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Alois Schöpf
Wider das Axiom vom gierigen Menschen
2. Teil:
Groteske Konsequenzen
Essay

Als ich nach der Matura zu studieren begann, musste ich wie viele meiner Landsleute über die unglaubliche Sprachmächtigkeit unserer Studienkollegen aus dem benachbarten Deutschland staunen, brachten wir Tiroler doch in der Regel nicht mehr zustande als ein aus dialektalen und unbeholfen formulierten hochdeutschen Fragmenten gemischtes Gestammel.

Wir bevorzugten es daher sehr oft zu schweigen, eine Reaktion, die sich bis heute erhalten hat, wenn etwa Journalistenkollegen aus dem hohen Norden bei Medientagen über die großartige Bedeutung ihres Mediums dozieren, auch wenn es noch so miserabel sein sollte. Oder wenn Primarärzte, aber auch Festspielintendanten oder Museumsdirektoren, die sich für eine Position beworben haben, ihre Mitbewerber aus alpinen Gefilden aus dem Feld schlagen, weil sie vor ebenso alpinen und durch hochdeutsches Geschwafel besonders beeindruckbaren Berufungskommissionen am überzeugendsten aufzutreten verstehen.

Einer der wichtigsten Inhalte, um die in den Jahren der sogenannten 1968-er Revolution die Diskussionen kreisten, waren naturgemäß der sogenannte Kapitalismus und die damit einhergehende Überzeugung, dass Unternehmer prinzipiell moralisch minderwertige Personen seien, die nichts anderes im Sinne haben, als ihre Angestellten und Arbeiter, und später dann auch noch ihre Umwelt auszubeuten.

Bei derlei Reden fielen mir naturgemäß meine Mutter und etliche meiner Tanten ein, deren wesentliche Eigenschaft vorerst darin bestand, dass sie sich selbst rücksichtslos ausbeuteten und durch dieses ihr Vorbild zweifelsfrei etwaige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unter arbeitsethischen Druck setzten. Dass vor allem letztere jedoch, die Mitarbeiterinnen, meist aus armen Gegenden wie aus Osttirol oder der Steiermark zugewandert, durch ihre Tätigkeit im Gastgewerbe Männer aus der Region fanden, mit denen sie in Folge Häuser mit Fremdenzimmern bauten und Familien gründeten, deren Kinder, auch über die Reformen der Ära Kreisky, den Weg ins Gymnasium und in akademische Ränge fanden, ergab, von vielen in dieser Weise noch nicht erkennbaren Entwicklungen abgesehen, schon damals eine Faktenlage, die es mir unmöglich machte, die Rede vom blutsaugerischen Kapitalismus als wahr anzuerkennen.

Womit wir wiederum zur Analyse von Amartya Sens Essay zurückgekehrt sind, nach der wirtschaftliches Handeln niemals allein aus dem Axiom, der Mensch benütze seine Rationalität lediglich zur Nutzenmaximierung, erklärt werden könne, dass die Beweggründe seines Handelns vielmehr auch aus ethischen Motiven und nach Rangordnungen von Rangordnungen erfolgen.

Entscheidend ist es nun, sofern Sens These zutrifft, eine Antwort darauf zu finden, weshalb seine Erkenntnisse hinsichtlich dieser komplexen Motivation, obgleich sie bereits seit den 1970-er Jahren der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung standen, in den folgenden Jahrzehnten, die oftmals auch disqualifizierend als Hochblüte des Neoliberalismus bezeichnet werden, nicht wahrgenommen wurden. Dass daran in erster Linie die Volkswirtschaft- und Betriebswirtschaftslehre mit ihrem Axiom vom nutzenmaximierenden Menschen, wie es ausgerechnet in jenen Fächern gelehrt wurde, die eigentlich zu einem positiven Verständnis wirtschaftlichen Handelns beitragen sollten, selbst die Hauptschuld trugen und bis heute tragen, ist an Absurdität nicht zu überbieten.

Wirtschaftswissenschaftler sind mit Theologen zu vergleichen, die umgehend, sofern man mit ihnen über die Lehre des Katechismus von der Beseelung des Menschen durch Gott, die Existenz eines Himmels und einer Hölle inklusive besonderen und allgemeinen Gerichts und der leiblichen Auferstehung diskutieren möchte, darauf hinweisen, dass diese jenseitigen Angelegenheiten niemals in solch verkürzter Form beschrieben werden dürften?

Auch unsere meist hochintelligenten Ökonomen werden, um ihre Würde als Akademiker zu wahren und nicht als Vorarbeiter der Gier dastehen zu müssen, sich daher bei Diskussionen niemals mit der simplen These der Nutzenmaximierung zufrieden geben, sondern weit ausholend erklären, dass derlei Verkürzungen, wenn man sie lediglich auf Geld und Gewinn beschränke, die Komplexität wirtschaftlichen Handelns krass verfehlten, da ja, um nur ein von ihnen besonders gern verwendetes Beispiel zu erwähnen, der höchste Nutzen auch daraus resultieren könne, dass durch Solidarität in Gemeinschaft oft mehr erreicht werde als durch egoistisches Einzelgängertum, woraus zu schließen sei, dass auch Ethik unter Nutzen zu subsumieren sei, ganz abgesehen vom Selbstgenuss, den die Tugend den Tugendhaften gewähre.

Das Gegenargument Sens, dass ethisches Handeln durchaus Nutzen abwerfen könne, der entscheidende Punkt jedoch darin bestehe, nicht welche Wirkung, sondern welche Ursache einer Entscheidung zu Grunde liege, führt zuletzt, welche Erklärungsvariante man auch bevorzugen mag, zu scholastischen Diskussionen, wie viel Moral auf der Nadelspitze des Nutzens Platz habe, und liegt weitab von über Jahrzehnte währenden Beobachtungen, womit und unter welchen ethischen Voraussetzungen viele Zeitgenossen im Lauf ihres Lebens tatsächlich Geld, in manchen Fällen sehr viel Geld verdient haben und noch immer verdienen.

Besteht ihre Tätigkeit doch sehr oft darin, durch die Lande zu ziehen und als Unternehmensberater ihren Kunden nicht so sehr von den Freuden der Rechtschaffenheit zu künden, als ihnen vielmehr zu erklären, dass das von Ihnen auf den Universitäten genauestens studierte Axiom der Nutzenmaximierung als Anleitung zur Profitmaximierung verstanden werden müsse.

Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass ganze Heerscharen von Universitätsabsolventen alljährlich ihre akademischen Institute verlassen, um als Unternehmer, Unternehmensberater, Manager, Agenten, Abteilungsleiter oder Marketingspezialisten in die Welt auszuschwärmen und das Axiom des größtmöglichen Nutzens, das in den esoterischen Höhen der reinen Lehre möglicherweise tatsächlich mit Komplexität ausgestattet ist und auch das moralisch Gute zu integrieren versteht, nunmehr in einer Art haute vulgarisation auf hohe Gehälter, hohe Boni, hohe Gewinne und hohe Gewinnentnahmen herunter zu brechen.

Wenn daher Amartya Sen das Axiom vom Menschen als Nutzenmaximierer als die Beschreibung eines rationalen Dummkopfs verurteilt, verzichtet er in seiner sehr vornehmen Art des Argumentierens leider auf die weitere Ausführung des geradezu satirischen Aspekts vom allseitigen Nutzen des Nutzenaxioms sowohl für diejenigen, die es wirtschaftlich anwenden, um damit Geld zu verdienen, als auch für diejenigen, die es vom oft kündigungsfrei gestellten Hochstand ihres säkularen Predigerturms herab kritisieren, um moralischen Mehrwert zu lukrieren.


Woraus folgt:

1. Ein Axiom, das den wirtschaftlich handelnden Menschen als einen seine Rationalität missbrauchenden Nutzenmaximierer beschreibt, ohne ihn zugleich als mit der Fähigkeit des Vernunftgebrauchs ausgestattetes moralisches Subjekt zu definieren, verleiht der Verwerflichkeit der menschlichen Gier den Heiligenschein akademischer Weihen.

2. Exorbitante Beraterhonorare beziehen sich weniger auf die tatsächliche Beraterleistung, sondern auf eine unter dem Aspekt der Profitmaximierung durchgeführte Analyse von Produktionsprozessen und zuletzt auf die Absolution der Gier durch titelgeschmückte Intellektuelle, für deren Absolution pragmatisch handelnde Unternehmer und Manager viel zu zahlen bereit sind.

3. Unternehmen, die sich der akademischen Absegnung der Gier unterziehen, lukrieren tatsächlich Marktvorteile, da sie im Gegensatz zu Unternehmen, die sich nicht von den Solidaritätsverpflichtungen der Gesellschaft gegenüber freisprechen lassen, durch ihr verwerfliches Handelns unter gewinnbringenderen Rahmenbedingungen produzieren können.

4. Unternehmen, die auf diese Art sogar marktbeherrschende Positionen einnehmen, stellen all jene Konkurrenten, welche ethisch handeln und daher nicht so erfolgreich sein können, weil sie zum Beispiel Gewerkschaften und damit faire Arbeitsbedingungen zulassen, in den Schatten, was bei selektiver Betrachtung zuletzt zur auf die konkreten Unternehmen bezogenen berechtigten Einschätzung führen kann, dass die moderne Marktwirtschaft sich auf Kapitalismus und Neoliberalismus, also auf Ausbeutung und Gier reduzieren lässt.

5. Diese Erkenntnis wiederum erspart jenen universitären Eliten, die aus der sogenannten 68-er Revolution aufsteigend, wie sie Gerd Koenen brillant in seinem Buch „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977“ beschrieben hat, erfolgreich den Marsch durch die Massenuniversitäten angetreten und nunmehr am Zenit ihrer Karriere bzw. bereits in Pension ausgiebig die Gelegenheit haben, ihr Leben als staatlich besoldete Professoren oder Emeriti zu genießen, die Notwendigkeit, sich von einem marxistischen Weltbild zu verabschieden, das bereits bei seiner Entstehung der Beschreibung der Verhältnisse nur teilweise gerecht wurde und im Zeitalter weniger der Produktionsmittel als der Ideen und des Vertriebs kaum noch Anspruch erheben kann, die Realitäten wirtschaftlichen Handelns auch nur annähernd zu erfassen.


Bilanz:

Mit vereinten Kräften ist es den Wirtschafts- und Geisteswissenschaften somit gelungen, die reale Wirtschaft und all jene, die in ihr tätig sind, als eine potentielle Verbrecherbande zu diskreditieren, was wiederum dazu führt, dass sich in wirtschaftlichen Berufen zunehmend vor allem Leute tummeln, die es tatsächlich nur auf das große Geld abgesehen haben und die dem Engagement fern stehen, der Gesellschaft durch sinnvolle Angebote zu dienen.

Mit vereinten Kräften ist es den beiden genannten Wissenschaftszweigen auch gelungen, wirtschaftliches Handeln grundsätzlich unter den Verdacht von Betrug und Ausbeutung zu stellen, um damit für all jene, die ihre Einmaligkeit in der Welt über das Moralisieren zu erringen trachten, ein taugliches Objekt, um sich zu profilieren, zur Verfügung zu stellen.

Zuletzt führte die Disqualifizierung wirtschaftlichen Handelns seit Jahrzehnten zur Abwanderung idealistisch gesinnter junger Menschen in die Generalstabspositionen bürokratischer Kontrolle und Regulierung durch Staaten und NGOs, was einerseits zur personellen Ausdünnung von Dienst-, Handwerks- und Technologieleistungen, andererseits zu schlecht bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen in vielen den Geisteswissenschaften zuzurechnenden Berufen führte.

Der daraus resultierende, im Vergleich zu anderen Akademikern nur mäßige Wohlstand ist die beste Voraussetzung dafür, sich das Vorurteil vom wirtschaftlichen Handeln als Kapitalismus und Neoliberalismus, also der Ausübung von Ausbeutung und Gier noch einmal durch eine bedauerliche Lebenspraxis bestätigen zu lassen.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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