Alois Schöpf
Ende der Verhöhnung
Theaterregie und Alte-Musik-Bewegung
Essay
Joseph Haydn ist die ultimative Herausforderung für ein Orchester und seinen Dirigenten. Wo Mozart, wie etwa in der Ouvertüre zur Oper „Die Entführung aus dem Serail“ technisch herausfordernde Girlanden einbaut, damit es ja nicht fad wird, was Joseph II. zur Bemerkung veranlasst haben soll: „Zu viele Noten Herr Mozart!“, bleibt Haydn schnörkellos nüchtern. Profis spielen ihn, von einigen Presto-Sätzen abgesehen, vom Blatt. Dirigenten probieren lediglich Übergänge und ein paar heikle Stellen, meist weil ihnen nicht genug Zeit bleibt, auf jener Präzision, Agogik und Zuwendung zum Notentext zu beharren, ohne die oft die Langeweile eines typischen provinziellen Abonnement-Konzerts aufkommt.
All dies trifft naturgemäß auf die Weltmeister der Haydn-Interpretation, das Kammerorchester Basel, das Ensemble Il Giardino Armonico und den Dirigenten Giovanni Antonini nicht zu. Bei ihrem Konzert in Innsbruck und in der Folge in Wien im Jänner 2022 präsentierten die Musiker die Haydn-Symphonien Nr. 90, 98 und 94, an sich ein kapitaler dramaturgischer Fehler: Da ein Konzertabend nämlich nicht eine CD ist, die man sich beim abendlichen Kuschelessen auflegt, sondern das brav am Stuhl festgebundene und an mediales Zappen gewöhnte Publikum heute durch Diversität bei der Stange gehalten werden muss, enden derlei monotone Programmplanungen nicht selten in der Hinrichtung jedes noch so genialen Komponisten. Dass es an diesem Abend gerade noch gut ging, hing, wie angedeutet, mit der fulminanten Qualität des Orchesters und seinem Dirigenten, aber eben auch mit Joseph Haydn zusammen, hinter dessen biederer Oberfläche sich plötzlich eine facettenreiche, spannende und von Ideen überfließende Tonlandschaft erschloss.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was eigentlich die Elemente sind, mit denen die sogenannte Alte-Musik-Bewegung, zu der auch ein René Jacobs mit seinem Freiburger Barockorchester oder ein Nikolaus Harnoncourt mit seinem Concentus Musicus gehören, eine Klassiklandschaft revolutionierte, als deren lächerlichste Manifestation die Filmaufnahmen von Beethoven-Symphonien mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern zu betrachten sind. Ganz abgesehen von der maßlosen Eitelkeit eines bis in die Haarspitzen als prometheischer Künstler gestylten Dirigenten, der so tut, als hätte er die Symphonien selbst komponiert und als würde er sie auch selbst spielen, wird hier von Karajan einer klanglichen Uniformität gehuldigt, die sich von einem lediglich mit Menschenmaterial kalkulierenden Deutschen Nationalismus herleitet, der musikalisch in Bayreuth zur im Orchestergraben versteckten anonymen Orchestermaschinerie und politisch zuletzt mit Pathos zu zwei Weltkriegen mit Massenarmeen und ihren Massenabschlachtungen geführt hat.
Das kollektive Nachkriegsgeschäft mit klassischer Musik, in der das vor allem deutsche und österreichische Bürgertum die Kriegsniederlage zumindest über das Medium der Musik mit Karajan als dem musikalischen Führer wettzumachen versuchte, wurde von den Verächtern sogenannter Stardirigenten, deren Selbstüberschätzung bei oft fachlicher Inkompetenz etwa ein Nikolaus Harnoncourt als Cellist der Wiener Symphoniker nicht mehr ertragen konnte, durch die simple Frage gestört und zuletzt nachhaltig in die Schranken gewiesen: Was wollten eigentlich die Komponisten der Klassik und des Barock wirklich? Und mit welchen Mitteln setzten sie ihre musikalischen Ideen um? Mit Barock-Geigen oder Instrumenten der Gustav Mahler-Zeit? Mit Naturhörnern oder perfekten Klappen-Instrumenten der Moderne? Wie groß waren ihre Orchester? Schrieben sie alles in ihre Partituren oder setzten sie voraus, dass vieles auch gespielt wurde, ohne dass es notiert werden musste?
Und sie stellten, daraus abgeleitet, die Frage: Wie sollte der Fortschritt in der Ausbildung der Musiker, in der Ausbildung und im Kenntnisstand der Dirigenten, im Instrumentenbau, im Instrumentennachbau, in Fragen der Beleuchtung und der Akustik, in der Unabhängigkeit von begrenzten fürstlichen Budgets kraft staatlicher Subventionen so umgesetzt werden, dass er den Idealvorstellungen der Komponisten zugutekam und zu einem Ergebnis führte, in dem sich die Gegenwart lediglich durch die Perfektionierung des Vergangenen als anwesend erweist und dadurch das Publikum in die Lage versetzt wird, abgesichert durch wissenschaftliche Forschung eine authentische Zeitreise in die Ideen- und Klangwelten des Barock, der Klassik oder Romantik anzutreten.
Beide Fragen, die für die Aufführung von Musik von so fundamentaler Bedeutung sind und denen sich heute alle Musikerinnen und Musiker inklusive ihrer künstlerischen Leiter zu stellen haben, spielen bislang mit wenigen exotischen Ausnahmen in der Opern- und Sprechtheaterregie kaum eine Rolle. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Vorstellungen der Urheber der Werke und die Rahmenbedingungen der jeweiligen Uraufführungen nicht nur im Hinblick auf das Musiktheater, sondern auch im Hinblick auf das Sprechtheater genau zu erforschen wären. Denn Regie bleibt da wie dort Regie! Leider wird jedoch, so die These, im Gegensatz zu den Usancen auf den Konzertpodien und in den Orchestergräben auf der Bühne weiterhin getan, was gefällt, und nicht, was Fakt aus Sicht der Urheber ist. Im Schutz von Arroganz und Halbbildung werden Komponisten, Librettisten und Sprechtheaterautoren zu inkompetenten Dilettanten erklärt.
So wurden etwa dem dramaturgischen „Nichtskönner“ Mozart, geschehen bei den Salzburger Festspielen, vom norwegischen Regisseur Stefan Herheim in der Oper „Die Entführung aus dem Serail“ gleich tragende Rollen wie Bassa Selim gestrichen oder der Haremswächter Osmin in eine Sigmund-Freud´sche Sexualprojektion uminterpretiert. Oder so wurde von Christoph Marthaler, dessen kleinbürgerliche Sozialisierung sehr wohl ideal zu Opern wie „Káťa Kabanová“ von Leoš Janáček (Salzburg) oder zu „Lulu“ von Alban Berg (Hamburg) passte, die Mozartoper „La nozze di Figaro“ des meisterlichsten aller Librettisten Lorenzo da Ponte in ein Postamt verlegt, was den Musikkritiker der Tageszeitung „Der Standard“ anlässlich einer konzertanten Aufführung von „Die Ägyptische Helena“ von Richard Strauss, ebenfalls in Salzburg, zur allgemeingültigen Bemerkung veranlasste, er habe den Abend genossen, da er der Bürde entbunden war, die meist halbgaren Ideen eines Regisseurs über sich ergehen lassen zu müssen. Ganz in die ähnliche Richtung zielen übrigens auch die fundierten und detaillierten Besprechungen des Musikkritikers und Komponisten Manfred A. Schmid, der im schoepfblog schon mehrfach die Ära Bogdan Roščić an der Wiener Staatsoper bislang vor allem als einen Leidensweg zweifelhafter Regieideen empfindet.
Womit sich die Frage erhebt, welch höherer Sinn eigentlich dem Unsinn des Regietheaters zugrunde liegt. Hier dürften die Bewegründe wohl angefangen von der sehr irdischen, gerade in gehobenen Künstlerkreisen jedoch besonders ausgeprägten Geldgier bis hin zu den Erwartungshaltungen eines Publikums reichen, das sich gerne selbst belügt. In ihrer Tendenz zielen sie jedoch alle darauf ab, den künstlerischen Leistungen der Autoren und Komponisten die verdiente Hochachtung und die Anerkennung von Professionalität zu verweigern.
1. Am Markt der Aufmerksamkeit, auf dem Regisseure als Freiberufler zu überleben haben, genügt es heute nicht mehr, eine solide Aufführung abzuliefern, bei der Komponisten, Dirigenten, Orchester und Sängerinnen und Sänger im Mittelpunkt stehen und die Frage nach der Regie schlicht deswegen nicht gestellt wird, weil die Inszenierung als in sich stimmig empfunden wird. Wer Karriere machen und mehr verdienen möchte als es die mageren Honorartabellen durchschnittlicher Theater, von der Off-Szene einmal ganz zu schweigen, vorsehen, muss von sich reden machen, sich unter allen Umständen irgendetwas Verrücktes einfallen lassen, und, wenn es auch noch so verschroben ist, aus Don Giovanni und Leporello zwei Schwule machen.
2. Solche sogenannten Regieeinfälle beziehen sich meist auf Umdeutungen und Kürzungen von Stücken, Erweiterungen durch stückfremde Texte, Kollagen aus verschiedenen Stücken etwa von Shakespeare, Neuübersetzungen, wenn nicht gar Hinzudichtungen, Dramatisierung von Romanen bzw. Rücküberführungen von Filmen oder Fernsehproduktionen auf die Theaterbühne, alles Elemente, für die neben der Regiegage auch Bearbeitungsgagen, wenn nicht gar Autorenhonorare anfallen, was wiederum die Möglichkeit eröffnet, in die staatlichen Verwertungsgesellschaften mit ihren Zuteilungen aufgenommen zu werden.
Es ist vor allem also auch die Geldgier von meist auf gute Aufträge angewiesenen Regisseuren, die durch die Chance, sich die Gage zu verdoppeln, dazu geführt hat, dass die Werke lebender Autoren, sofern sie nicht Textflächen abliefern, mit denen Regisseure anstellen können, was sie wollen, mehr oder weniger von den Bühnen verschwunden sind, da die Verstümmelung schon allein aus rechtlichen Gründen wesentlich schwieriger ist, weshalb man sich lieber auf die Verstümmelung alter Werke, deren Rechte frei sind, verlegt.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage an den Regisseur Martin Kušej, der soeben die Oper „Tosca“ des seine Kompositionen über Jahre hinweg äußerst genau auskalkulierenden Giacomo Puccini, für das Fernsehpublikum überprüfbar, in die inszenatorische Mülltonne entsorgte, ob sein Job als Burgtheaterdirektor ihn tatsächlich so viel Zeit und Energie erübrigen ließ, dass er auch noch im Theater an der Wien eine Oper inszenieren konnte, und ob er diesen Job gratis erledigte bzw. wie viel Gage er als staatlich besoldeter Intendant von einem weiteren staatlich massiv subventionierten Theater bezog?
3. Es liegt auf der Hand, dass all die Wahnsinnstaten des Regietheaters nur möglich waren, weil sie den Erwartungshaltungen des Publikums in zweifacher Hinsicht entgegenkommen. Zum einen dadurch, dass die Regisseure für die unter Auslastungszwang und Anbiederungsdruck stehenden Intendanten die Aufgabe übernehmen, durch ihre Inszenierungen gleichsam das Programmheft auf die Bühne zu transferieren und mit allen nur denkbaren Tricks in den Saal gelockten Halbgebildeten auszubuchstabieren, was sie sich unter den enigmatischen Dichtergrüßen aus der Vergangenheit bei der Ableistung ihrer bildungsbürgerlichen Pflichten zu denken haben. So viel zum volkserzieherischen Anteil des Angebots.
Letzteres enthält jedoch zwangsweise auch vor allem für jene in Sachen dramatische Künste ausreichend gebildeten Damen und Herren, die meist durchaus in der Lage sind, bei Aufführungen klassischer Musik zu beurteilen, ob der Dirigent etwas von einer der Entstehungszeit des Werkes angepassten Aufführungspraxis versteht oder nicht, vor allem musikdramatische Werke, die, wenn wir nur nicht in großdeutschen, vom oberösterreichischen Aufsteiger Adolf Hitler verseuchten Landen leben würden, ideal dazu geeignet wären, sich schlicht und einfach an einem festlichen Abend dem interesselosen Wohlgefallen an Schönheit hinzugeben. Da solches hierzulande immer noch und nur dann erlaubt ist, wenn zugleich das härene Büßergewand des bereuenden Weltsündenbürgers übergeworfen wird, obliegt es der Regie, Werke der Kunstmusik und des Sprechtheaters stets als zeitgeistige Auseinandersetzung mit den schwärenden Problemen einer stürmischen Gegenwart zu präsentieren bzw. zu malträtieren.
CODA
Die vorliegenden Überlegungen sind, wie erwähnt, stets davon ausgegangen, dass zwischen Musiktheater- und Sprechtheaterregie, wie es ja auch der Fall des Burgtheaterdirektors und seiner Tosca-Regie beweist, nicht fundamentale Unterschiede bestehen, weshalb die zentrale These noch einmal an einem Sprechtheaterstück rekapituliert werden soll.
Das Bühnenstück „Iphigenie auf Tauris“ des deutschen Nationaldichters und Universalgenies Johann Wolfgang von Goethe erschien 1787 als Versdrama und wurde am 6. April 1779 in einer Prosaurfassung im herzoglichen Privattheater in Weimar uraufgeführt. Womit wir wieder bei den Sinfonien Joseph Haydns, wie Goethe Bediensteter eines Adeligen, vom Beginn unserer Überlegungen angelangt wären, die, wie zum Beispiel die Symphonie Nummer 90, in etwa zur gleichen Zeit wie Goethes Stück entstanden.
Mehr als jede üblicherweise feministische, antifaschistische oder popkulturelle Neueinrichtung bzw. Aktualisierung bzw. Umdeutung dieses Werks des bedeutendsten deutschsprachigen Klassikers wäre von Interesse, was dabei herauskäme, wenn man bei einer Neuinszenierung des Stückes genau jene Fragen stellen und aufgrund von in Fülle vorhandenen Forschungsmaterials auch beantworten würde, die inzwischen bei der Aufführung klassischer Musikwerke routinemäßig gestellt werden müssen, um vor dem Publikum zu bestehen.
Was wollte Goethe sagen? Welche Mittel standen ihm in Weimar zur Verfügung? Welche Mittel hätte er, wenn ihm alle Möglichkeiten offen gestanden wären, für eine Aufführung als optimal empfunden? Und was ist zu tun, um diese Wünsche aus den Möglichkeiten der Gegenwart heraus zu verwirklichen?
Was wäre also aus Sicht Goethes, der bekanntlich selbst Theaterdirektor und Regisseur war, jene ideale Aufführung, die es auch einem zeitgenössischen Publikum erlauben würde, gleichsam authentisch in die Zeit der deutschen Klassik zurückzukehren und ihre Ideenwelt von innen und nicht, von außen oberflächlich belehrt, zu verstehen?
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Ein derber Kusej verdient einen derben Kommentar. Besser, er würde überhaupt nicht kommentiert.
Wie wäre es mit nackten Schuhplattlern in der ‚verkauften Braut‘?