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Alois Schöpf
Der Zug zum Höheren
Oder:
Pierre Bourdieus Theorie von „Die Feinen Unterschiede“
erklärt, warum die Innsbrucker Promenadenkonzerte
von der Kulturberichterstattung ignoriert werden.
Essay

Seit dem 8. Juli laden die Innsbrucker Promenadenkonzerte wie jedes Jahr allabendlich in den akustisch und architektonisch ideal für Konzerte geeigneten Innenhof der Kaiserlichen Hofburg ein.

Eröffnet wurde die Konzertreihe dieses Jahr von einem der weltweit besten staatlichen Repräsentationsorchester, der Royal Netherlands Army Band „Johan Willem Friso“ und dem international renommierten Bassbariton Nico Wouterse mit der Ouvertüre zur Oper Wilhelm Tell von Gioachino Rossini, der Arie Die Frist ist um aus Der Fliegende Holländer von Richard Wagner und vielen anderen Werken der klassischen Musik.

Nicht minder spektakulär ging es am darauffolgenden Montag weiter: Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck unter der Leitung von Bernhard Sieberer präsentierte Carl Orffs Carmina Burana mit einem Chor von 160 Sängerinnen und Sängern inklusive Kinderchor und den Ensemblemitgliedern des Tiroler Landestheaters Annina Wachter, Joaquin Asiain und Alec Avedissian.

Die beeindruckende, monumentale Aufführung genossen neben Landeshauptmann Anton Mattle und dem Bürgermeister von Innsbruck Georg Willi im vollbesetzten Innenhof ca. 1200 begeisterte Besucherinnen und Besucher.

Das Concertgebouw Orchester aus den Niederlanden wiederum zählt neben den Wiener und den Berliner Philharmonikern unter Fachleuten zu den besten Symphonieorchestern weltweit. Ein acht-köpfiges Bläserensemble des Orchesters präsentierte am Tag nach dem Konzert des TSOI exquisite Kammermusik von Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven.

Diesem Konzert der Holländer schloss sich tags darauf die heimische Brassband R.E.T. unter der Leitung des renommierten Trompeters und Professors des Innsbrucker Konservatoriums Andreas Lackner an.

Es folgten das wie alle ausländischen Militärorchester durchwegs aus professionellen Musikern bestehende Herzogliche Militärorchester aus Luxemburg, die Sächsische Bläserphilharmonie, das einzige zivile professionelle Blasorchester Deutschlands, und, ebenfalls vor ausverkauftem Innenhof, die Brassband Fröschl Hall, die Lungau Bigband mit dem großartigen Soul- und Jazzsänger Juros Peric und, ganz im Gegensatz dazu, zuletzt das Orchester der Akademie St. Blasius unter Karl-Heinz Siessl mit einem perfekt ausmusizierten altösterreichischen Unterhaltungsprogramm.

Hier soll vorerst die Zwischenbilanz enden, in der Hoffnung, dass sich vielleicht jener Missstand, der im Folgenden erörtert werden soll, während der nächsten zwei Wochen doch noch zum Besseren wendet. Denn Selbsterkenntnis kommt nie zu spät. Und gerade sie wäre im Hinblick auf eine derzeit auch sonst zunehmend verkommene und korrupte Kulturberichterstattung hoch an der Zeit.

Tatsache ist nämlich, dass die Konzerte der Innsbrucker Promenadenkonzerte schon seit der Zeit, als ich sie noch leiten durfte, und trotz eines oft international bedeutsamen Angebots von den hochmögenden Damen und Herren der Kulturredaktionen konsequent ignoriert werden und Berichte, wenn überhaupt, bestenfalls über private Interventionen und nach Absonderung einer entsprechend langen Schleimspur seitens des Veranstalters erfolgten.

Keine Rede davon, dass das Festival jemals in diesem Ausmaß geschätzt und gar geliebt worden wäre, wie es vom Publikum geschätzt und geliebt wird. Und keine Rede davon, dass die Innsbrucker Promenadenkonzerte im eigenen Land in gleicher Weise, wie es schon seit Jahren im europäischen Ausland der Fall ist, als erste Adresse für ambitionierte und hochkulturell orientierte Bläsermusik zur Kenntnis genommen würden.

Wie ist es etwa zu erklären, dass das Orchester des Amerikanischen Präsidenten, für das immerhin ein Paul Hindemith seine 4. Symphonie B-dur schrieb, nach seiner ersten Tournee, die unmittelbar in der Nachkriegszeit erfolgte, ausgerechnet auf ihrer Jahrzehnte später erfolgenden Europareise neben Kerkrade in den Niederlanden und Prag ausgerechnet in Innsbruck Station machte? Eine Tatsache übrigens, die auch in beleidigender Weise von der provinzverliebten Tiroler Politikerkaste nicht wahrgenommen wurde.

Um die Ursachen für so viel Ignoranz speziell der Kulturberichterstattung zu eruieren, reicht der Verweis auf Neid und Missgunst in Anbetracht ansonsten durchaus kollegialer Verhältnisse nicht aus. Viel ertragreicher dürfte es in diesem Fall sein, die Beobachtungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, wie er sie in seinem umfangreichen Hauptwerk Die feinen Unterschiede darlegt, zu Rate zu ziehen.

So fasst etwa der Suhrkamp Verlag unter dem Titel Die gnadenlose Herrschaft des guten Geschmacks die Thesen Bourdieus wie folgt zusammen:

Zwischen der Position, die jemand in der Gesellschaft einnimmt, und seinem Lebensstil und seinen Vorlieben besteht ein Zusammenhang. Bourdieu zeigt aber, dass dieser Zusammenhang nicht so einfach ist, wie man es sich gewöhnlich vorstellt, weil nämlich unser Geschmack und unsere Vorlieben selbst Mittel sind, um unsere soziale Position zu behaupten und zu legitimieren. Es ist ein relativ düsteres Bild, das Bourdieu da von der Gesellschaft zeichnet: Überall kämpfen Individuen um ihre soziale Position, mit allen Mitteln des guten Geschmacks, selbst noch beim Musikhören.

Und in Wikipedia ist über das Werk und die Thesen Bourdieus zu lesen:

Bourdieu geht davon aus, dass Geschmack nichts Individuelles darstellt, sondern dass dieser immer etwas von der Gesellschaft Geprägtes ist. Geschmack sei also keine Eigenheit des Menschen, die von Natur aus jeder hat, sondern rühre immer von der Art her, wie jemand sozialisiert wurde und wie und in welchem sozialen Umfeld er sich bewegt. Daher sei die soziale Herkunft, zu der immer ein bestimmter Habitus gehöre, das Maßgebliche.

Das Kulturelle ist demzufolge nichts Autonomes oder Spontanes, sondern immer Ergebnis der jeweiligen Sozialisation, wie Bourdieu anhand zahlreicher Alltagshandlungen belegt. Durch die Etablierung von Geschmacksrichtungen erfolge eine Stabilisierung sowie Manifestierung sozialer Unterschiede in einer Gesellschaft. Die verschiedenen „Geschmacksklassen“ reproduzieren sich demnach auch selbst.

Vor diesem Hintergrund dürften die Ursachen der heimischen Ignoranz ziemlich einfach zu beschreiben sein:

Kulturredakteurinnen und Kulturredakteure, die einerseits in den Redaktionen eine eher untergeordnete Stellung einnehmen und es andererseits in gnadenloser Konkurrenz mit einem Überangebot idealistischer und ins falsche Berufsfeld geratener Schreibwilliger auf oft undurchsichtigen, wenn nicht gar parteipolitischen Wegen in ihre Position gebracht haben, arbeiten in allererster Linie dafür, ihre stets prekäre Position innerhalb eines Medienunternehmens zu halten und, sofern sie es nur zum miserabel bezahlten freien Mitarbeiter gebracht haben, hektisch zu verbessern.

Oft entstammen speziell Kulturjournalistinnen und Kulturjournalisten einem bildungsbürgerlichen Milieu, dem sie aufgrund ihrer unvorsichtigen Berufswahl neben all den Rechtsanwälten, Ärzten, Unternehmern, Touristikern oder auch nur gut besoldeten Lehrern und Lehrerinnen in ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis ökonomisch weit unterlegen sind. 

Oder sie haben sich aus kleinbürgerlichen oder gar bäuerlichen Verhältnissen, denen unreflektiert jegliche Art von Bläser- und Blasmusik zugezählt wird, in die intellektuelle Elite hinaufgearbeitet, wo es nun zu allererst gilt, durch großbürgerliches Gehabe, wozu das Faible für Oper und klassische Musik zählt, die niedere Herkunft vergessen zu machen und, meist ohne gut bestelltes Elternhaus im Hintergrund, die Unfähigkeit, als Journalist ökonomisch mit der Mittelklasse mitzuhalten, durch die Anhäufung kulturellen Kapitals, wie Bourdieu es beschreibt, wettzumachen.

Es versteht sich, dass aufgrund solch lastender Karrierezwänge Kulturredakteurinnen und Kulturredakteure in den seltensten Fällen den Freiraum haben, ihre Berichte nach sogenannten objektiven Kriterien im Dienste an der Kunst und an Lesern, Zuhörern und Zuschauern auszuwählen.Ganz im Gegenteil: ihre Entscheidungen sind stets davon abhängig, inwieweit ihnen eine Berichterstattung nützt und sie persönlich weiterbringt, gilt es doch, sich zumindest durch Artikel oder Hörfunk- und Fernsehbeiträge einen Status zu erschreiben und zu erreden, der es möglich macht, im Rahmen etwa der Salzburger Festspiele oder zumindest der Tiroler Festspiele Erl nicht nur in Gesellschaft der umherpromenierenden Reichen und Schönen als gleichwertig anerkannt, sondern sogar von den Künstlern als marketingförderndes oder marketingschädigendes Element am Markt der Aufmerksamkeit adoriert zu werden.

Diese Umwegrentabilität können die Innsbrucker Promenadenkonzerte schon deshalb nicht bieten, weil sie von ihrem Prinzip her darauf angelegt sind, durch niedrige Eintrittspreise und einen niederschwelligen Zugang die großen Werke der Kunstmusik bei abendlichen Freiluftaufführungen, wie dies bereits zu Zeiten der Wiener Klassik üblich war, an ein Publikum heranzutragen, das für die Klassik inklusive klassischer Moderne als ein zentrales Element europäischer Identität begeistert werden soll. Besonders wichtig ist eine solche Begeisterung auch für die heimische Breitenkultur, die, flankiert von einer geradezu skandalösen kulturhistorischen Unbildung, längst zum Opfer eines durchkommerzialisierten Musikmarktes geworden ist.

Dieses Ziel, dem sogenannten einfachen Volk als Brücke für große Kunst zu dienen und mit diesem Bemühen Einheimische und Touristen zu erreichen, die aufgrund ihrer Sozialisation oder ihrer ökonomischen Verhältnisse der sogenannten Hochkultur eher fernstehen, wirft für die Kulturberichterstattung auf dem Weg nach oben zu wenig kulturelles Kapital ab. Daher unterbleibt sie.

Daher kann denn auch ein großartiges und im Übrigen äußerst erfolgreiches Projekt wie die Innsbrucker Promenadenkonzerte konsequent trotz jährlich ca. 20.000 Besucherinnen und Besuchern ignoriert werden. Vor allem zur Strafe auch dann, wenn führende Positionen in einem Orchester und zugleich in einem Medium, einer Bürokratie oder in Jurys nicht so wirkungsmächtig sind, dass die hohen Qualitätsansprüche, die notwendig sind, um zur Konzertreihe eingeladen zu werden, im Sinne des hierzulande üblichen eine Hand wäscht die andere abgesenkt werden.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Helmut Schiestl

    Vielleicht sollte man das noch ergänzen durch die Tatsache, dass auch auf Ö1 kaum oder überhaupt nie Blasmusik gespielt wird. Höchstens mal ein Marsch, wie neulich in der Sendung „Tolle Titel – Starke Stücke“, einem Hörer/innen-Wunschkonzert, das immer an den Sonntagen im Sommer um 13 Uhr gesendet wird. Aber sonst, nichts. Blasmusik wird immer noch mit Bierzelt(un)Kultur- und religiösem oder profanem Brauchtum verbunden, und da kann man manchmal Ausschnitte daraus hören. Da spielt man dann lieber noch die Sinfonie oder das Kammermusikwerk eines meistens völlig zurecht vergessenen Komponisten oder – in letzter Zeit häufiger! – Komponistin aus der Vorklassik oder Klassik.

  2. Margit Jordan

    Margit Jordan bei Alois Schöpf: Der Zug zum Höheren. Oder: Pierre Bourdieus Theorie von „Die
    Feinen Unterschiede“

    Ich finde diesen Beitrag über die mediale Vernachlässigung der Tiroler Kulturszene – insbesondere
    der Innsbrucker Promenadenkonzerte – treffend und notwendig. Der Zusammenhang mit den
    Theorien des französischen Philosophen und Sozialwissenschafters Bourdieu ist einleuchtend – es deckt interessante Hintergründe des sozialen Verhaltens auf, das die „freien Medien“ auch mitprägt. Sowohl mächtige wirtschaftliche Interessen als auch politische Abhängigkeiten spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der medialen Beachtung und Bewertung kultureller Ereignisse. In den regionalen Kulturredaktionen sollte jedoch vor allem auch das regionale Kulturgeschehen einen Platz finden: unabhängig davon, ob positiv oder negativ beurteilt. Doch die Nichtwahrnehmung und das Totschweigen lassen leider einen schwer verkraftbaren Nachgeschmack zurück – die heimischen Kulturinitiativen und auch ihr Publikum fühlen sich dann zu Recht medial übersehen!

    Margit Jordan, langjährige Programmgestalterin im Turmbund – Gesellschaft für Literatur und Kunst

  3. Reinhard Walcher

    Zum Artikel über die
    Innsbrucker Promenadenkonzerte
    von Alois Schöpf

    Die beschämende Ignoranz der Kulturredaktionen (insbesondere der Tiroler Tageszeitung) gegenüber allen kulturellen Geschehens, das unter respektive über ihrem Horizont liegt, wird von Alois Schöpf zu Recht am Beispiel der wunderbaren, im Kulturbuch der Zeitungen totgeschwiegenen Promenadenkonzerte beklagt und ausführlich diagnostiziert. Kunst- und Kulturfunktionärinnen sowie deren schreibende Komplizinnen definieren Kultur nach ihren von Ignoranz, Standesdünkeln, Korruption (?) und verstaubtem Zeitgeist, aber auch von Nichtwissen oder Nichtwissen-Wollen geprägten Glaubenssätzen. Daraus resultiert auch die an längst vergangene Zeiten erinnernde Einteilung durch die oben Genannten in die staatlich subventionierte Hochkultur, in die vom Publikum geliebte Kleinkunst – wo bleibt hier der Aufschrei der politisch Korrekten, es müsste im Neusprech ja vertikal herausgeforderte Kunst heißen – und schließlich weit abgeschlagen die respektlos als Blasmusik (Achtung: Bierzeltromantik!) desavouierte, großartige Musik der Bläserorchester. Ähnlich verhält es sich in der bildenden Kunst, wo es vielleicht noch schlimmer zugeht, da es in dieser zum Unterschied zur Musik weniger auf handwerklich und künstlerisch definierte Kriterien ankommt. Wodurch die darüber Schreibenden sich in Selbstherrlichkeit gegenseitig übertreffen können. Das erspart ihnen aber nicht die Blamage, 25 Jahre lang ein europäisches, musikalisches Highlight übersehen (?), überhört (?), vergessen (?) oder absichtlich ignoriert zu haben. Und der gewaltige Publikumserfolg der internationalen Innsbrucker Promenadenkonzerte wird sie womöglich noch darin bestätigen, auf der richtigen Seite – nämlich der hochsubventionierten (deshalb Hochkultur genannten?) Staatskunst – zu stehen. Gratulation, Herr Schöpf. Leider wird Ihr Artikel in den Köpfen der betreffenden Damen und Herren nichts bewirken, eher im Gegenteil.

    Mit freundlichem Gruß Reinhard Walcher

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