Alois Schöpf
Im lebenswertesten Land Europas
Apropos

Die Werbung stellt das Leben, wie ihr Name schon sagt, von der schönsten Seite dar. Manchmal übertreibt sie, manchmal überschreitet sie die Grenze. Wenn zum Beispiel ein Hotelzimmer, mit dem Fischauge fotografiert, den Eindruck erweckt, dreimal so groß zu sein wie es tatsächlich ist.

Als geübte Konsumenten kennen wir die meisten Schmähs, mit denen man uns hereinzulegen versucht. Die unerwünschte Nebenwirkung dieses Wissens ist ein tiefes Misstrauen gegen das sogenannte Wahre, Schöne und Gute. Wo dies nicht als Werbung gedeutet werden kann, wird es der Lüge verdächtigt. So wird etwa ein Ja zum guten Leben geradezu als dumm abqualifiziert. Der „kritische Imperativ“ regiert, wie diese Haltung der Schriftsteller Heinrich Payr in seinem gleichnamigen Buch definiert hat.

Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Online-Werbesujet der ÖVP, von dem vor einigen Tagen berichtet wurde, geradezu revolutionär, und die Watschen, welche die Partei dafür beziehen wird, sind absehbar.

Darauf stehen nämlich die Sätze: “Wir leben im lebenswertesten Land Europas. Zerstören wir es nicht. Wir. Die Mitte” Symbolisch in den Mund gelegt wird die Feststellung einer leider etwas zu arrogant und zu wohlhabend wirkenden Pensionistin, was den Verdacht aufkommen lässt, die ÖVP wolle hier ihrer Hauptklientel zusichern, dass ihre Privilegien unangetastet bleiben.

Unter Ausschaltung des kritischen Imperativs könnte man die Dame jedoch auch anders interpretieren: Nur die alten Leute haben noch eine authentische Erinnerung daran, wie elend es auch hierzulande noch vor Jahrzehnten zuging und in welch goldenem Zeitalter wir trotz aller Katastrophen-Szenarien leben. Und dass es ein Ziel aller Parteien sein sollte, sich nicht gegenseitig und alles schlecht zu machen, sondern das Glück, tatsächlich in einem der lebenswertesten Länder Europas zu leben, für die Zukunft abzusichern.

Erschienen in der Tiroler Tageszeitung am 23.03.2024

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor, Journalist, Veranstalter, geb. 1950, lebt bei Innsbruck, schreibt seit 41 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 34 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Nach seiner Tätigkeit als ORF-Fernsehredakteur für Fernsehspiel und Unterhaltung verfasste Schöpf Romane, Erzählungen, Märchenbücher und in den letzten Jahren vor allem Essays zu relevanten gesellschaftlichen Themen. Daneben schrieb er Theaterstücke und vier Opernlibretti. Schöpf war auch als Blasmusikdirigent tätig und ist Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die er 25 Jahre lang bis 2019 leitete. Zuletzt gründete er 2020 das Online-Magazin schoepfblog, an dem 40 renommierte Autorinnen und Autoren mitarbeiten.

Schreibe einen Kommentar