Nicole Staudenherz
Ideologie in Tarnkappe
Wie Karnismus unser Denken und Handeln beeinflusst.
Essay

Ein lauer Sommerabend, ein Grillfest bei netten Bekannten. Das Kotelett mundet vorzüglich: Zart und würzig, außen kross und innen saftig. Dazu kühles Bier, Salat und gepflegter Dinner-Talk. Beim Dessert fragt der Gast nach dem Geheimrezept für die tolle Grillmarinade.

Es liege nicht an der Marinade, entgegnen die Gastgeber. Entscheidend sei die Fleischqualität: Man habe eine wirklich ganz großartige Bezugsquelle ausfindig gemacht, direkt beim Bauern von nebenan. Alles Bio natürlich. Das Fleisch stamme vom Golden-Retriever-Welpen aus artgerechter Freilandhaltung. Geboren und veredelt im Alpenland.

Wie reagieren wir auf diese haarsträubende Geschichte? Mit Ekel? Mit Entsetzen? Oder mit der lapidaren Bemerkung „Fleisch ist Fleisch“?

Vielleicht sind wir tatsächlich eine Nation von Zynikern, zumindest gegenüber manchen Tierarten. Beim Fleischkonsum scheinen Herr und Frau Österreicher jedenfalls Rekorde aufstellen zu wollen: So verzehrt die Normalperson in ihrem Leben durchschnittlich 5,9 Tonnen Fleisch, das sind 1.287 getötete Tiere pro Mensch, genauer gesagt drei Rinder, drei Schafe oder Ziegen, 32 Schweine, 817 Hühner und 432 Fische.

Oder haben wir uns vielleicht doch nicht bewusst zu diesem Auftrags-Massaker entschieden?

In ihrem Buch „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“ zeigt Psychologin Melanie Joy eindrücklich auf, dass sich unhinterfragter Fleischkonsum auf eine Gewalt-Ideologie im Tarnmantel stützt: „Karnismus“, so Joy, „ist das unsichtbare Glaubenssystem, das die Menschen darauf konditioniert, bestimmte Tiere zu essen.“


Die Ideologie hinter dem Fleischkonsum

Das Konzept des Karnismus macht einerseits sichtbar, dass die Trennlinie zwischen „essbaren“ und „nicht essbaren“ Tieren völlig willkürlich gezogen wird.

Andererseits führt der Begriff vor Augen, dass Fleischkonsum weltanschaulich alles andere als neutral ist. Gerade in den wohlhabenderen Gesellschaften, in denen es relativ einfach möglich ist, ohne Fleisch oder überhaupt ohne Tierprodukte gesund, glücklich und genussvoll zu leben, ist das Festhalten an der fleischlastigen Durchschnittskost keine wertfreie, bewusste Entscheidung, sondern das Ergebnis einer problematischen Sozialisierung, die massenhafte Gewalt gegenüber Unschuldigen zugleich kaschiert, normalisiert und verteidigt.

„Wir sehen den Verzehr von Fleisch nicht so wie wir Vegetarismus sehen – als eine Wahl, basierend auf einer Reihe von Annahmen über Tiere, unsere Welt und uns selbst. Vielmehr sehen wir es als gegeben und natürlich, so wie die Dinge nun mal sind und immer sein werden. Wir essen Tiere, ohne darüber nachzudenken, was wir gerade tun oder warum wir es tun, denn das Glaubenssystem, das dieses Verhalten untermauert, ist unsichtbar.“ (Melanie Joy)


Blutige Normalität

Obwohl dank der Aufdeckungen von Tierschutz-NGOs mittlerweile hinlänglich bekannt ist, was hinter den hohen Mauern der Tierfabriken und Schlachthäuser passiert, hält sich die blutige Normalität des karnistischen Ernährungssystems hartnäckig – wider jede Vernunft.

Ein gewichtiger Grund dafür ist, dass eine breite Palette an Mythen und Abwehrmechanismen dafür sorgt, dieses Glaubenssystem zu reproduzieren und festigen, ähnlich wie bei anderen Gewaltideologien.


Kollektive Mythen

So suggerieren uns die „drei N“ der Rechtfertigung, dass es normal, natürlich und notwendig sei, bestimmte Tiere für Nahrungszwecke zu nutzen und zu töten.

Zunächst zum Etikett normal: Die allermeisten von uns haben die sozialen Normen rund um den Verzehr von Tierprodukten so sehr verinnerlicht, dass wir gar nicht bemerken, wie sehr die freie Entscheidung vom karnistischen Status Quo beeinflusst ist. Kaum jemand denkt am Esstisch darüber nach, warum in aller Welt die kulinarischen Präferenzen unserer Spezies so viel mehr wert sein sollen als der Wunsch eines empfindungsfähigen Lebewesens, am Leben zu bleiben und frei von Angst und Schmerz zu sein.

Erst bei genauem Hinsehen und expliziter Beschreibung offenbart sich das Verstörende an dieser Normalität. Wer Kaffee mit normaler Milch trinkt, meint damit normalerweise Kuhmilch, also das Drüsensekret einer Mutterkuh. Die Kuh wird durch Zucht auf gigantisch hohe, krank machende Milchsekretion hin manipuliert und ausschließlich zum Zweck der menschlichen Nutzung in die Welt gesetzt; sie wird wiederholt künstlich befruchtet, in einen ständigen Wechsel aus Schwangerschaft und Laktation hineingezwungen und ihrer Kinder beraubt, nur um schlussendlich getötet zu werden, wenn sie nicht mehr ausreichend Milch „liefert“.

Was genau ist an diesem Vorgang normal? Wäre es normal, dasselbe mit Katzen zu tun? Oder wäre es normal, wenn Menschen sich Muttermilch von Menschenfrauen in den Kaffee kippen würden?

Normalität ist in der Tiernutzung also das, was die sozial dominante Gruppe (wir Menschen) als eigennützige Norm definiert. Die Frage nach der Natürlichkeit dieser menschgemachten Nutzungs- und Tötungssysteme erübrigt sich.

Ein Team aus Psychologen, die in ihrer Studie den weit verbreiteten Rückgriff auf die „drei N“ der Rechtfertigung empirisch bestätigen, fügen dem noch ein viertes „N“ hinzu, nämlich nice. Sie beziehen sich damit auf die beliebten (und ethisch-moralisch höchst fragwürdigen) Genuss-Argumente, die für den Fleischkonsum ins Treffen geführt werden.

Zusammenfassend betrachtet handelt es sich bei den drei bis vier „N“ um legitimierende Überzeugungen bzw. kollektiv geteilte Mythen, mit dem Zweck, menschliche Dominanz über andere Tierarten aufrechtzuerhalten und zu festigen.

Die Wirkmächtigkeit dieser Vorstellungen lässt sich auch dadurch erklären, dass sie im gesellschaftlichen und politischen Leben allgegenwärtig sind. Sie durchsetzen und infiltrieren alle Lebensbereiche, vom Familienleben über das Bildungssystem bis hin zur Gesetzgebung.


Das kognitive Trio

Warum halten sich diese Mythen so hartnäckig? Unter anderem durch Verteidigungsmechanismen, die unsere Wahrnehmung verzerren und uns davon abhalten, den Realitäten des tierindustriellen Komplexes ins Auge zu schauen.

Melanie Joy bezeichnet sie als kognitives Trio aus Objektifizierung, Deindividualisierung und Dichotomisierung.

Stichwort Objektifizierung: Eine ganze Branche profitiert von der Verdinglichung empfindungsfähiger Wesen. Dass Tiere in der Intensivhaltung zu gefühllosen Biomaschinen degradiert werden, zeigt sich am deutlichsten in jenen Haltungsformen, die sich ausschließlich an Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung orientieren, nicht aber an den Bedürfnissen der genutzten Lebewesen.

Beispiel Vollspaltenboden in der Schweinehaltung: Da werden Tiere mit hochsensiblem Geruchssinn zu einem Leben über dem beißenden Gestank der Güllegrube verurteilt; obwohl sie verspielt und entdeckungsfreudig sind, werden sie zu absoluter Monotonie in engen, kahlen Stallbuchten verdammt; obwohl sie sich nur auf weichem Untergrund wohlfühlen, müssen sie auf Betonböden mit scharfkantigen Spalten dahinvegetieren.

Hier kommt auch die Deindividualisierung ins Spiel: Dass diesen Tieren jede Individualität abgesprochen wird, ist offensichtlich. Während unsere (zu Recht!) vielgeliebten Hunde Namen erhalten und für ihre persönlichen Vorlieben und Eigenschaften geschätzt werden, gilt für die (zu Unrecht!) ungeliebten, verkannten Schweine die grobe, geradezu brutale Vereinfachung: „Ein Schwein ist ein Schwein und alle Schweine sind gleich.“

Ganz eindeutig handelt es sich hierbei um eine kognitive Stereotypisierung, die das Individuum auf ein relevantes Merkmal reduziert, nämlich auf die Zugehörigkeit zu einer als essbar deklarierten Spezies. Das Tier in seiner Ganzheit, mit seinem Lebenswillen, seinen Bedürfnissen und seinem subjektiven Erleben, wird völlig ausgeblendet.

Ein weiteres Indiz: Befragungen zeigen, dass den für menschlichen Verzehr vorgesehenen Spezies geringer ausgeprägte kognitive Fähigkeiten attestiert werden.

Dies ist zugleich auch Ausdruck einer extremen, realitätsfremden Dichotomisierung, die ganze Tierarten im wahrsten und tragischsten Sinne des Wortes in einen Topf wirft und sie entweder als Nutztiere klassifiziert, in krassem Gegensatz zu den Haustieren.

Diese Unterteilung ist reine Willkür: Obwohl es keine ethisch relevanten Unterschiede zwischen Schweinen und Hunden gibt, sind Tötung und Verzehr im Falle der einen Spezies akzeptiert, bei der anderen jedoch (zumindest in Europa) tabuisiert.

Gerade solche Formen der mentalen Akrobatik ermöglichen es den Menschen, die namenlosen Opfer des agro-industriellen Komplexes ohne Gewissensbisse zu verzehren. Man stelle sich vor, auf der Speisekarte stünde statt Wiener Schnitzel vom Schwein die ungeschönte Wahrheit: Panierter Muskelfetzen von Mangalitza-Eber Rudi, der gerne mit seinen Geschwistern Ball spielte und täglich im Teich badete, bis man ihm per Bolzenschuss und Kehlschnitt sein Leben nahm.

Oder noch ein bisschen direkter, ohne Bio-Schönwashing: Gegrilltes Kadaverstück von Masteber Nr. XY123, der niemals spielen durfte, dafür aber mit fünf Monaten schon Arthrose, Lungenentzündung und Leberparasiten hatte, weil er auf Betonspalten über seiner eigenen Jauche leben musste. Wir übernehmen keine Garantie, dass die Betäubung im Schlachthof funktioniert hat. Möglicherweise ist das Tier bei Bewusstsein ausgeblutet.

Appetit? Wohl kaum.

Spricht der Mensch bestimmten Tierarten, die er essen will, ethisch relevante Eigenschaften wie subjektives Erleben und Empfinden ab, kann dies als eigennützig motivierte Strategie zur moralischen Selbstentlastung verstanden werden, um die eigene (indirekte) Teilnahme an institutionalisierter Gewalt auszublenden. Erst durch diese emotionale Distanzierung wird die horrende Brutalität gegenüber Unschuldigen in der Mitte der Gesellschaft überhaupt erst durchführbar.

Differenzierend anzumerken ist allerdings, dass in einer neueren psychologischen Studie zwischen zwei Dimensionen des Karnismus unterschieden wird, je nachdem, ob Personen nur ihren Fleischkonsum verteidigen („carnistic defense“) oder ob sie selbst aktiv für Nahrungszwecke Tiere töten („carnistic domination“). In der zweiten Dimension zeigt sich den Forschungsergebnissen zufolge eine stärker ausgeprägte Rationalisierung der Gewaltanwendung, unter anderem gestützt durch die Annahme, Tiere seien weniger wert als Menschen.


Legale Gewaltanwendung

Wie es Pfeiler und Wenzel in ihrer Übersichtsarbeit auf den Punkt bringen, ist die Produktion von Tierfleisch…

„die einzige legale Gewaltanwendung gegen Individuen mit Todesfolge, die nicht nur gesellschaftlich akzeptiert ist, sondern zudem durch die Gesellschaft finanziell gefördert wird (durch den Staat über Subventionen und durch die Bevölkerung über den Fleischeinkauf). Die Verborgenheit des Karnismus spiegelt sich darin wider, dass der Konsum von Fleisch und anderen tierlichen Produkten als selbstverständlich und gegeben betrachtet wird, ohne die existenziellen Folgen für andere Lebewesen kritisch zu hinterfragen.

Der karnistische Gewaltapparat erschleicht sich also gerade auch in den zivilisierten und fortschrittlichen Gesellschaften eine zweifelhafte Existenzberechtigung, indem zugelassen wird, dass sich überkommene Mythen von Generation zu Generation in die Gehirne der Mehrheit einnisten dürfen.

Wollen wir weiterhin im Sandkasten dieser scheinbaren Notwendigkeiten, brutalen Normalitäten und zweifelhaften Natürlichkeiten verharren? Oder wollen wir doch lieber unserem Selbstbild als vernunftbegabte Spezies gerecht werden?

Dann wäre es nämlich angebracht, sich von der kollektiven Selbsttäuschung des karnistischen Mindsets zu verabschieden.


Quellen:
Melanie Joy (2013). Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Karnismus – eine Einführung.
Christopher A. Monteiro et al. (2017). The Carnism Inventory: Measuring the ideology of eating animals. In: Appetite 133. 56-62. Online unter doi.org/10.1016/j.appet.2017.02.011
Tamara M. Pfeiler & Mario Wenzel (2020). Zur Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung im Kontext von Fleischkonsum. In: Tierethik 20, 102-130. Online unter tierethik.net/data/2020-01/TE_2020_1_Pfeiler.pdf

Jared Piazza et al. (2015). Rationalizing meat consumption. The 4Ns. In: Appetite 91. 114-128. Online unter dx.doi.org/10.1016/j.appet.2015.04.011

global2000.at/fleischkonsum-oesterreich
carnism.org

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Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

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