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Alois Schöpf
Als noch weltanschauliche Ordnung herrschte.
Statt der einen großen Verschwörungstheorie
wuchern unkontrollierbar die vielen kleinen.
Notizen

Letzten Sonntag umrahmte die k.u.k. Postmusik Tirol, bei der ich als Klarinettist tätig bin, und der Kirchenchor Ellbögen musikalisch die sonntägliche Abendmesse in der Stiftskirche Wilten. Dies war auch die erste Gelegenheit des neu gewählten, sehr jungen Abtes sich der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Dennoch blieb der Publikumsandrang überschaubar, ja, über der ganzen Festivität in den prachtvoll aufragenden Räumen der barocken Gegenreformation lag trotz kräftiger Töne vom Chor herab die leicht absurde, an Samuel Becketts Warten auf Godot erinnernde Trauer eines Rückzugsgefechtes inklusive seiner in goldene Gewänder gehüllten letzten Soldaten, die ihre Gebete herunterspulten, als befehligten sie noch immer siegreich besetztes Land.

Die Kirche als bisher unangefochtene ethische Zentralinstanz des konservativen Österreich  ist, nachdem sie nun auch zur Pandemie seit drei Jahren absolut keinen Beitrag zu leisten imstande war und alle offenen Fragen seriösen und weniger seriösen, echten oder selbsternannten Experten überließ, so am Ende wie noch nie, wenngleich in Tirol durch besonders groteske Aufzüge wie der Landesübliche Empfang oder die Tradition, bei Konzerten die hohe Geistlichkeit als erste zu begrüßen, noch immer so getan wird, als sei alles beim Alten geblieben.

Dass dem mitnichten so ist, muss jeden, der schon einmal etwas von der Überwindung des Aberglaubens, von Vernunftgebrauch, Aufklärung und Selbstdenken gehört hat, mit Genugtuung erfüllen. Dass mit dieser Genugtuung allerdings auch unmittelbar Nachdenklichkeit einhergeht, hängt mit einer Auseinandersetzung zusammen, von der schon die früheste Periode der europäischen Aufklärung geprägt war.

So vertrat etwa der Säulenheilige aufgeklärten Denkens Voltaire die Ansicht, dass das Volk die Religion benötige, um beherrschbar zu bleiben und nicht der Sittenlosigkeit anheimzufallen, und dass das Licht der Erleuchtung durch die Vernunft eher eine Angelegenheit einer Geisteselite sei.

Immanuel Kant wiederum, in Königsberg unter einer preußischen Militärdiktatur lebend, verschanzte sich, um nicht seiner Lehrbefugnis verlustig zu gehen oder gar im Gefängnis zu landen, hinter schwer verständlichen Satzungetümen, mit denen er die Metaphysik zertrümmerte, obgleich er, wenn er es nur wollte, durchaus in der Lage war, auch noch für heutige Leser klar und verständlich zu schreiben. Auch bei ihm herrschte offenbar die Überzeugung vor, dass eine zu Ende gedachte Aufklärung weder seinen Herrschern, noch seinen Zensoren, noch einer breiten Bevölkerung zuzumuten sei.

In diesem Sinne bezeichnend ist auch die Aufschrift auf dem „Testament“ des französischen Landpfarrers Jean Meslier (1664 – 1729), des Begründers der radikalen Aufklärung, der sich bei seinen Gemeindebürgern dafür entschuldigte, dass er ihnen aus Feigheit ein Leben lang den christlichen Glauben gepredigt habe, obgleich er diesen, wie aus den beiliegenden Schriften hervorgehe, als eine besonders perfide, auf die Unterdrückung der Menschen abzielende Lüge einstufe. Für Leute wie ihn, dessen Werk Testament de Jean Meslier in holländischen Druckereien gedruckt und in Weinfässern nach Paris geschmuggelt wurde, wo allein sein Besitz schon lebensgefährlich sein konnte, gab es der Religion gegenüber keinen Pardon, auch wenn sie als Opium für das Volk, wie Karl Marx sie viel später definieren sollte, noch so tauglich gewesen wäre.

Dreihundert Jahre später ist diese Auseinandersetzung noch immer aktuell. Denn so klar es auf der Hand liegt, dass das christliche Welterklärungssystem mit seinem in Palästina ansässigen Gottessohn, der sich ungefragt für uns aufgeopfert haben soll und mit seinem Vater jenen Kosmos zu beherrschen beansprucht, von dem uns die Weltraumteleskope immer faszinierendere Bilder liefern, mit dem heutigen Vernunftgebrauch in keiner Weise mehr in Übereinstimmung zu bringen ist, so klar stellt sich auch heraus, dass das Zurückweichen der großen, einen christlichen Erzählung nur dort zur Inthronisierung der Vernunft beiträgt, wo sie für ein hedonistisches Wohlleben im Sinne von vermehrtem Wohlstand, verbesserter Medizin und für ein höheres Alter instrumentalisiert werden kann. Dort jedoch, wo im Sinne dieses Wohllebens durch unser Nichtwissen, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen, gleichsam metaphysisches Unwohlsein aufkommt, tritt plötzlich eine Unzahl provinzieller, geistig unförmiger und fragwürdiger Erzählungen an seine Stelle.

Wahrscheinlich ist die Fähigkeit, sich mit der Vernunft alleine zu begnügen und die Unmenge des menschlichen Nichtwissens geduldig zu ertragen, ja dieses Unwissen sogar als Motor aller zukünftigen Innovationen in Ehren zu halten, tatsächlich nur das Privileg einer Minderheit, von der bis heute nicht gesagt werden kann, ob dieser ihr Mut eine Folge von Disziplin, von Intelligenz, die Dinge zu Ende zu denken, von Belesenheit, Erziehung oder ob sie doch nur genetisch codiert ist.

Zu viele Zeitgenossen können auf quasimythische und esoterische Erzählungen, zeitgenössische Volkssagen also, warum die Dinge so sind, wie sie sind und nicht sein sollten, nicht verzichten. Insofern mischt sich in die Genugtuung über das langsame Ableben des oftmals zwar furchtbaren, andererseits aber auch großartigen, Kunstwerke stiftenden und intelligent geordneten Aberglaubens der christlichen Religion die Angst vor unendlich vielen, plötzlich aufflammenden, kleinen Privatreligionen, vor einem gleichsam auf kleinbürgerliche Verhältnisse heruntergebrochenen 30-jährigen Krieg, dessen Ursache keineswegs die immer wieder denunzierten sozialen Medien sind, sondern zuletzt doch vor allem die Unfähigkeit, mit dem Nichtwissen umzugehen und das metaphysisch bedrohlich gähnende Vakuum unendlich vieler offener Fragen aus Gründen des ungestörten Wohllebens mit das Ego huldigenden neuen Erzählungen, Märchen und Verschwörungstheorien aufzufüllen und all jenen die Kommunikation zu verweigern, die sich an den Eucharistiefeiern solcher Privatphilosophien nicht beteiligen.

Wir schauen in den Pausen zwischen Kyrie und Sanctus, Agnus Dei und Benedictus also mit verrückter Nostalgie auf die geordneten Zeiten unserer selbstbewusst gebauten barocken Kirchen und ihrer Feste zurück, als noch allen klar war, was gedacht werden musste, was es zu feiern gab und wie man es zu feiern hatte, und daher alle noch mehr oder weniger, zumindest an Feiertagen, mit allen anderen konnten, was sie heute immer weniger können.


Literatur:
Jean Meslier: Der Gesunde Menschenverstand von Pfarrer Jean Meslier: Laut Seinem Testament, herausgegeben von Paul Henri Thiry Holbach. Classic Reprint 2018
Philipp Blom: Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. DTV 2013
Jonathan Israel: Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750. Oxford University Press 2002
Immanuel Kant: Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein. Reclam 1130
Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Meiner 2002

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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