von Mensch und Wolf möglich ist.
Hier kommen wir gleich zur Lieblingsbehauptung der Wolfsgegner: „Der Wolf gehört nicht hierher (und muss gewaltsam entfernt werden)“.
Der Wolf war hierzulande bis zu seiner Ausrottung vor ca. 150 Jahren ein fixer Bestandteil des Ökosystems. Führende Fachleute und Tierschutzorganisationen betonen, dass Wölfe einen wertvollen Beitrag für den Erhalt der Naturlandschaft liefern. Denn sie sind die Gesundheitspolizei des Waldes. Entgegen allen Klischees ernähren sie sich nämlich nicht von Schafen, Rotkäppchen oder deren Großmüttern, sondern in erster Linie von Wildtieren.
So betont der WWF Österreich auf seiner Website:
„Die Anwesenheit des Wolfes wirkt sich positiv auf die Gesundheit des Wildbestandes in unseren heimischen Wäldern aus. Das liegt daran, dass der Wolf die Wildtiere in unseren Wäldern, vor allem Rotwild, Rehe, Wildschweine oder Gamswild in guter Kondition hält. Denn ein altes, sehr junges oder krankes Tier ist weniger aufmerksam und leichter zu reißen als gesunde, flinke und wehrhafte Tiere. Außerdem können Wölfe kranke Tiere schon bemerken, noch bevor die Erkrankung für den Menschen sichtbar wird. Demnach fungieren Wölfe […] als „Gesundheitspolizei“ des Waldes, weil sie kranke Wildtiere viel effizienter aus dem Bestand entnehmen als jeder noch so eifrige Jäger. Mit dieser Fähigkeit helfen sie auch, die Ausbreitung von Krankheiten unter den Wildtieren zu reduzieren.“
Dieser Position schließen sich andere namhafte Organisationen wie der Naturschutzbund sowie auch international renommierte Wissenschaftler an, zum Beispiel die Diplombiologin und weltweit bekannte Wolfsforscherin Gudrun Pflüger.
Wölfe haben es also gar nicht in erster Linie auf landwirtschaftlich gehaltene Tiere abgesehen. Statistiken zeigen, dass sie vorwiegend Rehe und Rothirsche jagen und dass nur 1,7% ihrer Beute aus Nutztieren besteht. Schafe oder Ziegen reißen sie nämlich nur, wenn man sie ihnen ohne Herdenschutz als leichte Beute quasi auf dem Silbertablett serviert.
Und hier kommen wir zu einem weiteren oft gehörten Einwand: „Herdenschutz funktioniert nicht.“
Erfolgsbeispiele aus unseren Nachbarländern zeigen, dass sich Herdenschutzmaßnahmen sehr gut umsetzen lassen. Gerade die Schweiz mit ihrer alpinen Topographie könnte hier als Vorbild für Österreichs Bergregionen dienen.
In der Schweiz werden nämlich schon seit etlichen Jahren Herdenschutzhunde und andere Maßnahmen eingesetzt. Die Anzahl der Wolfsrisse konnte nachhaltig reduziert werden und die Schutzstrategien werden stetig evaluiert und verbessert.
Wissenschaftliche Erkenntnisse aus Tirol unterstützen diese Einschätzung. 2019 führten die AGRIDEA und das Büro Alpe im Auftrag der Tiroler Landesregierung eine Machbarkeitsstudie im Hinblick auf heimischen Almen durch. Das Ergebnis: Effektiver Herdenschutz ist auch hierzulande umsetzbar, zumindest für einen Teil der untersuchten Betriebe.
Zur Auswahl stehen Maßnahmen wie Behirtung, gezielte Weideführung, Zäune, Pferche und Schutzhunde. Diese seien angemessen zu kombinieren und an den individuellen Bedarf anzupassen.
Die Studienautoren betonen, dass die Bereitschaft zur Veränderung ein ebenso wichtiger Faktor sei wie das Vorhandensein öffentlicher Fördermittel:
„Für die Beurteilung der Machbarkeit von Herdenschutz müssen neben der technischen Machbarkeit auch sozioökonomische Aspekte mitberücksichtigt werden. Vor allem die Bereitschaft und Motivation der Betroffenen, Veränderungsprozesse anzugehen und mitzugestalten sind wichtig. Information, Prozessbegleitung und gesicherte finanzielle Rahmenbedingungen durch die Bereitstellung von öffentlichen Mitteln können dafür ebenso einen Beitrag leisten, wie eine gute Vertrauensbasis mit der landwirtschaftlichen Beratung und der Verwaltung des Landes Tirol. Die Beratung kann sich auf Almbewirtschafter und Hirten abstützen, die bereits Erfahrungen haben im Umgang mit betrieblichen Anpassungen sowie der Umsetzung von Herdenschutzmassnahmen in vergleichbaren Gebieten des Alpenraums.“
Die EU zahlt jährlich insgesamt etwa 6 Millionen Euro an 1700 Tiroler Almen. Herdenschutzmaßnahmen werden aber kaum umgesetzt. Was passiert mit dem Geld? Vorausgesetzt, das Geld würde korrekt eingesetzt, ließen sich spezifische Herdenschutzmaßnahmen auch in Tirol umsetzen.
Fest steht jedoch: Ohne Behirtung geht es nicht.
Natürlich lässt sich das Risiko von Wolfsrissen nicht auf Null reduzieren. Wer das erwartet, sollte der Fairness halber aber auch die anderen, teils erheblichen Risiken für Almtiere thematisieren. So kommt es im gebirgigen Terrain regelmäßig zu Abstürzen. Auch Unwetter sind eine große Gefahr für die Herden. 78.000 Schafe werden jährlich auf Tirols Almen aufgetrieben. Pro Jahr sterben etwa 5000 Schafe und Ziegen durch Gewitter, Absturz oder Krankheit. 133 Tiere wurden im Jahr 2020 von Wölfen getötet – im Vergleich zu den anderen Todesursachen eine verschwindend kleine Anzahl.
Das bedeutet: Durch eine Behirtung könnten gerade auch die Todesfälle durch Naturgewalten und Krankheiten reduziert werden. Wer redlich argumentiert, sollte zudem auch einmal das größte Lebensrisiko für so genannte Nutztiere zur Sprache bringen: Den gefährlichsten Beutegreifer der Welt, den Homo sapiens.
Denn Schafe, Ziegen und Co werden von uns Menschen gewöhnlich nicht als Kuscheltiere gehalten, sondern zur Gewinnung von Fleisch und anderen tierischen Rohstoffen wie Milch, Wolle etc. Somit liegt das Risiko für ein Schaf, nach einigen schönen Almsommern im Schlachthof getötet zu werden, bei 100 Prozent. Denn die Tiere werden ganz bestimmt nicht mit Samthandschuhen angefasst und schon gar nicht zu Tode gestreichelt. Die hierzulande beliebten Viehversteigerungen bedeuten für die sensiblen Tiere enormen Stress, und auch einer Hofschlachtung würde ein Schaf niemals freiwillig zustimmen. In Schlachthäusern geht es noch brutaler zu. Wer das einschlägige Bildmaterial gesehen hat, weiß, wovon wir sprechen.
Im schlimmsten Fall werden die Tiere nicht hier in Tirol „veredelt“, sondern per LKW oder Schiff über tausende Kilometer ins Ausland transportiert. Österreich exportiert jährlich rund 16.000 Schafe und Ziegen. Ein Großteil davon sind Zuchttiere. Die traurige „Erwerbsbiographie“ mit tödlichem Ausgang wiederholt und vervielfältigt sich für Schafe und Ziegen also ohne Ende. Rund 2400 Tiere werden in Drittstaaten verkauft. Dort werden sie oft mit sehr grausamen Methoden geschlachtet – Stichwort: Schächten.
Angesichts dieser Situation ist die Aufregung rund um die wenigen Wolfsrisse nur schwer nachvollziehbar. Geht es der Anti-Wolf-Fraktion möglicherweise doch nicht um die Liebe zu den Schafen, sondern ums Geschäft? Oder geht es um etwas ganz anderes? An dieser Stelle ist nämlich auch erwähnenswert, dass Landwirte für bestätigte Wolfsrisse Entschädigungszahlungen aus der Haftpflichtversicherung des Tiroler Jägerverbandes erhalten.
Weil die Pauschal-Argumente gegen Herdenschutzmaßnahmen insgesamt eher schwach fundiert sind, wird oft auf die hohen Kosten verwiesen: „Herdenschutz ist zu teuer.“
Was die Kosten anbelangt: Diese sind zwar beträchtlich, aber die Landwirte können umfangreiche Förderungen beantragen (siehe oben).
Auch folgende Behauptung wird oft geäußert: „Wölfe sind eine Gefahr für die Menschen“.
Die schnelle Erklärung: Wir Menschen schmecken den Wölfen nicht, weil sie unseren Geruch nicht ausstehen können. Und wir passen auch nicht ins Beuteschema, allein schon durch unseren aufrechten Gang. Der Wolf meidet im Normalfall jegliche Begegnung mit dem Menschen.
Eine große weltweite Studie mit Daten aus mehreren Jahrzehnten hat gezeigt, dass Übergriffe von Wölfen auf Menschen äußerst selten sind. Die wenigen Vorfälle, die überhaupt belegt sind, haben stattgefunden, weil die betreffenden Tiere an Tollwut erkrankt waren oder weil die Wölfe von Menschen angefüttert oder provoziert wurden.
Was hält uns also davon ab, eine friedliche Lösung zu finden? Diese Frage mögen sich die Wolfsgegner in einer ruhigen Minute einmal selbst beantworten.