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Alois Schöpf
Der ewige Streit um die Identität
Bemerkungen zum soeben erschienenen Buch
„Der Tiroler Abend
Nationalkonzert, Volkstumsarbeit, Touristenattraktion“
von Sandra Hupfauf

Die Geschichte des Tiroler Abends zeugt von der offensichtlichen Lust des Tiroler Volkes, sich zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen als etwas Besonderes darzustellen und mit dieser Darstellung ein Geschäft zu machen. 

Unweigerlich führte der daraus resultierende Erfolg, sei es durch die Nationalsänger des 19. Jahrhunderts oder durch die Tiroler Abende während des Dritten Reichs und noch später in den Jahren des Wirtschaftswunders und des aufkommenden Massentourismus dazu, dass jene, die an diesem Erfolg nicht unmittelbar beteiligt waren, Kritik an der Zurschaustellung ihrer angeblich eingeborenen Eigenart übten, weil sie sich darin nicht mehr wiedererkannten bzw. nicht wiedererkennen wollten. Im äußersten Fall wurde sogar nach dem Gesetzgeber gerufen, dessen Aufgabe es dann war, das Zerrbild prostitutiver Rufschädigung den Fremden gegenüber in Gestalt einer szenisch behaupteten Volkskultur zu verhindern und die eigentliche Identität, was auch immer darunter verstanden wurde, zu schützen.

Der 25. Band der Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs vermittelt einen unterhaltsam geschriebenen und bestens illustrierten historischen Überblick über eine äußerst komplexe Gemengelage, die wohl, ohne dass davon im Buch selbst die Rede wäre, bei Andreas Hofer, dem Aufstand der Tiroler gegen Napoleon und dessen nachträglicher Verklärung durch die deutsche Romantik ihren Anfang nahm und die Tiroler nicht nur zu einer kleinen Nation verdichtete, im Sinne von zur Dichtung erhob, sondern damit ihnen auch den Eindruck vermittelte, ein auserwähltes Völklein zu sein, dessen antiaufklärerisches Gebaren ihm sozusagen die Rolle des unverdorbenen und dauerlustigen edlen Wilden im Sinne Jean-Jacques Rousseaus bereitstellte.

Diese dankbare Rolle steht am Beginn der das Tirolertum europaweit anpreisenden und bereits von Heinrich Heine kritisierten Nationalsänger, setzt sich in Folge über Jahrzehnte hinweg fort als Alleinstellungsmerkmal des Tiroler Tourismus und führte zuletzt zu einem durch zwei Olympische Winterspiele abgesicherten Wohlstand, von dem wohl kein Bewohner zu träumen gewagt hätte, als das in vielen Gebieten grenzrentable Land nach der Niederlage gegen die Franzosen und der neuerlichen Einverleibung in das Habsburgerreich ökonomisch und kulturell darniederlag. Umso mehr gingen die Träume in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts auf und gipfelten architektonisch in den Unsäglichkeiten des neuzeitlichen Alpenbarock und musikalisch in den Erfolgen des Moik’schen Musikantenstadels, der Zillertaler Schürzenjäger oder eines Hansi Hinterseer.

Inzwischen wurden viele Privathäuser und Hotel-Almhütten von findigen Architekten in die Moderne herüber gerettet und die Erfolge unserer europaweit bekannten Barden sind, berechnet auf Besucher, von dereinst 80.000 im hinteren Zillertal auf bescheidene 2000 im Konzertsaal zurückgegangen. Auch der Tiroler Abend hat sich mit Ausnahme weniger Reservate verflüchtigt, in die Gegenwart gerettet wurde lediglich das numinose, quasireligiöse Gefühl der Besonderheit, das es der Politik ermöglicht, mit flotten Sprüchen, aus denen dann meist nichts wird, dem alpenquerenden Transit den Kampf anzusagen und die Blockade des mitteleuropäischen Warenverkehrs anzudrohen.

Tirol ist längst ein modernes, globalisiertes Land wie viele andere auch. Der Versuch, das bisherige Identitätsspiel fortzusetzen, äußert sich, gleichsam in letzten Ausläufern, in volkskulturellen Grotesken, ob sie nun Landesüblicher Empfang heißen oder auf die dumme Direktive der Repräsentationsabteilung des Amtes der Tiroler Landesregierung verweisen, bei offiziellen Veranstaltungen gottesstaatgleich die sogenannte hohe Geistlichkeit zuerst zu begrüßen.

Das mia sein mia von Politikern, die sich das Denken durch patriotisches Getöse ersparen, zieht bestenfalls noch am Land, von dessen Wählerschaft die Konservativen leben. Aber auch die regionalen Medien befleißigen sich gern dieses Klischees und hoffen damit, sich vor Globalisierung und Internet mit der Fiktion eines Lebens in der Zirbenstube zu retten, dessen fromme Eigenart inklusive Volksmusik darin besteht, die üblichen massenmedialen Trivialitäten nicht in Schriftsprache, sondern in breitem Kunstdialekt zu präsentieren.

Wer über Identität redet, hat sie schon verloren. Wo die Art, wie man lebt, zum Artefakt erhoben wird, beginnt die Entfremdung vom universellen Anspruch des Menschseins, das auf Weltbürgertum gründet. Und nur der Weltbürger ist in der Lage, die verschiedenen Identitäten und Nationalitäten als das urmenschliche Bemühen zu begreifen, sich nicht nur als Person, sondern als ganze Gesellschaft von den anderen zu unterscheiden, sich abzuheben oder sich gar arrogant über die anderen zu erheben. Und nur er kann die oft großartigen volkskulturellen und hochkulturellen Nebenwirkungen dieser zum Glück oft harmlosen Unterscheidungslust und zum Unglück oft tödlichen Überheblichkeit, entsprechende Kenntnisse vorausgesetzt, würdigen, ohne sich durch peinliche Verprovinzialisierung lächerlich zu machen.

Vor einem solchen Hintergrund wäre gegen eine Wiederaufnahme eines Nationalsänger- oder Tiroler Abends bei bewusster Distanz zur Vergangenheit im Sinne von ehrlicher „Erinnerungskultur“ nichts einzuwenden, es könnte sogar für Einheimische und sogenannte Fremde in gleicher Weise ein vergnügliches Fest sein.

Sandra Hupfauf: Der Tiroler Abend. Nationalkonzert Volkstumsarbeit Touristenattraktion. Tiroler Landesarchiv. Band 25. Eigenverlag. ISBN-10 ‏ : ‎ 390146428X / ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3901464287

Dr. Sandra Hupfauf ist Musikwissenschaftlerin und hat eine Projektstelle am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck inne.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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