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Werner H. Ritter
Assistierter Suizid nur in "Grenzfällen"?
Notizen

schoepfblog beobachtet schwerpunktmäßig immer wieder die Entwicklungen im Bereich der Liberalisierung der Sterbehilfe. Dass dabei der Austausch von Argumenten im Spannungsfeld zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft in Deutschland ähnlich verläuft wie in Österreich, ist Anlass genug, um die Debatte bei unseren nördlichen Nachbarn am Beispiel besonders herausragender Texte mit zu verfolgen.
A.S.


In der Diskussion über Suizidassistenz hat jüngst Nikolaus Schneider das Wort ergriffen. Und zwar in einem ähnlichen Ton wie zu Anfang des Jahres die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschland Annette Kurschus.

In „Grenzfällen“ oder „absoluten Ausnahmefällen“ sei der Suizid eines Menschen „durchaus im Einklang mit dem Willen Gottes möglich“. Ich nehme in der Wortmeldung beider einen durchaus anderen Tonfall wahr, als zur Zeit des Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Das ist hilfreich, weil weiterführend.

Und doch macht mir das Votum von Nikolaus Schneider und Frau Kurschus Beschwer: Das Karlsruher Urteil verwendet weder die Formulierung „Extremfälle“ oder „Grenzfälle“ noch die kirchlich verbreitete Version „absolute Ausnahmefälle“. Vielmehr spricht es von Einzelfällen, die nicht „n o r m a l“ werden sollen. Das ist in meinen Augen etwas anderes als „ultima ratio“.

Die Kirche kann nämlich mit ihrer kompromisslosen „Nein-Haltung“ zum assistierten Suizid nur weiter verlieren. Denn sie hat heute keine Deutungshoheit mehr wie das lange der Fall war, seit 2021 aber nicht mehr ist: Evangelische und katholische Christen bilden zum einen keine gesellschaftliche Mehrheit mehr.

Zum anderen votieren mehr als zwei Jahrzehnte lang in Sachen Sterbehilfe über siebzig Prozent der Bürgerinnen und Bürger für den assistierten Suizid. Das haben die Kirchen zur Kenntnis zu nehmen statt immer wieder neu das Suizid ablehnende Votum einer Minderheit kirchlicher Funktionseliten zum Maßstab aller Dinge zu machen. Tempi passati!

Zudem ist das Karlsruher Urteil ein Grundsatzurteil, an dem die Kirche nicht vorbeikommt. Ihm zufolge gibt es vom Grundgesetz her legitimiert ein Recht auf Leben und Sterben. Menschen sind nicht länger Objekte betreuten Denkens, sondern Subjekte ihres Lebens und Sterbens. Wenn wir also politisch wahrgenommen werden wollen, müssen wir uns als demokratie- und kompromissfähig erweisen.

Dabei will ich – durchaus auch gegen das Karlsruher Urteil – darauf hinweisen, dass der Begriff „normal“ philosophisch und rechtlich mehrdeutig, aber nicht eindeutig ist (vgl. Gerhard Ritter, in: Ritter/Gründer, HWPh Bd. 6, 1984, Sp. 920). Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich Normen und Standards des als „normal“ Erachteten kulturell immer wieder geändert haben und bis heute ändern. Man denke an den Schwulenparagrafen, das Ehescheidungsrecht oder die Eheschließung queerer Menschen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Von daher kann es m.E. nicht Aufgabe des Staates bzw. der staatlichen Rechtsordnung und erst recht nicht der Kirche sein, zu definieren, was „normal“ sei. Anders gesagt: Wenn sich moralische Anschauungen in der Bevölkerung ändern (und das tun sie), ist das zum einen legitim und zum anderen hat der Staat das zu akzeptieren, nicht zu korrigieren. Es ist ja infolge neuzeitlicher Entwicklungen so, dass sich Menschen nicht mehr „von oben“ vorschreiben lassen, wie sie zu leben und zu sterben, zu lieben und zu glauben hätten. Darüber entscheidet zunehmend das Individuum selbst – ein Wertewandel, an dem alle westlichen Gesellschaften seit Jahrzehnten partizipieren.

Ich erinnere in dem Zusammenhang an das freiheitliche Votum, das der große liberale Theologe Trutz Rendtorff (München) 1985 in einer EKD-Denkschrift so formuliert hat: „Die Kirche hat nicht die Funktion, den einzelnen Christen die Entscheidung, die er als Bürger zu treffen hat, abzunehmen. Sie kann keine andere Autorität in Anspruch nehmen als die Überzeugungskraft ihrer Sachargumente.“

Dem ist heute nichts hinzuzufügen.

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Werner H. Ritter

Werner H. Ritter, geb.1949 in Weißenburg/Bayern. Seit Nov. 1987 Lehrstuhlinhaber für Ev. Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Universität Bayreuth, 2000-2004 1. Vorstand im Ev. Bildungswerk Bayreuth, 2000-2004 1. Sprecher der KLT (Konferenz der an der Lehrerbildung beteiligten TheologInnen), Oktober 2008 Wechsel auf gleichnamigen Lehrstuhl an der Universität Bamberg, seit 2014 im Ruhestand. Zahlreiche Publikationen.

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