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Alois Schöpf
Die Macht der Nüchternheit
Zu Meriel Schindlers Buch
„Café Schindler
Meine jüdische Familie, zwei Kriege
und die Suche nach Wahrheit“
Notizen

Note 1
Als ein von Natur aus durch seinen Dialekt sprach- und schreibbehinderter Tiroler, der froh sein muss, sich nach Jahrzehnten einen halbwegs eleganten Stil erarbeitet zu haben, könnte einen der schiere Neid fressen, wenn man bedenkt, dass die Autorin Meriel Schindler Anwältin für Arbeitsrecht ist und mit ihrer Familiengeschichte aus dem Stand ein Buch vorgelegt hat, das mit kluger, abwechslungsreicher Dramaturgie und einer einfachen und klaren Sprache trotz deprimierenden Inhalts ein fesselndes und informatives Lesevergnügen bietet.

Note 2
Dass ihr bereits mit viel Lob bedachtes Café Schindler nicht nur von Tirol und Innsbruck handelt, was vielleicht den einen oder anderen Touristiker dazu veranlassen könnte, zumindest in der Zwischensaison wieder einmal ein Buch in die Hand zu nehmen, sondern dass es auch von einem Café, von Apfelstrudel, Linzertorte und jenem gesellschaftlichen Zentrum handelt, in dem in unserem katholischen Österreich immer schon die sonst argwöhnisch beäugte Aufklärung in Form von konspirativen bis heftigen Debatten ihren Platz fand, ist ein kulinarischer Mehrwert des Buches, der sich ganz am Ende auch in einigen interessanten Rezepten aus dem ehemaligen Angebot des Café Schindler manifestiert.

(Zitat) Die Linzer Torte ist eine besonders leckere Torte. Während der Apfelstrudel sich in der ganzen Welt verbreitet hat, ist die aus Linz stammende und angeblich älteste Torte der Welt außerhalb Österreichs relativ unbekannt.

Geradezu rührend ist auch die Begegnung Meriel Schindlers mit dem neuen Besitzer des Das Schindler Bernhard Baumann, der zuerst einmal Angst hat, auf die nicht ausdrücklich erlaubte Verwendung des Namens Schindler angesprochen zu werden, eine Begegnung, die sich zuletzt jedoch in gegenseitiger Hochachtung und Freude darüber auflöst, dass von der bedeutenden Familie und ihren Aktivitäten zumindest der Name in Innsbruck übrig geblieben ist.

Note 3
Man könnte lange darüber debattieren, ob die Entwicklung des Romans nicht auch darauf zurückzuführen ist, dass man in den vergangenen Jahrhunderten kaum konkret über die Zeitläufte und die politischen und psychologischen Basics einer Gesellschaft berichten konnte, weshalb man einschlägige Erfahrungen und Beobachtungen, um der Zensur und allfälligen Repressalien zu entgehen, hinter dem Schleier der Fiktion zu verbergen hatte. Ob es auch heute noch möglich ist, mit einer solchen gleichsam poetischen Verfremdung, abgesehen von der reinen Befriedigung des Unterhaltungsbedürfnisses der Leser, etwas Relevantes über das konkrete Leben auszusagen, ist in einer Zeit der allgemeinen Meinungsfreiheit und der alles dominierenden exakten Wissenschaften fraglich geworden, was auch der wahre Grund dafür sein dürfte, dass die Verkaufszahlen für Belletristik im Buchhandel kontinuierlich zurückgehen.

Meriel Schindler gelingt das Kunststück, als nüchterne Historikerin zugleich durch den geschickten Einsatz dramaturgischer Mittel, die vom raschen Orts- und Zeitwechsel bis hin zum sich ständig verändernden Erzählstandpunkt reichen, das Panorama von Ereignissen vor dem Leser auszubreiten, die sich tatsächlich so ereignet haben. Das Erzählen wird zum Medium von Fakten, denen mit dem Einwand, alles sei nur erfunden, nicht ausgewichen werden kann.

Aus dieser Vereinigung von professioneller Erzählkunst und der Genauigkeit des Historikers entwickelt sich (und das ist nun einmal die nicht weiter hinterfragbare Fähigkeit eines Schriftstellers im Gegensatz zum sein Wissen staubtrocken präsentierenden und dabei oft Langeweile vermittelnden Wissenschaftler), obgleich nur die Geschichte einer konkreten Familie, der ganze Horizont einer Zeit, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht.

Note 4
Die perfideste Form des zeitgeistigen Antisemitismus besteht darin, den Holocaust dazu zu benützen, sich moralistisch über seine Mitmenschen zu erheben, und all jene, die auf diese Art der obszönen Selbsterhöhung allergisch reagieren, als Antisemiten abzuqualifizieren. Es ist wohl das größte Verdienst von Meriel Schindler gleichsam in Anlehnung an den sehr weitschichtig Verwandten und Angestellten der Generali-Versicherung in Prag Franz Kafka, der die Prosa seiner Gutachten zu Weltliteratur adelte, die Nüchternheit ihres Berufs als Rechtsanwältin und die dadurch bedingte Enthaltsamkeit in Bezug auf Vorverurteilungen zur Grundlage der schriftstellerischen Arbeit als Familienhistorikerin gemacht zu haben. Genau dadurch, dass der Leser vom Autor nie moralistisch bedrängt wird, entwickelt das Buch jedoch eine Überzeugungskraft, die im Hinblick auf die auch in Tirol als Schlamperei getarnte Verweigerung einer Aufarbeitung der Vergangenheit, der Schrecken des Dritten Reichs und der Judenverfolgung nachdenklich stimmt und beschämt.

Note 5
Seit Jahren verfolge ich den treuherzigen Versuch der Kulturabteilung der Stadt Innsbruck, durch die Aktion Innsbruck liest möglichst viele Bürger für die Lektüre literarisch hochwertiger Bücher zu gewinnen. Dass die für die Auswahl solcher Bücher zuständigen Jurys mit todsicherem Händchen dabei meist Werke auswählen, die aufgrund ihrer Irrelevanz und Verschrobenheit den gutwilligsten Leser dazu bringen, seine Finger in Zukunft von der Literatur zu lassen, ist eine geradezu alltägliche Groteske unseres korrupten und von eingebildeten GermanistenInnen und BuchhändlerInnen beherrschten Literaturbetriebs.

Café Schindler wäre ein Buch, das allen Innsbruckern ohne Bedenken als geradezu unumgängliche Lektüre zwecks zeitgeschichtlicher Selbstverortung empfohlen bzw. im Rahmen von Innsbruck liest geschenkt werden könnte. Wie nicht anders zu erwarten, ist dieses Buch jedoch nicht ausgewählt worden, sondern jenes eines gewissen Thomas Arzt, der sich auf fiktionaler Ebene ebenso mit dem Dritten Reich beschäftigt, und über dessen Werk Helmuth Schönauer in seiner Besprechung im vorliegenden schoepfblog schreibt:

Der Autor malt sich eine Geschichtslage rund um das Jahr 1938 zusammen … Natürlich hat die „Gegenstimme“ eine starke Moral. Widerstand lohnt sich am Papier… Vielleicht nimmt sich die Jury im nächsten Jahr einen Roman vor, der tatsächlich als Gegenstimme im Einheitssound des Literaturmarkts liegt und nicht bloß beschreibt, wie man eine solche als Fiktion zelebriert.

Zum Glück ist Café Schindler so gut geschrieben, dass es auf die hilflosen Förderversuche der Innsbrucker Kulturbeamtinnen nicht angewiesen ist. Es wäre nämlich über Innsbruck hinaus das ideale Jungbürgerbuch für alle Tiroler, die bei einer Umfrage über das Dritte Reich und den Holocaust wahrscheinlich tatsächlich so unwissend sind, wie unsere Elterngeneration es zu sein vorgab.


Meriel Schindler: Café Schindler. Meine jüdische Familie, Zwei Kriege und die Suche nach Wahrheit. Berlin Verlag. 2. Aufl. 2022. Originalausgabe 2021. The lost Café Schindler. Übersetzung: Erica Fischer. 477 Seiten. EURO 26,00

Thomas Arzt: Die Gegenstimme. Roman. (= Innsbruck liest 2022.).Residenz 2021. 192 Seiten. EUR 20,-.

Helmuth Schönauer bespricht „Die Gegenstimme“: https://schoepfblog.at/helmuth-schoenauer-bespricht-thomas-arzt-die-gegenstimme-roman-innsbruck-liest/

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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