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Alois Schöpf
Wir wollen modern sein!
Verlust der Tradition und des Publikums
durch fragwürdige Selbstverortung
4. Teil und Abschluss
Essay

Wie man es auch dreht und wendet: Ob das Publikum mehr als 100 Jahre nach dem sogenannten „Watschen-Konzert“ Schönbergs in Wien noch immer für die zeitgenössische Musik zu dumm ist oder die Komponisten zu abgehoben sind, um die Herzen der Menschen zu erreichen bzw. überhaupt erreichen zu wollen: die sogenannte Kunstmusik der Gegenwart hat sich spätestens seit 1945 mit wenigen Ausnahmen in die Bedeutungslosigkeit medialer Nachtstudios und subventionierter Avantgarde-Claims manövriert.

Wenn die klassische Musik, die zusehends vom biologischen Abgang ihrer Anhängerschaft bedroht wird, in den besten Zeiten nach Untersuchungen der AKM noch eine Anhängerschaft von 4 Prozent der Bevölkerung für sich verbuchen konnte, so sind die Fans des zeitgenössischen Musikschaffens längst im statistischen Graubereich untergegangen.

Daher zu meinen, man könne sich durch die Aufführung zeitgenössischer Werke im Bereich der Bläsermusik beim Publikum Vorteile verschaffen, um sich inklusive Orchester vom talentierten Bauernbuben zum bildungsbürgerlichen Maestro emporzuarbeiten, ist schon aus diesem Grund illusorisch.

Zumal sich aus einem solchen Bekenntnis abgesehen von der Bereitschaft, Bewohner eines Paralleluniversums zu sein, die konkrete Problematik ergibt, dass, wenn nicht die Dirigenten, so doch die meisten Musikerinnen und Musiker nicht nur aus dem Amateurbereich bei den Werken, als Originalwerk oder in Transkription, welche die Komponisten der klassischen Moderne der Nachwelt hinterlassen haben, schlicht und einfach überfordert sind. Eine sehr mäßige Aufführung der Symphonischen Metamorphosen von Paul Hindemith bei den Innsbrucker Promenadenkonzerten 2022 durch ein Auswahlorchester des Nordbayerischen Musikbundes bewies dies eindrücklich.

Ob es die Werke des österreichischen Komponisten Ernst-Ludwig Leitner sind, bei denen selbst Profis zu kämpfen haben, oder die Werke des Donaueschinger Vorkriegskreises Hans Gal, Ernst Toch und vor allem Paul Hindemith: kundige Hörer, welche auch in diesem Fall die Einspielungen bedeutender Dirigenten und Orchester präsent haben, mit einem der Gegenwartsmusik gewidmeten Blasorchesterkonzert zu überzeugen und emotional zu bewegen, ist sehr schwierig, wobei bekanntlich nur eine überragende Interpretation solcher Werke in der Lage ist, ein im Prinzip interessiertes, jedoch an die Tonsprache der Moderne wenig gewöhntes Publikum zu begeistern.

Da die meisten Kapellmeister sich über diese Sachlage doch einigermaßen im Klaren sind, fehlen Originalbläserwerke der klassischen Moderne denn auch in den allermeisten Programmen. An ihre Stelle traten in den letzten Jahren immer mehr Werke von Komponisten, die als große Könner, wie etwa ein Rolf Rudin mit Der Traum des Oenghus oder der Belgier Robert Groslot mit Rainfall on Pink City aus dem avantgardistischen Wahnwitz des modernen Musikschaffens ausgebrochen sind und sich mit oft erstaunlichem und weltweiten Erfolg dem Ehrgeiz hochstehender Amateurblasorchester zugewandt haben.

Leider sind solche Meister eine verschwindende Minderheit all jenen gegenüber, welche die kommerzielle Chance nützen, um ihr mäßiges Talent in Form von epigonaler bläsersymphonischer Schlagermusik an der Seite geschäftstüchtiger Verlage rücksichtslos über die Häupter geschmacklich überforderter Blasmusikkapellmeister auszuschütten. Da diese in der Regel nämlich bei den Konzerten der klassischen Symphonieorchester fehlen und daher niemals ihr Sensorium, was gut und was schlecht komponiert ist, an den Werken der Klassik und der klassischen Moderne geschult und geschärft haben, sind sie auch nicht in der Lage, die Qualität einer Komposition zu beurteilen, sondern fallen auf jede Mischung seichter Melodik in Kombination mit instrumentalem Schabernack, der nach Avantgarde riecht, herein.

Die ganze Problematik eines Konzertes, das sich fast ausschließlich Werken solchen Musikschaffens widmete, kam denn auch, wie schon weiter oben erwähnt, beim Konzert der Belgischen Gidsen bei den Innsbrucker Promenadenkonzerten 2022 zum Tragen.

Nicht nur dass die Tondichtung Don Juan von Richard Strauss als jugendlicher Geniestreich die übrigen Kompositionen des Abends deklassierte: zwei Stunden einer zwischen Spätromantik und Moderne changierenden Tonsprache, eine mit allen Effekten auftrumpfende Instrumentation und zugleich eher durchschnittliche bis unbedeutende Originalwerke ergaben zuletzt lähmende Langeweile. Und dies obgleich hier eines der weltbesten Militärorchester konzertierte und sein versierter Dirigent Yves Seghers bereits im Jahre 2019 im Innenhof der Innsbrucker Hofburg eine äußerst überzeugende Aufführung des oben erwähnten belgischen Komponisten Robert Groslot dargeboten hatte. Damals jedoch nicht flankiert von weiteren zeitgenössischen Bläserwerken, sondern von Kompositionen Hector Berlioz´, Wolfgang Amadeus Mozarts, Ottorino Respighis und als Genre-Wechsel von einer Sopranarie aus der Feder von Jan Van der Roost.



Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich also aus den vorliegenden Überlegungen eine sehr einfache Lehre im Hinblick auf die Dramaturgie von Programmen ziehen.

Sie beruht zuallererst auf der Feststellung, dass das heutige Publikum im Gegensatz zum Publikum früherer Zeiten über unendlich viele und vielfältige Informationsmöglichkeiten in Bezug Musik verfügt, täglich bis zu mehreren Stunden Musik hört und daher auch bei höchster Zuwendung nicht bereit und in der Lage ist, Redundanz in welcher Form auch immer zu akzeptieren.

Um es schlagwortartig zu formulieren:

1. Das zeitgenössische Publikum ist multiepochal, da es in der Regel die verschiedenen stilistischen Epochen der Musikgeschichte präsent hat.
2. Das zeitgenössische Publikum ist multikulturell, da ihm die verschiedenen musikalischen Dialekte und Atmosphären aus aller Welt bekannt sind.
3. Das zeitgenössische Publikum ist multiformal, insofern es vom einfachen Song über sämtliche möglichen Genres bis hin zur großen Symphonie die meisten Formen, in die Musikstücke gerahmt sein können, kennt.

Konzerte, welche diese Tatsachen berücksichtigen, werden immer erfolgreich sein, vor allem wenn die Programmgestalter sich darüber hinaus dem Prinzip verpflichtet fühlen, das Publikum zuerst für sich zu gewinnen, also zu verführen, es sodann zu fordern, ein Umstand, ohne den im menschlichen Leben ein Genuss nach dem Prinzip Hunger und Sättigung, nach dem Gefälleprinzip also, niemals möglich ist – und es zuletzt wieder in interesselosem Wohlgefallen zu versöhnen.

Dabei kann die Aufführung eines etwas schwierigeren, jedoch kompositorisch untadeligen zeitgenössischen Werkes den dramaturgischen Anteil der Herausforderung übernehmen. Bescheidenheit und Hochachtung vor dem Fremden hingegen sollten bei Aufführungen von Popular-Musik anderer und ferner Dialekte im Vordergrund stehen und stattdessen großzügig der Platz für eine liebevolle Zuwendung zur eigenen Musiktradition und zur eigenen Volks- und Unterhaltungsmusik freigehalten werden.

Bleibt nur noch zu sagen, dass fast mehr als die Qualität eines Orchesters und die Qualität seines Dirigenten die kluge Dramaturgie über den Erfolg eines Konzertabends entscheidet. Leider wird dies viel zu oft vergessen und auch viel zu wenig bei der Ausbildung von Musikern und Dirigenten berücksichtigt.

PS:
Bereits nach Erscheinen des 1. Teils meiner Überlegungen wurde ich darauf angesprochen, dass ich mit meiner Kritik an der Programmgestaltung von avancierten Blasorchestern und ihren Dirigenten wohl nur meinen Nachfolger bei den Innsbrucker Promenadenkonzerten Bernhard Schlögl mit seinem Symphonischen Blasorchester Tirol gemeint haben könne. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, dass dem nicht so ist! Ich bin dankbar und stolz, in Bernhard Schlögl nicht nur einen hervorragenden Nachfolger für die Innsbrucker Promenadenkonzerte, sondern in ihm auch einen Freund gefunden zu haben. Das Ziel seiner Bemühungen und des von ihm aufgebauten Orchesters war es bislang, durch das Einstudieren schwieriger Werke die Spielfreude seiner Musikerinnen und Musiker herauszufordern und damit Wettbewerbe zu gewinnen, was gerade unlängst in Kerkrade in den Niederlanden sehr eindrucksvoll gelang. Der Dienst am Publikum stand bislang somit weniger im Zentrum der künstlerischen Bemühungen. Sollte dies in Zukunft der Fall sein, werden auch Bernhard Schlögl und sein Orchester an den hier angestellten Überlegungen nicht vorbeikommen, wobei ich mich außerordentlich freuen würde, wenn ein so exzellenter und kundiger Dirigent und derart exzellente Musikerinnen und Musiker sich mit all ihrem Engagement dem Bestand der altösterreichischen Musik mit der gleichen Liebe zuwenden würden, wie sie es bisher bei hochkomplexen Wertungsspielstücken getan haben.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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