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Alois Schöpf
Vernünftig leben
Oder:
Gebildete werden älter.
Anmerkung zur Lebensweisheit

Vor einigen Tagen berichtete ORF-Online von einer Untersuchung, wonach Höhergebildete länger leben.

Die Gesundheit ist offensichtlich doch zu nahe an den Genen, also an den körperlichen Veranlagungen, als dass daraufhin das Geschrei der „Wokes“ ertönt wäre: Seht her, auch die Gesundheit wird vererbt! Wie sie es tun, wenn sie verkünden: Bildung wird vererbt.

Was die Bildung betrifft, ist dies natürlich hanebüchener Blödsinn. Tatsächlich werden Begabungen und Talente vererbt – eine Behauptung, die derzeit fast schon als rassistisch gilt. Wenn, etwa im Bereich der Musik, aber es kann auch die Physik oder die Mathematik betreffen, aus einem Schüler nämlich kein Genie, im Falle der Musik kein Johann Sebastian Bach wird, sind die schlechten Lehrer daran schuld, was jedem, der die Musikszene ein wenig kennt, nur noch ein mildes Lächeln entlockt: Denn nirgendwo sonst fallen so unzweideutig wie in der Tonkunst – bei allem Fleiß und aller frühkindlichen Förderung – sosehr die Gene ins Gewicht. Das beginnt beim absoluten Gehör, den richtigen Lippen für ein Blasinstrument bis hin zu den taktilen Fähigkeiten langer und schneller Finger.

Die größten musikalischen Talente verkümmern jedoch, wenn sie nicht auf ein Elternhaus und auf Lehrende treffen, die diese fördern, indem sie zum Beispiel, oh Schreck oh Graus, Druck auf die jungen Leute ausüben, ihnen beibringen, dass ohne Üben nichts geht, für sie Nachhilfestunden organisieren, aber auch viel Geld für Auslandsaufenthalte und eine zukünftige Karriere ausgeben.

Bildung, die auf mehr oder weniger Talent basiert, wird eben nicht vererbt, sondern ist bei all jenen, die wollen, dass aus ihren Kindern etwas wird, ein Erziehungsauftrag und ein höchster Anspruch im Hinblick darauf, worin der Sinn des Lebens besteht. Anstatt über die Reichen herzuziehen, sollten unsere bildungsfernen Schichten sich an diesem Anspruch ein Beispiel nehmen und sich die Frage stellen, wie viel Zeit und Bemühen sie eigentlich in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren bereit sind.

Bildung ist eine kulturelle Selbstbeauftragung und eröffnet verbesserte Berufschancen. Mit Genen hat dies alles nichts zu tun. Mit Vernunft, Vernunftfähigkeit und Vernunftgebrauch hingegen sehr viel. Diese werden durch Bildung trainiert, und wenn dieses Training auch nur darin besteht, acht Jahre lang fassungslos über lateinischen Sätzen zu sitzen und sich die Frage zu stellen: Was bedeutet das alles?

Auch was die Gesundheit betrifft, spielen Gene wie in der Musik eine wichtige Rolle, was längst zu der teilweise gefährliches Wissen produzierenden Möglichkeit geführt hat, sich durch Genanalysen gesundheitliche Gefährdungspotentiale voraussagen zu lassen. Ob dies vernünftig ist oder nicht, weil es lange Schatten der Angst vorauswerfen kann, ist ebenso die Frage wie jene, ob man nie, manchmal oder regelmäßig zur Gesunden-Untersuchung gehen soll.

Auf der Basis von genetischen Grundlagen ist der Umgang mit der eigenen Gesundheit vor dem Hintergrund umfassender und neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse immer eine Frage der Vernunft und des vernünftigen Denkens, genau jener Fähigkeit also, die durch Bildung trainiert wird.

Damit muss es wie in der Musik heißen: Wer noch so begabt ist für ein gesundes und langes Leben, aber zugleich zu unvernünftig, um mit diesen guten Voraussetzungen umzugehen, läuft Gefahr frühzeitig zu sterben. Der Varianten des nachhaltigen Selbstmords (und hier passt das Wort ausnahmsweise einmal, weil der Täter sich ja unfreiwillig selbst tötet, also ermordet) gibt es bekanntlich genügend: Von waghalsigen sportlichen Betätigungen über Stress in der Arbeit bis hin zu Drogenmissbrauch, worunter vor allem unsere kulturell anerkannten Selbsttötungsmethoden Rauchen und Saufen zu verstehen sind.

Die Ratgeberecken in den Buchhandlungen quellen über von abstrusesten Werken voll von Ratschlägen, die Fährnisse des Lebens zu meistern. Werke mit dem simplen Titel „Vernünftig leben“ wird man aller Wahrscheinlichkeit nach selten finden. Mit dieser Methode ist nämlich kaum ein Buch zu füllen und ein Geschäft zu machen, weil vernünftig eben ganz im Sinne unseres Weltweisen Immanuel Kant in erster Linie bedeutet, seinen eigenen Verstand ohne die Hilfe eines anderen zu gebrauchen.

Das ist nämlich, wie ich aus ganz persönlicher Erfahrung und aus vielen Gesprächen weiß, auch im Hinblick auf die eigene Gesundheit wohl das Schwierigste am sogenannten vernünftigen Leben: dass es eben nicht für groß angelegte und einfache Rezepte taugt wie etwa: Am Abend nichts essen! Kein Eiweiß! Keine Kohlenhydrate! Kein Fleisch, nur Gemüse und Obst! Und das alles bei Vollmond!

Nein, jeder ist verschieden, womit wir wieder bei den Genen wären, und jeder muss daher für sich selbst herausfinden, was es für ihn bedeutet, vernünftig zu leben. Natürlich gibt es allgemeine Grundsätze, aber auch die gelten nicht immer und in gleicher Weise: Ob zum Beispiel jemand ausgiebig frühstückt oder nur einen Kaffee trinkt. Ob jemand am Abend ein Glas Wein genießt oder ob dies für einen anderen schon zu viel ist. Ganz abgesehen von der Frage, zu welchen Ärzten man geht, zu welchen Untersuchungen und wie oft.

Am Selbstdenken führt in all diesen Fällen kein Weg vorbei. Selbstdenken kann man jedoch, vor allem in Bezug auf sich selbst, nur dann erfolgreich und präzise, wenn man es ein Leben lang gelernt und eingeübt hat wie ein schwieriges Musikinstrument. 

Je nach Erfolg und bei etwas Glück, das man immer benötigt, besteht dann die Chance auf ein längeres Leben. Bei Gebildeteren eben deshalb mehr, weil sie durch ihre Bildungsanstrengungen den Vernunftgebrauch, und somit das Selbstdenken besser gelernt haben.

Hinweis: https://science.orf.at/stories/3221045/

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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