Alois Schöpf
Folter erlaubt!
Menschenrechte? Was ist das?
Am Beispiel Russland:
Was Bürger dem Staat nie zubilligen dürfen.
Essay

Es ist alles verständlich, sofern es wirklich die Täter sind: solche Leute haben es wahrlich nicht besser verdient. Sie haben 137 Menschen (Stand heute) wahllos ermordet, um dafür eine Million Rubel, Euro oder Dollar zu verdienen. Angeblich! Sie waren gescheit genug, ihre Maschinengewehre zu bedienen, aber offenbar zu blöd, um sich auszurechnen, dass nach solch einer Tat in einem Überwachungsstaat wie Russland die Chancen, nicht erwischt zu werden, nahezu Null sind.

Für diese Fehlkalkulation hat man ihnen nun die Genitalien mit Stromstößen verbrannt, ein Auge ausgestochen, ein Ohr abgeschnitten, sie halb tot geprügelt und die solcherart Verstümmelten der Weltöffentlichkeit präsentiert.

Zum einen, damit sich das Volk der Russen als Opfer des Terrors zum Zweck der Schmerzbewältigung in durchaus verständlichem Racherausch und kollektivem Hass um seinen postsowjetischen Herrscher Putin versammelt und schon gar niemand auf die Idee kommt, nur wenige Wochen nach dem wahrscheinlich gewaltsamen Tod von Alexej Nawalny öffentlich die Frage zu stellen, weshalb dieser Terroranschlag nicht verhindert werden konnte? Und weshalb man so verblendet und arrogant war, die Warnungen der Amerikaner nicht ernst zu nehmen, weil man ihnen offenbar nicht zutraute, aus Gründen einer Humanität, die man selbst längst abgestreift hat, zwischen den Kriegshandlungen in der Ukraine und den unschuldigen zivilen Opfern islamistischen Terrors zu unterscheiden.

Um diese Unfähigkeit zu vertuschen, mussten sofort Täter gefunden werden, egal ob sie es nun sind oder nicht. Mussten umgehend Schuldeingeständnisse präsentiert werden, selbst wenn sie durch Folter zustande gekommen sein sollten. Und mussten sofort Schuldige benannt werden, auch wenn die Gerichtsverhandlung mit noch so korrupten Richtern nicht einmal begonnen hatte.

All dies läuft auf einen offiziell vollzogenen Abschied von den Grundlagen jener Menschenrechte hinaus, zu deren Einhaltung sich auch Russland feierlich verpflichtet hat und welche die Folter verbieten und jedem und jeder, auch wenn sie noch so große Verbrecher wären, eine faire Behandlung vor Gericht, also das Recht auf Recht zugestehen.

Dass die internationale Friedensordnung und die Ordnung im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern mit dem Einverständnis derselben nun hochoffiziell außer Kraft gesetzt werden, mag vor dem Hintergrund des schrecklichen Anlasses möglicherweise emotional nachvollziehbar sein. Mit dem brutalen Terrorakt wird jedoch zugleich, marketingmäßig geschickt instrumentalisiert, was den Verdacht nahelegt, dass der Anschlag vielleicht ganz bewusst nicht verhindert wurde, jene Pforte zur Hölle geöffnet, welche Russland in den Zeiten des stalinistischen Terrors schon einmal in unfassbarem Ausmaß durchmachen musste.

Es ist nämlich nur eine Frage der geschickten Propaganda, wie die Geschichte sämtlicher Diktaturen der Welt beweist, aus der Faktizität handfesten Terrors, wie er in der Konzerthalle Crocus bei Moskau Wirklichkeit wurde, auf Terror gegen den Staat, den Diktator, die Obrigkeit oder was auch immer überzuleiten, was bereits jetzt in Russland darin seinen Ausdruck findet, dass jemand, wie unlängst kolportiert, wegen eines 4-zeiligen regimekritischen Reimes zu sieben Jahren Arbeitslager verurteilt werden konnte. Am Ende eines solchen Prozesses der Außerkraftsetzung menschenrechtlicher Standards stehen sodann jene 1,5 Millionen Exekutierte, die zur Zeit des stalinistischen Terrors meist wegen sogenannten Hochverrats, Spionage, Herabsetzung der Sowjetunion oder Trotzkismus liquidiert wurden.

Vor diesem Hintergrund ist ganz nüchtern in Erinnerung zu rufen: Das Folterverbot, das Verbot der Todesstrafe, das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren – all dies ist nicht dazu da, um aus falsch verstandener Nächstenliebe heraus mit tatsächlichen und im Rahmen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens überführten Verbrechern pfleglich umzugehen, sondern es ist dazu da, um dem Staat gegenüber eine unüberwindliche Grenze seines Gewaltmonopols festzulegen, aus der einfachen Erkenntnis heraus, wie aus den USA vielfach bekannt, dass auch Gerichte oft rassistisch bedingte Fehlurteile fällen können. Aber auch aus der Kenntnis heraus, dass nur ein nicht verhandelbares und buchstabengetreues Einhalten der Menschenrechte die Bürger eines Staates vor den Übergriffen desselben schützt, eine Versuchung, der selbst unter demokratischen Bedingungen die Mächtigen immer wieder erliegen.

Mit der Vorführung gefolterter und angeblicher Täter in Moskau hat sich die russische Bevölkerung applaudierend und hochoffiziell ihres letzten Schutzes unter der Knute ihrer postzaristischen Diktatur beraubt.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Rainer Haselberger

    Leider kommt auch bei uns die Menschenrechtsbildung in vielen Schulen zu kurz. Im Lehrplan steht sie zwischen Umwelt- und Friedenserziehung und vielen anderen Themen der Politischen Bildung und wird im Unterricht anscheinend oft vergessen oder sehr kurz abgehandelt.
    Leider merkt man diese fehlende Menschenrechtskultur in den täglichen sozial-medialen Diskursen sehr deutlich!

    1. Robert Muskat

      Gut gesagt Herr Haselberger! Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und fordern: Weg mit allen Religionsunterrichten, die noch unbedarfte Schüler in eine Richtung zwingen, stattdessen her mit Unterricht in Humanität, Menschlichkeit und sozialem Verhalten. Dadurch könnten vielleicht auch so manche „aggressiven“ Jugendlichen in eine richtige Bahn gebracht werden und man könnte dazu noch verhindern, dass religiöse Fanatiker herangezogen werden. Um noch weiter zu gehen: Religionen sind in Zukunft Privatangelegenheit und werden staatlich weder unterrichtet noch gefördert, alle religiösen Akte im Kindesalter wie Taufe, Firmung und religiöse Beschneidung sind verboten bis der/ die Betroffene mündig und freien Willens darüber entscheiden kann.

    2. Reinhard Kocznar

      Umwelt- und Friedenserziehung? Statt Anschauungen soll doch Wissen vermittelt werden. Die Zeit dafür wäre mit Informatik und solider Kenntnis in finanziellen Dingen besser verwendet.

  2. Martina Kascuk

    Dass in manchen Ländern die Folter noch praktiziert wird – bzw. dass manche Länder das Anti-Folter Abkommen nicht ratifiziert haben – ist für den Friedensforscher Franz Jedlicka ein Faktor seiner „Culture of Violence Scale“: eine Skala, anhand derer man auch die Gefahr zukünftiger Kriege einschätzen kann. Finde ich eine interessante Theorie.

    Martina

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