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Alois Schöpf
Provokation und Protest
Das Geschäft mit dem Moralismus
Essay

Mein Artikel in der Tiroler Tageszeitung vom 04.02.2023 oder im schoepfblog vom 06.02.2023 , in dem ich zu erklären versuchte, weshalb viele Wähler, die eigentlich SPÖ wählen sollten, diese Partei nicht mehr wählen können, weil sie sich von ihr als moralisch minderwertig verachtet fühlen, wurde geschrieben, bevor Herr Waldhäusl seinen hochkompetenten Beitrag zur Kulturgeschichte Wiens abgesondert hatte.

Schade, denn an diesem jüngsten Hickhack zwischen einem vollkommen unbedeutenden Landesrat der niederösterreichischen Landesregierung und der Vereinigung der heimischen Gutmenschen, die wieder einmal Gelegenheit fanden, öffentlich ihre edle Gesinnung spazieren zu führen, zeigt sich paradigmatisch, wie sehr beide Gruppierungen gleichsam als kommunizierende Gefäße aufeinander angewiesen sind und in welchen intellektuellen Untiefen inzwischen die Innenpolitik unseres intellektuell ohnehin zur Flachwurzeligkeit neigenden Österreich gelandet ist.

Es ist von Tirol aus nicht klar abzuschätzen, inwieweit der niederösterreichische Landesrat Gottfried Waldhäusl, der sich, wenn nicht für die Menschenrechte, so doch in sympathischer Weise für die Tierrechte einsetzt, tatsächlich so ungebildet ist oder nur Unbildung vortäuschte, als er behauptete, Wien wäre noch Wien, wenn es in den letzten Jahrzehnten nicht von Migranten überrannt worden wäre.

Wie auch immer man zu den Problemen einer unkontrollierten Zuwanderung stehen mag: ausgerechnet jungen Menschen ihren Migrationshintergrund vorzuwerfen, die sich durch ihren Bildungswillen innerhalb des österreichischen Bildungssystems nachweislich um Integration bemüht haben und bemühen, ist zuallererst einmal geschmack- und empathielos. Im Rahmen eines politischen Diskurses inakzeptabel ist es zusätzlich, großzügig darüber hinweg zu sehen, dass Wien als Metropole der Donaumonarchie nicht nur die zweitgrößte Stadt Böhmens war, was heute noch in jedem Wiener Telefonbuch nachklingt, sondern ein Sammelbecken sämtlicher Völker und Religionen, welche im Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie zusammengefasst lebten.

Um die Vitalität dieses Vielvölkergemisches zu demonstrieren, sei auf eine von Susanne Preglau-Hämmerle in ihrem Buch „Die politische und soziale Funktion der österreichischen Universität“ (1986) überlieferte Anekdote verwiesen, wonach die Professorenschaft der Universität Wien gegen die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium eingestellt war, vom Kaiser persönlich jedoch dekretiert wurde, dass, da bei den Bosniaken aufgrund ihres muslimischen Glaubens bei Frauen lediglich Frauen als Ärztinnen tätig sein durften, Sorge zu tragen sei, zu diesem Zweck auch weibliche Ärzte an der Universität Wien auszubilden. Dies hatte zur Folge, dass das Studium der Medizin ab 1900/01 auch Frauen offenstand.

Gottfried Waldhäusl hat also unhöflichen historischen Unsinn von sich gegeben, womit wir bei der Frage sind, wie es möglich ist, dass ein, wie bereits angedeutet, für die gesamtösterreichische Innenpolitik unbedeutender niederösterreichischer Landesrat in einer unbedeutenden Sendung des österreichischen Fernsehens mit einem dummen, jedoch unbedeutenden Satz dermaßen öffentliche Aufmerksamkeit erregen kann, sodass Vertreter sämtlicher politischer Parteien mit Ausnahme der FPÖ, aber auch Prominente aus dieser Partei selbst sich zu einer Distanzierung bemüßigt fühlten und ein solch lächerliches Ereignis zu von Grünen, SPÖ, NEOS, Bierpartei und KPÖ organisierten Demonstrationen führte.

Das Missverhältnis zwischen dem Anlass und seine Folgen kann nur durch den Umstand erklärt werden, dass hier im Handel mit moralischen Gütern und Distinktionsressourcen bei gleichzeitigen Anbiederungschancen an die jeweiligen Wählergruppen hohe Profite winken, weshalb keine der daran beteiligten Parteien glaubte darauf verzichten zu können. Naturgemäß wieder einmal auf Kosten eines rationalen und eines am emanzipatorischen Erkenntnisinteresse (Habermas) orientieren Diskurses!


Die Protestierenden

Ganze Generationen, die von ihren Helikoptereltern zu kleinen Prinzen und Prinzessinnen erzogen wurden, können sich angesichts einer globalisierten Leistungsgesellschaft mit ihrer das Ego verletzenden Durchschnittlichkeit am effizientesten gegen diese narzisstische Verletzung wehren, indem sie sich auf den Predigerstuhl der Moral setzen und mit geöltem Mundwerk über all jene herfallen, die es sich nicht leisten können, unbesorgt edel zu leben wie sie selbst.

Aber auch die Eltern dieser bemitleidenswerten Opfer einer zu optimistischen Selbsteinschätzung haben mitnichten die Absicht, sich ihren aus der sogenannten 68-er-Revolution abgeleiteten Marsch durch die Institutionen als den üblichen Weg des bürgerlichen Spießers abqualifizieren zu lassen, eine stets drohende analytische Invektive, gegen die sich Moral als die beste Immunisierung erweist.

Woraus folgt: Der zeitgeistige Spießer und seine Kinder benötigen in regelmäßigen Abständen moralistische Auffrischungsimpfungen zur Abwehr von depressiven Verstimmungen. Dies ist die Therapie gegen eine nüchterne Selbstbetrachtung, derzufolge die hohen, niemals revidierten ethischen Ansprüche zugunsten eines pragmatisch organisierten guten Lebens scheitern und somit eine für das Bürgertum immer schon typische Verlogenheit gelebt wird, links zu denken und rechts zu handeln.

Klassische Beispiele: Bejahung von Multikulti und Migration bei gleichzeitigem Wohnsitz in einem „rein weißen“ Viertel oder Speckgürtel der Stadt. Und: Kinder und Enkel, die in einer Privat- bzw. staatlichen Eliteschule unterrichtet werden.


Die Provokateure

Eine derartige Gelegenheit zur Selbstimmunisierung hat, willentlich oder unwillentlich, Gottfried Waldhäusl seinen weltanschaulichen Gegnern geboten, wobei die Zustimmung seiner Parteifreunde aufgrund der offensichtlichen Fragwürdigkeit seiner Behauptung insofern gemäßigt ausfiel, als viele zwischen der Genugtuung, mit den Moralisten einen Deal machen zu können, und ihrer Rest-Rationalität hin und her gerissen wurden. Dass hier Herbert Kickl, obgleich zum rationalen Denken durchaus befähigt, rücksichtslos auf Anti-Rationalität setzt, ist hinlänglich bekannt und bestätigt seine politische Charakterlosigkeit.

Die Wählerschaft der FPÖ wird vor allem aufgrund ununterbrochener Beleidigungen vonseiten der anderen Parteien zusammengehalten. Es ist für sie in gleicher Weise wie für die Parteien der Moralisten eine strategische Notwendigkeit, durch immer neue Provokationen immer neue Empörungswellen zu produzieren, welche die eigene Wählerschaft als wirrköpfig, rechtsextrem, abgehängt und dumm abqualifizieren.

Diese Instrumentalisierung der Moral hat nicht nur den Vorteil, auf konstruktive Vorschläge zur Verbesserung des Lebens in Österreich verzichten zu können, sie enthebt auch die Empörten und Edlen der Notwendigkeit, der Bevölkerung im Sinne von Aufklärung, Rationalität und kommunikativem Handeln zu erklären, mit welchen Maßnahmen genau, zum Beispiel in Sachen Migration, Humanismus und Realpolitik parallel geschaltet werden können.

Ein drastisches Beispiel für die Unfähigkeit der Edlen, die von ihnen immer wieder zitierten Menschenrechte mit einer für ihre Gesellschaften verträglichen Politik zu verbinden, ist etwa die Tatsache, dass sich die EU inzwischen seit Jahren nicht auf eine realistische Asyl- und Einwanderungspolitik und einen effektiven Schutz der EU-Außengrenzen einigen kann. Stattdessen wird in gleicher Weise wie in Österreich selbst die anstrengungslose Instrumentalisierung der erhabenen moralischen Reden auf der einen Seite und die daraus resultierende Benennung des Bösen, Ungarn und Polen etwa, auf der anderen Seite mit für die Realität desaströsen, für den eigenen Selbstwert angenehmen Folgen fortgesetzt.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Otto Riedling

    Was heißt „Vereinigung heimischer Gutmenschen“? 1933 bzw. 1938 waren nur dadurch möglich, weil schon lange davor (schon in der Monarchie) antisemitische und rassistische Töne „unbeachtet“ blieben.

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