Print Friendly, PDF & Email

Alois Schöpf
Die Entstehung der Almrosen
Das Weihnachtsmärchen

In Soca an der Trenta lebte einmal ein Jägersmann, der hatte sich – wie schon viele andere vor ihm – in die Tochter des venezianischen Handelsherrn verliebt, der mit Schmuck, Lederwaren, Kleidern, Schuhen und Kunstgegenständen das ganze Trentatal belieferte, ja die Leidenschaft hatte den Jäger in einem Maße erfasst, dass ihn weder die eigene Armut noch der Reichtum und die blendende Schönheit der Angebeteten davon abhalten konnten, ihr aufzulauern, ihr seine Liebe in den feurigsten Worten zu gestehen und sie anzuflehen, sie möchte ihn doch aus den Qualen seines unerfüllten Begehrens erlösen.

Das schöne Frauenzimmer wusste zuletzt nicht mehr, wie es sich den lästigen Liebhaber vom Leib halten sollte. Wenn sie am Vormittag mit ihren Freundinnen und den Söhnen der reichen Geschäftsfreunde des Vaters ausritt, stand er am Waldesrand und schaute sie schweigend an. War sie allein, langte er nach dem Zügel, hielt das Pferd an und erging sich in liebestollem Geschwätz. Es nützte nichts, dass sie ihn verlachte, einen Bauernlümmel nannte, er blieb unerbittlich in seinem Wahn – wo immer sie hinging, dort war auch er. Wann immer sie einen Augenblick allein war, stand er neben ihr. Was sollte sie tun? Schon war sie so weit, sich ihm zu ergeben, um in Ruhe gelassen zu werden, da verfiel sie auf eine List, von der sie sich Rettung erhoffte.

Eine alte Frau hatte ihr vom Triglav erzählt, dem höchsten Berg der Julischen Alpen, und dem Zlatarog, jener göttlichen Gämse mit weißem Fell und goldenen Hörnern, die über den Eingang ins Innere des Berges wachte, worin unermessliche Schätze aufbewahrt sein sollten. So sprach sie zum Jäger: „Ich will mich dir hingeben, zuvor aber musst du mir die goldenen Hörner des Zlatarog bringen.“
Da neigte der Jäger traurig sein Haupt und gab zur Antwort: „Seit Menschengedenken hat niemand den Zlatarog gesehen, wie sollte ich ihn finden und gar erlegen? Du hast dir deine Bedingung gut ausgedacht, mir die Hoffnung nicht vollends genommen, und dennoch werd ich dich niemals lieben können.“
„So ist es!“, sagte Bianca, das war der Name der Schönen.

Der Jägersmann ging davon, bedrückt und entmutigt, und wie sie ihn gehen sah, freute sie sich: Nun war sie frei und konnte sich vor dem Spiegel ungestört drehen und wenden und an ihrer Schönheit erfreuen. Sie ahnte nicht, dass die Geschichte nun nicht beendet war, wie sie vermeinte, sondern erst richtig begann.

Denn wenn der Jäger anfangs auch meinte, die Unerfüllbarkeit ihrer Bedingung habe ihn ernüchtert, es dauerte nur wenige Tage, da machte er sich auf den Weg zum Triglav hinauf. Vom dreigeteilten Gipfel schimmerte gläsern der Schnee. Ich werd ihn sehen, mir wird er sich zeigen!, sprach er vor sich hin, als er hinaufstieg.

Oberhalb der Baumgrenze weitete sich der Blick, die Hochweiden breiteten sich aus, noch waren sie grün, an manchen Stellen gelblich verfärbt, die Luft flirrte vor Hitze und Helligkeit. Er hielt das Gewehr umklammert und schaute um sich. Ich werd ihn erlegen!, wiederholte er wieder und wieder, stieg nicht mehr höher, sondern schritt am Fuß der Felswände die Hänge entlang.

Das ging Stunde um Stunde, es wurde Abend, die Sonne ging unter in einem gewaltigen, rotüberfluteten Schauspiel, er legte sich hin, schlief ein, am anderen Tag suchte er fort, zuweilen gelangte er auf einem Grasband, welches spitz zulief, höher hinauf, stand plötzlich in einer Steilwand und musste umkehren. Längst hatte er nichts mehr zu essen, wurde schwächer, der Hunger plagte ihn, doch an seiner Entschlossenheit, den Zlatarog zu erlegen, änderte sich nichts.

So torkelte er bald mehr, als dass er ging, die Sonne schien unentwegt vom tiefblauen Himmel, sie verbrannte seine Haut, erst gegen Abend kühlte es ab, er ließ sich hinfallen, wo er gerade stand, erschöpft, weil wieder ein Tag vergangen war, ohne dass er Erfolg gehabt hatte. In der Nacht traten ihm Schweißperlen auf die Stirn, die Flammen der Tageshitze begannen zu lodern und schlugen ihm um den Nacken, er atmete schwer, lauschte nach innen, aber den Liebeswahn kochte es ihm nicht aus.

Kaum dass sich die Sonne am nächsten Morgen erhob, erhob sich auch sein stumpfes, blindes Verlangen. So geschah es, dass er eines Nachts dalag und alles wurde auf einmal still um ihn, es legte sich aller Schmerz, legte sich das Bleigewicht seiner Sehnsucht, sie wurde leicht und unbedeutend, entschwebte wie eine Feder, plötzlich daunenleicht, er streckte sich hin, breitete die Arme aus, und da erhellte sich die Landschaft, von den Sternen herab floss Licht und erstrahlte am Rande des Horizonts, Glockenläuten erklang, das Summen und Zirpen von Bienen, Fliegen, Grillen und allen möglichen Insekten hob an, der Duft blühender Blumen umwehte ihn, und als er sich aufrichtete und über den Hügelrand schaute, da weidete auf der Wiese – die in vollem Grün stand, das Gras meterhoch, daneben Getreidefelder, die Ähren schwer – die Herde der weißen Gämsen.

Lautlos ästen die Tiere, kamen näher heran, und da stand, der Jäger sah es blitzen im Sternenlicht, welches zuerst weißlich, nun aber blau leuchtete, der Zlatarog mit seinen goldenen Hörnern. Der Jäger sprang auf, nun war es endlich so weit, griff nach seinem Gewehr, da erblickte er eine Frau in weißem, wallendem Gewand. Sie kam eilig auf ihn zu, er wartete, wagte es nicht, auf die göttliche Gämse zu schießen. Da fiel ihm ein, dass man ihm als Kind davon erzählt hatte: War sie eine der Feen, die hier lebten und im Winter die Herden hüteten? Aber was scherte es ihn, sie waren harmlos und mildtätig, er hob das Gewehr, bekam den Zlatarog ins Visier, legte den Finger an den Abzug, überprüfte noch einmal das Spiel, tat einen letzten Blick, um sicher zu zielen – da verschwamm ihm das Bild vor den Augen, Schwindel befiel ihn, er fiel hin, vermochte das Gewehr nicht mehr zu halten, eine große Mattigkeit ließ ihn im Schlaf versinken und er sah, wie die Fee herantrat mit ernstem Gesicht und sagte: „Wehe, wer den Zlatarog tötet, der muss selbst sterben, und mit ihm werden sich die Höhlen für immer verschließen.“

Da nahm der Jäger all seine Kraft zusammen, und ganz leise, dass die Fee sich weit hinabbeugen musste, erzählte er ihr von seiner Liebe zur schönen Bianca und von der Bedingung, unter der sie gewonnen werden könnte. Die Fee eilte, ohne zu antworten, über die weiten Wiesen hin und pflückte einen Strauß Blumen, die leuchteten in den schönsten Farben, goldgelb die Platenigl, dunkelblau die Enziane, silbrig die Edelweiß und dunkelrot die Primeln, den reichte sie dem Jäger hin und sagte: „Solange du diesen Strauß besitzt, bist du zufrieden und glücklich. Gib gut acht auf ihn, dann bist du von deiner Krankheit geheilt.“

Da schlief der Jäger endgültig ein, die Worte der Fee noch im Ohr, sanft verklangen sie ihm, sanft glitt er in den Schlaf und erwachte erst wieder, als die Sonne hoch am Himmel stand. Er erinnerte sich an einen eigenartigen Traum, wusste nicht, ob er den Zlatarog nun weitersuchen sollte oder ob er ihn bereits gefunden hatte, da lagen jedoch die Blumen neben ihm am Boden, noch schöner als in der Nacht, und kaum dass er sie mit den Händen umfing und ihren Duft in sich einsog, war sein Herz von Zufriedenheit erfüllt.

Er kehrte nicht nach Soca zurück; nicht weil er sich fürchtete, dort der Geliebten zu begegnen, nein, ohne eine Miene zu verziehen, hätte er ihr kundgetan, nun Lohnenderes gefunden zu haben – das alles war vergessen, gehörte nur noch der Erinnerung an. So wandte er sich gegen Osten in Richtung der Stadt Bled, und über ein langgezogenes Hochtal, in das spitze Geröllhalden stießen, stieg er von der Höhe des Triglavmassivs hinunter, durchschritt einen Wald, bis die Gegend in eine sanft gehügelte Ebene auslief.

Gegen Abend gelangte er auf einen freien Platz, an dessen linker Seite, hinter alten Kastanienbäumen verborgen, das Licht einer Gaststätte leuchtete. Er überlegte nicht lange und überquerte das Feld, das von moorigen Wasserläufen durchzogen war. Als er näher kam, hörte er Musik spielen, dann schlug ein Hund an und sprang auf ihn zu, er erkannte festlich gekleidete Frauen und Männer, die an den Tischen unter den Bäumen saßen, auf einem großen Platz, der mit Steinen und Lehm ausgelegt war, tanzten die Paare, darüber hingen im Geäst die Laternen, die schaukelten hin und her und machten die Schatten lebendig.

Er schritt mutig voran, ließ sich vom Gekläff des Köters nicht irremachen, hielt seine Blumen voran – mit denen kann mir nichts passieren, dachte er sich –, trat unter die Leute und sah, dass Hochzeit gefeiert wurde.

Ein Mann mit umfänglichem Bauch trat auf ihn zu, das war wohl der Wirt, und fragte, was er hier wolle. Der Jäger antwortete: „Zu essen. Wenn ich nicht gleich etwas bekomm, fall ich um, ich hab seit Tagen nichts mehr gegessen“, und ohne zu fragen, setzte er sich an den nächstbesten Tisch. Da sahen die Leute seine Blumen, hörten auf zu sprechen und starrten darauf, dann fragten sie ihn: „Wo hast du die her?“

Er erzählte ihnen von der Feenerscheinung, weshalb hätte er es auch verschweigen sollen? Inzwischen war die Musik verstummt, alle waren an den Tisch getreten, an dem er Platz genommen hatte und auf dem die Blumen lagen, da rief einer: „Du Glücklicher, was ist dir widerfahren! Wer solch einen Strauß geschenkt bekommt, der ist mehr als ein Sonntagskind!“

Das Brautpaar eilte herbei und bedankte sich bei ihm, dass er gekommen war, denn sein Glück, das er geschenkt bekommen habe, strahle auf das ihrige aus, und dies sei an einem Hochzeitstag von besonderer Bedeutung. So wurde er verköstigt und behandelt wie ein Abgesandter des Himmels, es blieb ihm nichts übrig, als all die Speisen und den Wein zu loben, seine Gastgeber hochleben zu lassen, und was soll man viele Worte verlieren: Das Schicksal ist bekanntlich so behäbig wie die Menschen, die es am Gängelband führt, und so wählt es nicht selten den kürzesten Weg.

Der Herr Wirt hatte nämlich eine Tochter, Spela mit Namen, und laut lachend dankte er vor seinen Gästen dem Herrgott, dass sie ihm so gar nicht nachschlage, weder den mondrunden Kopf hatte sie noch den mächtigen Bauch, nicht seine rote, glänzende Nase und keine Glatze, sie war vielmehr leichtfüßig und schlank, eine Freude zum Ansehen, und zu guter Letzt war sie auch frei, ihr Herz nicht vergeben, als hätte sie die ganzen Jahre nur auf den Jäger gewartet, um die Geschichte durch Hochzeit und Ehe an ein gewöhnliches gutes Ende zu bringen.

Und tatsächlich: Die Laternen unter den Kastanienbäumen leuchteten bald von Neuem, der Tanzplatz wurde gefegt, die Tische gedeckt, wieder kamen viele Leute ins einsame Landgasthaus, um Hochzeit zu feiern. In der Hand hielt die glückselige Braut den Blumenstrauß, den die Fee gepflückt hatte, und die Blumen leuchteten wie am ersten Tag, zogen die bewundernden Blicke auf sich, verstrahlten Frohsinn und Zufriedenheit, alles ward hell an diesem Tag, nichts Dunkles konnte sich halten.

Auch später zog das Glück ins Haus des frisch vermählten Paares ein, vornehme Städter kamen von weit, um sich ihre Sorgen auskurieren zu lassen, dabei wussten sie nichts vom Geheimnis des Blumenstraußes, der über dem Ehebett hing, sonst sah ihn niemand. So vergingen die Jahre, eines wie das andere, nichts Nennenswertes geschah, die Gipfel des Triglav wurden von Wolken umhüllt und traten daraus wieder hervor, wie eh und je.

Eines Tages nun saß ein Gast im Garten, der war mit vier Dienern gekommen, einer mächtigen Kutsche, auf deren Dach zwei schwarze Truhen festgebunden waren, er selbst war vornehm gekleidet, eine goldene Uhrkette blitzte, an den Fingern staken Ringe mit leuchtenden Steinen, er schlug ungeduldig mit der Hand auf den Tisch und rief nach dem Wirt.

Der Jäger, der längst seinem Schwiegervater zur Seite stand, trat ins Freie und erschrak, als er dem Gast ins Gesicht schaute, denn über und über war seine Haut von Pockennarben entstellt, an manchen Stellen waren frische Geschwüre geplatzt, kugelige Blutkrusten hingen daran, die Augenbrauen schauten aus wie versengt, die Lippen verliefen als dünner, fleischloser Faden.

„He!“, rief der Fremde, der wohl nicht zum ersten Mal bemerkte, dass er jemanden durch seinen Anblick erschreckte. „Nicht jeder kann so schön sein wie du, bring rasch etwas für mich und meine Leute, wir haben einen weiten Weg. Wo geht es nach Soca?“

Der Jäger kratzte sich am Kopf und lachte verlegen. „Da habt ihr nicht die kürzeste Strecke gewählt“, und er versuchte dem Gast zu erklären, auf welch gewundenen Pfaden sie mit der Kutsche ins Trentatal gelangten. Der Fremde hörte sich nur die Hälfte an, dann rief er: „Hör auf, wozu hab ich Geld, du führst uns hinüber!“
Der Jäger erschrak. „Nein, was soll ich in Soca? Ich hab keine Zeit, um nichts in der Welt.“
„Was, du hast nicht Zeit, dir die eigenartigste Hochzeit der Welt anzusehen?“
„Welche Hochzeit?“
„Bring erst zu essen, dann erzähl ich es dir!“

Der Jäger lief ins Haus, die Neugierde hatte ihn gepackt, er ahnte schon etwas, spornte seine Frau und die Schwiegermutter an, die Bestellung rasch zu besorgen, der Tisch wurde mit einer weißen Tischdecke gedeckt, darauf wurden kristallene Gläser gestellt, eine Karaffe mit hellrotem Landwein, dann kamen die Speisen, in weißen Schüsseln serviert.

Der hässliche Gast aber fuhr fort: „Vielleicht hast du schon von einer gewissen Bianca gehört, sie soll ja schön sein und reich wie selten eine. Ihr Vater hat an alle Handelshäuser in weitem Umkreis einen Brief geschrieben, des Inhalts: Seine Tochter suche einen Mann zu ehelichen, es sei ihr gleichgültig, wie der Betreffende aussehe, nur reich müsse er sein, den reichsten aller Bewerber erwähle sie sich. Damit weißt du auch schon, was ich in Soca zu erledigen habe: Ich werde es sein, den sie heiraten muss. Ich bin der reichste Mann von Krain und weit darüber hinaus, auf eine Handvoll Diamanten leg ich zwei weitere Hände, wer könnte es aufnehmen mit mir?“

Bei diesen Worten lachte der Fremde, auch seine Dienerschaft lachte, zuletzt musste der Jäger mit einstimmen, denn er gönnte es ihr, wie großartig passte die abscheuliche Hässlichkeit dieses Mannes zur eitlen Bianca. Ja, und er erklärte sich freudig bereit, seine Gäste nach Soca zu führen, die Demütigung wollte er sehen, sich daran gütlich tun, um das vergangene eigene Leiden zu löschen.

Er ging ins Haus und kramte aus dem Kasten das alte Jägerkostüm heraus. Seine junge Frau staunte, als sie ihn damit einhergehen sah, seit der Hochzeit hatte er es nicht mehr getragen. Jetzt erzählte er ihr von der Absicht des Gastes, die schöne Bianca zu ehelichen, und deutete in den Garten hinaus, wo der Mann saß. Als sie sein scheußliches Gesicht sah, schüttelte sie traurig den Kopf und bat ihren Gatten, so rasch als möglich aus Soca zurückzukehren, die ganze Geschichte ängstige sie. Er versprach es.

So ging es noch am selben Tag zurück wie vor Jahren, über die Hochweiden, die in der Herbstsonne verbrannt lagen, die steinigen Wegschleifen des Passes hinauf, dann wieder hinab ins Trentatal. Die Luft war so klar und der Fernblick so weit, dass sie die weißen Dunstschleier über dem Meer im Süden erblickten. Dann tauchten sie zwischen die Felsen hinab, die Berghänge rückten wieder zusammen und traten erst im Tal unten auseinander, hier flachte die Landschaft ab, wurde weiter, die ersten Höfe kamen in Sicht. Eine seltsame Erregung erfasste ihn, als er all dies wiedererkannte.

Schon weit vor Soca standen die Kutschen, in den Wiesen neben der Straße waren Zelte aufgeschlagen, an den Lagerfeuern, die noch brannten, als sie tief in der Nacht anlangten, standen vornehme Herren und unterhielten sich angeregt miteinander, doch weder er noch sein hässlicher Dienstherr verspürten Lust, sich dazuzugesellen, sie fielen müde aufs Lager, das sie unter freiem Himmel aufgeschlagen hatten, und überließen es den anderen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wer anderentags das Glück haben würde, die schöne Bianca zur Frau zu bekommen.

Wahrhaftig, es war ein Aufzug, wie Soca ihn noch nicht erlebt hatte. Da kamen die einen auf schwarzen Araberpferden, die tänzelten und keinen Moment still stehen konnten, so wild waren sie, andere hatten ein Kamel mitgebracht, das gelangweilt kauend die Welt um sich mit Verachtung strafte. Ein kleiner Elefant fehlte im Saal ebenso wenig wie zahlreiche Esel, die auf ihrem Rücken kunstvoll verzierte Truhen schleppten, man konnte sich ausmalen, welche Reichtümer darin gesammelt lagen. Der Jäger hatte sich ganz hinten hingestellt und verfolgte das Schauspiel.

Als Bianca an der Hand ihres Vaters eintrat, verstummten alle und ein Raunen ging durch die Menge. Ja, sie war wirklich schön, noch schöner, als der Jäger sie in Erinnerung hatte, der Atem stockte ihm, wie hatte er sie jemals vergessen können?

Da traten schon die Ersten vor, gaben ihre Besitzungen an, legten die Geschenke bereit für den Fall, dass sie auserwählt würden. Bianca verzog keine Miene, unbewegt blieb ihr Gesicht, nur mit der Hand deutete sie einem Schreiber, der alles notierte, und sobald er fertig war, trat der nächste Bewerber vor ihren Stuhl.

Der hässliche Gast, den der Jäger nach Soca geführt hatte, war nirgends zu sehen, schon waren die Letzten an die Reihe gekommen, da öffnete sich die Saaltür und er trat ein. Bianca warf ihm einen Blick zu, ihre Augen weiteten sich kaum wahrnehmbar, dennoch wusste der Jäger, dass sie erschrak. Der Hässliche ließ die schwarzen Truhen hinter sich hertragen. Als er vor ihr stand, schaute sie ihm nicht ins Gesicht. Er entbot ihr den Gruß und meinte, er müsse nicht viele Worte verlieren wie andere hier, seine Schätze sprächen für sich, und er ließ die Truhen öffnen.

Da erstrahlte ein blendendes Licht, dass Bianca aufschrie und zurückfuhr, das Gesicht des Mannes hatte sich in eine leuchtende Fläche verwandelt, der vordere Teil des Saales war erhellt, in den Truhen aber sah man Edelsteine liegen von so unglaublicher Schönheit, wie noch niemand sie erblickt hatte.

Da sprach der reiche Bewerber: „Zweifelst du, schöne Bianca, und zweifelt ihr alle, die ihr meine Schätze seht, dass ich es bin, der die Hand dieser Frau erhalten soll?“

Nein, niemand zweifelte, alle schwiegen, da hob Bianca den Arm, als wollte sie einen Alptraum verscheuchen, sprang auf, schlug die Deckel der Truhen zu und rief voll Verzweiflung: „Wie soll ich ein Scheusal wie dich zum Mann nehmen?“

Der hässliche Fremde lächelte, als wollte er sich für sein Kommen entschuldigen. „Ihr habt nicht geschrieben, mein Fräulein, dass Ihr einen hübschen Galan wollt zum Liebsten, Ihr habt nur vom Reichtum gesprochen, nun haltet Euch daran, ich bin der Reichste.“

Da schweifte der Blick Biancas über die Menge der Freier und sie sprach: „Ist niemand da, der ihn überbieten kann, will niemand bei einem anderen zulegen, etwas leihen, um mich zu erlangen?“
Die Leute lachten spöttisch und gaben zur Antwort: „Wer das Geld liebt, soll das Geld haben!“

Bianca wiegte sich vor Verzweiflung hin und her und raufte sich die Haare: „Ich Verfluchte, ich habe geglaubt, zur Liebe genügte ich mir selbst. Ich weiß doch nichts Schöneres als mich! Es fehlte nur noch der Reichtum zu meinem Glück. Wie konnte ich ahnen, dass jemand kommen würde, dessen Anblick allein all meine Freude zerstört. Bisher lernte ich nur reiche Kaufleute kennen, deren Äußeres meinen Augen gefiel, wie konnte ich wissen, dass es jemanden gibt, der sie so schamlos beleidigt?“

Sie schwieg und wartete, ob sich jemand ihrer erbarme, der Hässliche schaute zu Boden, als sei er traurig, sonst regte sich niemand – oder doch, gab es jemanden, der Mitleid empfand, dem ihre Not zu Herzen ging? Der Jäger verspürte eine Beklemmung in seiner Brust, die nicht zu ertragen war. Er war es, nur er, der sie aus ihrem Unheil erlösen konnte, denn das Versprechen, das sie ihm dereinst gegeben hatte, fiel in eine frühere Zeit und galt daher mehr und auch heute noch, und da fühlte er ein großartiges Gefühl der Macht in sich aufsteigen, er stand tausendfach höher als all die Herren mit ihren Schätzen, was nützten sie ihnen? Wenn er an sein zufriedenes Leben zurückdachte, er wollte nicht leugnen, es war voll von Glück – aber war es nicht noch viel schöner, etwas Heldenhaftes zu tun, wie kein anderer Mensch es je getan hatte, eine übergroße Liebe zu erlangen? Nein, was sollte er zögern und warten?

Er trat vor sie hin, hörte nicht auf den Hässlichen, der ihn an die Worte der Fee gemahnte – er nahm sich nicht einmal Zeit, sich zu fragen, woher der Fremde wusste, was in jener Nacht geschehen war. Der Jäger fragte Bianca, ob sie ihn wiedererkenne. Nein, sie hatte ihn vergessen. Das beglückte ihn, weil er meinte, sie verzeihe ihm sein ungeschicktes Betragen von früher, er erinnerte sie an ihr Versprechen, da stand sie auf und neigte den Kopf, wollte sein Anerbieten nicht annehmen, sie sei nicht würdig. Das machte ihn ganz wild und er rief: „Wartet hier alle, noch heute komm ich zurück!“

Er nahm das Gewehr und stürzte hinaus, zum Triglav empor, über die Hochweiden zur Wiese, auf der er eingeschlafen war, und wieder legte er sich nieder, schloss die Augen, da hörte er schon das Glockengeläute und das Summen der Insekten, und als er die Augen aufschlug, graste die Herde der weißen Gämsen an der gleichen Stelle wie vor Jahren – er hob das Gewehr, legte an und schoss, und tödlich getroffen brach der Zlatarog zusammen.

Da verfinsterte sich der Himmel, ein Beben erfasste die Erde, dass er zu Boden stürzte und nicht wieder aufstehen konnte, aus der Wunde des Zlatarog aber floss Blut, Blut, floss und floss wie ein Sturzbach, schwoll an, wurde zu einem reißenden Fluss aus Blut, es überströmte die Wiese, die Weiden, riss ihn mit sich, stürzte die Felsen hinab.

Im selben Augenblick verwelkten die Blumen der Fee über seinem Ehebett, aus den Stielen und Blättern tropfte Blut und befleckte das weiße Linnen, und als seine junge Frau Spela, von einer Ahnung getrieben, das Zimmer betrat, wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Sie warf sich einen Mantel über und machte sich auf den Weg übers Joch nach Soca hinunter.

Dort hatten die Kaufleute mit Bianca auf die Wiederkehr des Jägers gewartet, der hässliche Fremde war auf der Truhe gesessen, auf einmal jedoch war er aufgesprungen, ließ einen Schrei hören, griff sich mit der Hand an die Brust, daraus quoll Blut, er fiel hin. Leute stürzten herbei, und was sie da sahen, grenzte ans Unglaubliche: Die Haut des Sterbenden glättete sich, wurde weich und schmiegsam, die Geschwüre verschwanden, und ehe eine Minute verstrich, hatte sich der Hässliche in einen schönen Jüngling verwandelt, schön zum Verlieben, und als sich Bianca über ihn beugte, flüsterte er: „Wie schade, fast wäre ich durch deine Liebe erlöst worden und nicht durch den Fangschuss des Jägers. Du musst wissen: Alle hundert Jahre wird ein Mensch geboren, der die Kraft hat, die Geister der Verfluchten zu sehen. Ich bin der Zlatarog, der König des Triglav. Lange über die Zeit hab ich gewartet, vielleicht ist einer meiner Erlöser gestorben, ehe er das Alter erreichte. In dir und dem Jäger wurden uns gleich zwei Menschen geboren; seit dem Tag eurer Geburt wussten wir, die Erlösung ist nahe. Ein Mann musste mich töten, eine Frau mir ihre Liebe schenken – ich war ein grausamer Herrscher und hab das ganze Land in Blut und Leiden erstickt, jetzt fließt alles zu Tal. Das hässliche Gesicht, das ich hatte, war meine schuldbeladene Seele, jetzt ist sie befreit, endlich!“

Und mit diesen Worten wandte der Zlatarog die Augen nach oben, wo sie im Tode erstarrten, aus den Truhen drang Rauch, und als man sie aufriss, schlugen Flammen empor, die Edelsteine und alle Schätze waren verbrannt.

Noch lange starrten die Menschen ungläubig darauf, lediglich der Leichnam des Bergkönigs bewies, dass sie nicht träumten. Plötzlich drangen Stimmen von draußen herein, die riefen: „Die Trenta ist blutig!“, und alle stürzten hinaus, zur Brücke hin, und wirklich, das Wasser fiel tiefrot zu Tal als Blut, und der Blutstrom wollte nicht enden, bis in die Nacht floss er, und weiter bis in den Morgen. Erst als die Sonne aufging, hellte das Wasser sich auf und die Leute sahen, dass die Leiche eines Mannes angeschwemmt wurde, dahinter versiegte der Blutstrom. Mit einer langen Stange, an der ein Haken festgemacht war, zogen sie ihn heraus – es war der Jäger.

Als die schöne Bianca ihn wiedererkannte, kniete sie sich neben ihm hin und weinte zum ersten Mal im Leben Tränen des Schmerzes. „Dich hätte ich lieben sollen, dich hätte ich lieben sollen!“, wiederholte sie klagend, während sie auf den Toten hinabschaute.

Bleibt nur noch zu erzählen, wie es der armen Gattin des Jägers erging. Sie war gelaufen und gerannt bis zum Abend, um ihren Mann vor einem Unheil zu retten.

Die Unglückliche konnte nicht wissen, dass es zu spät war. Noch in der Dunkelheit versuchte sie, über die Berge zu kommen, aber da sah sie nichts mehr, stand plötzlich vor einer Felswand, von der das Gestein herabsauste, dass es rauschte wie bei einem Hagelwetter. Sie duckte sich in eine Nische und wartete; irgendwann schlief sie darüber ein.

Aber was sah sie, als die Sonne aufging? Die Wiesen unter ihr, die Felsen ober ihr, alles war rot, rot, so weit das Auge reichte, und kleine Pflänzchen wuchsen hervor aus dem Rot, wurden größer und größer, kleine Knospen bildeten sich, gediehen zu rundlichen Ballen, und dann – die Sonne stand nun voll im Osten – brachen sie auf, überall, und rote Almrosen erblühten, tausendfach, millionenfach: Alle Wiesen waren mit roten Almrosen übersät.

Da sank Spela auf die Knie und wusste, dass etwas Bedeutsames geschehen war. Sie dankte Gott, dass sie ein solches Wunder mit ansehen durfte, machte sich auf den Weg und stieg nach Soca hinunter.

Überall, wo sie dahinschritt, wuchsen unter ihren Füßen die Rosen, bis tief ins Tal hinunter, und dort erfuhr sie, wie es ihrem Mann ergangen war. Traurig kehrte sie in ihre Heimat zurück, doch so dunkel es anfangs in ihrem Herzen auch war, das Leuchten der Rosen am Wegesrand gab ihr den Mut zurück, und sie fügte sich in ein Schicksal, das über ihr Leben hinausgriff.


Aus: Alois Schöpf, Der Traum vom Glück, Limbus Preziosen

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ronald Weinberger

    Ein tiefgründiges, ein ergreifendes, schönes, trauriges, und dennoch im Endeffekt auch frohgemut stimmendes Märchen. So, wie vor allem diejenigen von uns, deren Geburt weit ins letzte Jahrhundert zurückreicht, es von Märchen kennen und zumeist auch lieben. Gleichwohl aus der Zeit gefallen, versteht sich.

    Kurz und gut: Mir gefiel’s, ungleich besser als die vielfältigen „Märchen“, mit denen wir heutzutage gepiesackt werden.
    Danke!

Schreibe einen Kommentar