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Alois Schöpf
Kirchenmusik und religiöse Indifferenz
Die Aufgabe von Blas- und Bläsermusik
im Rahmen religiöser und säkularer Rituale
Vortrag
1. Teil

Der unten stehende Vortrag wurde anlässlich eines interdisziplinären Symposiums des Zentrums für Militärmusik der Deutschen Bundeswehr am 25. August 2023 in Bonn gehalten. Die Analyse stieß dabei durch ihre klare Sprache auf die allgemeine Anerkennung des Publikums, in dem sich viele Kapellmeister und Blasmusikkundige aus mehreren Ländern befanden. Selbstverständlich wurde der Text neben seiner Aufnahme in einen Sammelband des Zentrums für Militärmusik auch der Österreichischen bzw. der Tiroler Blasmusikzeitung zum Abdruck angeboten. Beide Organe lehnten dankend ab


Grüß Gott, meine Damen und Herren!

Wie sie meinem Gruß und meinem Akzent entnehmen können, komme ich aus Tirol, einem Land, das noch vor 150 Jahren, also am Ende des 19. Jahrhunderts mehrheitlich das kaiserliche Toleranzpatent von 1781 ablehnte, das die freie Religionsausübung von Protestanten und Juden vorsah, und ein Land, in dem noch zur gleichen Zeit die allgemeine Schulpflicht von 1774 durchgesetzt werden musste, weil die Bauern ihre Kinder lieber als Arbeitssklaven am Feld einsetzten, als sie den Errungenschaften des Lesens, Schreibens und Rechnens zuzuführen.

Ich komme aus einem Land, in dem heute noch beim traditionellen Konzert der Original Tiroler Kaiserjägermusik alle zur Kaiserhymne des untergegangenen Habsburgerreiches aufstehen und in dem in den meisten Dörfern bei den Frühjahrskonzerten der heimischen Musikkapellen die Sitte herrscht, wie in einem Gottesstaat die hohe Geistlichkeit vor allen anderen zu begrüßen.

Ein Land auch, in dessen staatlichem Radiosender in kunstdialektaler Anbiederung an ein fiktives, christgläubiges Publikum hohe Festtage wie etwa Maria Empfängnis oder Fronleichnam angekündigt werden, als würde noch irgendjemand wissen, was da eigentlich gefeiert wird, und als würde daran überhaupt noch jemand glauben.

Womit wir nach einer gleichsam launischen Ouvertüre im Dienste der Aufklärung bzw. ihrer Verhinderung den Boden der statistischen Realität erreicht haben, die trocken besagt, dass 77 Prozent der Österreicher sich zu einer Religion bekennen, zum überwiegenden Teil natürlich zum Katholizismus, zugleich jedoch nur 30 % glauben, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, nur 18 % glauben, dass Christus in den Himmel aufgefahren ist, nur 16 % glauben, dass Christus zur Rechten des Allmächtigen sitzt, und gar nur 8 % glauben, dass die katholische Kirche heilig ist. 

Die vatikanischen Moralvorstellungen dieser Kirche werden übrigens nur von 5 % geteilt, wie auch nur 11 bis 13 % selbst im Heiligen Land Tirol zu den regelmäßigen Kirchenbesuchern gehören.

Alle diese Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: die Zeiten, in denen die christliche Religion weltanschaulich die Gesellschaft dominierte und formatierte, sind vorbei. An die Stelle trat eine, wie es heißt, pluralistische Gesellschaft, in der sogar im katholischen Österreich die Ungläubigen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft darstellen würden, wenn ihr Wesensmerkmal nicht eben darin bestünde, ungläubig zu sein.

Die Zahlen, die ich hier aus Österreich zitiere, können nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen werden, zumal die Religion in den ehemaligen Gebieten der Deutschen Demokratischen Republik eine viel geringere Rolle spielt als im Westen Deutschlands und zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern sich lediglich 3 % zum Katholizismus und 18 % zum evangelischen Glauben, in Sachsen 4 % zum Katholizismus und 21 % zum evangelischen Glauben bekennen. 

Brandenburg hingegen weist ca. 80 %, Berlin ca. 63% Konfessionslose aus. Die Säkularisierung ist in Deutschland also, abgesehen von dem an Tirol angrenzenden Bayern, nicht nur auf den Osten seines Bundesgebietes bezogen weiter fortgeschritten als in Österreich.

Das malerische Bild einer Prozession, die sich mit klingendem Spiel durch ein Tiroler Dorf bewegt und die auch von unseren nördlichen Nachbarn, von Ihnen also, als beeindruckendes folkloristisches Schauspiel von Alpen-Aborigines bestaunt wird, ist also, wenn man es weltanschaulich genau nimmt, ein Selbstbetrug der Sonderklasse. 

Wenn man es hingegen dem verschwommenen Begriff der europäischen Identität zuordnet, treffen derlei Bräuche, auch wenn sie eindeutig als christlich zu verorten sind, weitab von jedem konkreten religiösen Glaubensbekenntnis als ein Zeichen europäischer Identität auf eine Zustimmung von über 70 % im Rahmen des Eurobarometers. 

Zwischen den mageren 5% der Zustimmung zu offiziellen vatikanischen Moralvorstellungen und diesen über 70% Bejahung unserer europäischen Identität, sprich Lebens- und Festkultur, ist also das Betätigungsfeld im Zusammenhang mit unserer Fragestellung abgesteckt.

Essenziell ist dabei die Frage, mit welcher der beiden statischen Vergleichsgrößen sich die mit erheblichem finanziellen Aufwand alimentierten staatlichen Militärmusikkapellen, aber auch die mit in ihrer Gesamtheit von den Musikschulen bis hin zu den Musikheimen großzügigen Subventionen bedachten zivilen Musikvereine identifizieren?

1. Sind sie noch immer wie vor 200 Jahren, als die Blasorchester als musikalische Werbeorgeln des Nationalismus erfunden wurden, klingende Träger einer authentischen religiösen Praxis, die in Wahrheit, wenn es nach den statistischen Fakten geht, längst zum Ritual einer konservativen und überalterten Minderheit geworden ist?

2. Oder sind sie mit religiösen Chiffren und Klängen operierende Schausteller, deren Aufgabe darin besteht, möglichst professionell etwas darzustellen, von dem ohnehin alle wissen, dass es keine Gültigkeit mehr hat, das aber als farbenprächtige Tradition, inhaltlich ausgehöhlt, fortgeführt und oftmals durch Hereinnahme sogenannter moderner, popmusikalischer Elemente als immer noch für die Gegenwart weltanschaulich relevant vermarktet werden soll?

3. Oder verstehen sie sich – wir uns lediglich als eine spezifische Form von Orchester, das im Unterschied zum klassischen Symphonieorchester aus Blasinstrumenten besteht, wodurch Auftritte unter Freiluftbedingungen möglich sind. Orchester aber auch, die sich ebenso wie die klassischen Symphonieorchester weder mit einer konkreten Religion, noch mit einer bestimmten Politik, sondern bestenfalls mit jenem Verfassungspatriotismus identifizieren, wie er, von Dolf Sternberger entwickelt, von Jürgen Habermas wieder in die politische Debatte eingeführt wurde und wie er im Grunde für alle Bürgerinnen und Bürger eines Staates und der EU gilt.

Unter Verfassungspatriotismus ist gemäß Wikipedia im übrigen die Identifikation des Bürgers mit den Grundwerten, Institutionen und Verfahren der republikanischen politischen Grundordnung und Verfassung und die aktive Staatsbürgerrolle des Bürgers zu verstehen.

Und der Text fährt fort: Das Sich-Einbringen in das politische Geschehen steht nach der Nationsauffassung an zentraler Stelle bei diesem Konzept. Dies bedeutet in der Praxis zumindest ein Interesse für politische Fragen und geht über Wählen bis zu aktiver Politikgestaltung, z. B. in Form von Bürgerinitiativen oder Parteien.

Somit bestehen drei Möglichkeiten des sich Einbringens im Dienste einer einerseits altehrwürdigen, andererseits aber auch fragwürdigen Tradition blasmusikalischer Umrahmung religiöser und ebenso säkular-religiöser Rituale.

Fortsetzung 2. Teil Freitag, 10.11.2023

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. walter plasil

    Bin schon neugierig auf Teil 2.

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