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Alois Schöpf
Gutmenschendämmerung
Der Moralisierungswahn der 68-er Generation
und ihrer Kinder
Zu „Der alte weiße Mann“ von Norbert Bolz

Wir leben in geradezu grotesken Zeiten. Wer etwa die Absicht hat, sich von gewissen, besonders langweiligen Zeitgenossen zu trennen, zugleich jedoch den offenen Bruch scheut, dem eröffnen sich angesichts unserer darniederliegenden Debattenkultur faszinierend subtile Möglichkeiten.

Es genügt zum Beispiel, klug über den Abend verteilt, im Hinblick auf die bevorstehende Klimakatastrophe immer wieder den Begriff Apokalypse-Verliebtheit einzuwerfen und von einer neuen Naturreligion zu sprechen. Oder bei der Erwähnung des Wortes Migration den Namen Thilo Sarrazin fallen zu lassen. Oder gar das Gendern als feministischen Narzissmus zu bezeichnen, der das Medium Sprache instrumentalisiert, um als Hintergrundrauschen in jedem Text, auch wenn er etwas ganz anderes verhandelt, an die Leidensgeschichte der Frau und die Eschatologie ihrer Erlösung vom Mann zu erinnern.

Eine besonders diskrete und zugleich aktuelle Möglichkeit, die Sinnhaftigkeit allfälliger Beziehungen zu überprüfen, bestünde natürlich auch darin, sofern in dem betreffenden Gesellschaftskreis, den es zu verlassen gilt, überhaupt noch gelesen wird, als Gastgeschenk das neue Buch des emeritierten Professors für Sprache und Kommunikation an der TU Berlin Norbert Bolz mit dem bezeichnenden Titel „Der alte weiße Mann“ als Gastgeschenk mitzubringen.

In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass die zeitsparendste Methode, sich nicht mit abgestandenen und unverrückbaren Vorurteilen beschäftigen zu müssen, überhaupt darin besteht, sich bei seinen Gesprächspartnern zu erkundigen, ob und wann sie das letzte Mal ein wissenschaftlich anerkanntes Sachbuch von mehr als 200 Seiten zum jeweils gegenständlichen Diskussionsthema gelesen haben.

Norbert Bolz hat sich in „Der alte weiße Mann“ wahrhaft Großes vorgenommen. Im Dienste der traditionellen, vielfach schon zu Grabe getragenen und als antiquiert bezeichneten Europäischen Aufklärung hält er das Fähnlein der Vernunft in den Sturm des Zeitgeists und geht dabei der Frage nach, wie es nur sein kann, dass das von Immanuel Kant eingeforderte und die eigene Faulheit und Feigheit überwindende Selbstdenken fast schon wieder so gefährlich ist, wie es einmal war, als der Begriff zum ersten Mal entwickelt wurde.

An die Stelle der Kirchen und der mit ihnen dereinst kooperierenden Throne trat in den letzten Jahren die von den Medien gepredigte Politische Korrektheit, deren Aufgabe, basierend auf den Theorien des französischen Kulturanthropologen René Gerard, es ist, durch die ununterbrochene Stigmatisierung von Sündenböcken und von sündhaftem Verhalten zu skandalisieren statt zu informieren, Häretiker, also Andersdenkende, aus der Blase des Mainstreams auszuschließen und dem auf seine eigene unerträgliche Mittelmäßigkeit zurückgeworfenen Publikum durch sogenannte Fernethik die Möglichkeit zu bieten, sich als bedeutend wahrzunehmen.

Die Generation der 68-er ist nach ihrem Marsch durch die Institutionen – die einen erfolgreich und mit luxuriösen Pensionen versehen, die anderen als gescheiterte Künstler oder kleine Selbständige in Armut versinkend, gemeinsam jedoch die zeitgeistige Manifestation des alternden mitteleuropäischen Spießers repräsentierend – in einer Weise entzaubert, dass nur noch, wiederum korrekt nach René Gerard, ein gemeinsamer Feind von rechts in der Funktion des Sündenbocks die Gemeinschaft der ehemaligen Revolutionäre aufrechterhalten und über ein Scheitern hinwegtäuschen kann, das sich bereits unmissverständlich bei den an Goebbels erinnernden Redetiraden eines Rudi Dutschke ankündigte.

Nicht viel besser gestaltet sich der individualpsychologische Ausgangspunkt der noch mitten in ihrem Beruf und Leben stehenden Kinder der 68-er-Generation, welche vom Ende der schwarzen Pädagogik der Kriegs- und Nachkriegszeit und der breiten Bildungsoffensive eines zurückliegenden Goldenen Zeitalters profitiert und sich, behütet, bewundert und täglich nach ihren Gelüsten befragt, zu egomanischen Monstern entwickelt haben, die noch schwerer als ihre Eltern am Missverhältnis zwischen ihren realen Fähigkeiten, als da wären Talent, Vitalität und Fleiß, und dem Anspruch, großartig, auf jeden Fall alles andere als mittelmäßig zu sein, leiden.

Was ist das, so fragt Norbert Bolz, für eine Gesellschaft, deren Eliten nicht in der Lage sind, gestreng nach den Lebensregeln des Preußen Immanuel Kant in ihrem Beruf die Pflicht zu erfüllen und als Gelehrte ihres jeweiligen Faches die Gesellschaft im Sinne der von Habermas formulierten Theorie des kommunikativen Handelns voranzubringen, die vielmehr in undurchdringliche Blasen esoterischer, postmarxistischer, ökologischer, feministischer, antikolonialistischer Weltfremdheit zerfällt und sich in einer für Religionen symptomatischen Feindschaft gegen die Aufklärung und ihre Repräsentanten, die alten weißen Männer unter anderen, damit aber auch gegen Wissenschaft und Technologie, in letzter Konsequenz in Selbsthass gegen die eigene freiheitliche, demokratische Verfasstheit wendet?

Es ist eine Gesellschaft der kollektiven Selbstüberhebung, deren hedonistische Eliten an ihren eigenen Ansprüchen scheitern und aus diesem Scheitern einen Opferstatus lukrieren, der sie in die Lage versetzt, ihren nach dem Marsch durch die Institutionen oftmals privilegierten wirtschaftlichen Status gegen Anfeindungen moralistisch abzusichern.

Der Opferstatus verleiht in unserer Gesellschaft einerseits die Vorteile einer positiven Diskriminierung. Man bekommt Aufmerksamkeit, wenn man seine Wunden vorzeigt. Andererseits dient der Opferstatus zur Identitätsstiftung: Ich bin ein Opfer, also bin ich. (S.204)
Man identifiziert sich mit den Verlierern der Geschichte und erklärt der Vergangenheit den Krieg. Das setzt eine konkrete Verkörperung des Bösen voraus: den alten weißen Mann. Die Welt zerfällt in privilegierte Weiße und ihre Opfer. (S. 204)
Wir haben es hier mit einer Perversion der Aufklärung zu tun. Eine europäische Stärke, Selbstkritik, ist in Selbsthass umgeschlagen. (S. 205)

Mit der Lust des Provokateurs definiert Norbert Bolz die traditionellenTugenden des alten weißen Mannes, Unabhängigkeit, Mut und Risikobereitschaft, als Voraussetzungen, die notwendig sind, um die Prinzipien der Aufklärung für die Gegenwart neu zu denken. „Der alte weiße Mann“ bietet dabei eine vergnügliche Lektüre und befreit mit Humor und Formulierungskunst von den Zwängen belastender innerer Zensur.

Der einzige Kritikpunkt bezieht sich auf den Titel des Buches, der zwar ein zentrales Moment der kritisierten Politischen Korrektheit ironisch aufs Korn nimmt, dadurch jedoch die Bandbreite der geistigen Verwüstung, die sich inzwischen breitgemacht hat, durch die Konzentration auf das männliche Geschlecht verengt und das ohnehin lesefreudigere weibliche Publikum, sofern es sich, obgleich emanzipiert, noch nicht feministisch einnebeln ließ, geradezu ausschließt.

Norbert Bolz: Der alte weiße Mann. Sündenbock der Nation. München: Langen Müller Verlag 2023. 221 Seiten. EUR 24,-. ISBN 978-3-7844-3653-1
René Girard: Warum kämpfen wir? Und wie hören wir auf? Imitation und Streit. Reclams Universal-Bibliothek. 120 S. EUR 6,-. ISBN 978-3-15-014271-4

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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