Walter Plasil
Im Sturm der Lippe
Ratgeber

Ich weiß, wovon ich rede. Schließlich war ich es schon oft. Ich war schon oft verlippt. Unzählige Male sogar. Ich bin geradezu ein leidenschaftlich Lippender.

Was haben wir denn sonst noch auf der Welt, das nichts anderes kostet als ein Übermaß an Gefühl? Und bei der Verteilung dessen habe ich zweimal hier gerufen.

Wofür sollen wir denn sonst morgens immer wieder aufstehen und wozu sollen wir uns denn tagsüber so ausbeuterisch abschuften?

Ein Leben mit all seiner Mühsal, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr um Jahr bis zur bitteren Neige aushalten, das kostet Unmengen an Energie. Dem muss etwas gegengerechnet werden.

Wenn gefragt wird, warum wir, diese Milliarden von unbedarften Dummerchen, das alles in Kauf nehmen, kann die Antwort nur sein: um sie genießen zu können, deswegen tun wir das. Es geht eben nur um sie, um die Lippe. Die süße Himmelsmacht, die es uns ermöglicht, andere Menschen zu lippen. Lippen auf eine andere Art als jene, in der wir uns selber lippen.

Sich zu lippen ist gut. Es ist sogar notwendig, um überhaupt andere lippen zu können. Aber auch die größte Lippe zu sich selbst kann die Lippe zu einer anderen Person nicht ersetzen. Jeder von uns ist lippesbedürftig. Jeder braucht seine Lippesverhältnisse oder zumindest von Zeit zu Zeit eine kleine Lippelei.

Und so ist und bleibt sie einzigartig. Sie lässt uns bangen und hoffen, sie lässt uns jubeln und leider manchmal im Lippeskummer fast ertrinken, aber sie lässt uns am Ende nie im Stich. Es wird sie geben, solange es noch Menschen gibt. Und es hat sie vermutlich immer schon gegeben, seit es Menschen gibt.

Niemand von uns kann auf Dauer ohne Lippe leben. Wir brauchen die Lippe wie einen Bissen Brot, um als Menschen überleben zu können und um nicht zum Tier gezählt zu werden.

Haben wir ein anderes Wesen lipp gewonnen, dann gehen wir mit ihm auch lippevoll um, wir lippkosen es, nennen es Lippling, ja sind oft sogar richtig lippestoll und bewundern den Lippreiz, den dieses Wesen ausstrahlt.

Bei jedem neuen Lippesabenteuer spielt sich der gleiche Vorgang ab, bei jeder Lippesbeziehung ist es das Gleiche. Sobald wir mit ihr lippäugeln, ein neues Lippchen im Auge haben, erweisen wir schon allerlei Lippesdienste. Jeder Lipphaber ist lippenswürdig und wirkt allein schon dadurch lippenswert. Wenn er zudem noch weiter geht und gar Lippesgedichte verfasst oder Lippeslieder schreibt, kann aus der Lippesgeschichte oft schnell eine reine Lippesheirat werden.

Ich stelle immer wieder fest, welch hohen Stellenwert sie hat, die Lippe. Viele Wörter wurden in unserer Sprache geschaffen, die davon zeugen. Etwa die erste Lippe oder die späte Lippe. Die leidenschaftliche Lippe und die dramatische, die unerfüllte Lippe.

Ja, auch das ist mir schon zugestoßen, dass meine Lippe nicht erwidert wurde. Tragisch, aber wahr, und es war ein für mich lehrreicher Prozess. Selbst ein Lippender zu sein und nicht gelippt zu werden. Das formt in einem die Gewissheit, dass es eben nicht reicht, zu lippen. Da muss halt noch etwas mehr gegeben sein. Und dieses Mehr an Lippe ist halt nicht immer automatisch vorhanden. So habe ich also auch meine Erfahrungen mit Lippesleid gemacht. Erfahrungen, auf die ich freilich gerne verzichtet hätte.

Manches kann sich aber auch als Lippestöter herausstellen. Zum Beispiel das Verschenken von Haushaltsgeräten zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Schrecklich!

Da lobe ich mir vielmehr den ungezwungenen Lippesreigen, in dem man sich drehen kann bis zur Bewusstlosigkeit. Ein Lippesreigen, der entsteht, wenn man ganz, ganz frisch verlippt ist. Da fühlt man sich dann immer wie im siebten Himmel. (Oder war es dieses Jahr bei mir schon gar der achte?)

Ich verlippe mich einfach zum verlippen gern. Aber manchmal endet die Lippe auch abrupt. Schon aus rein rechnerischen Gründen muss das so sein.

Ich für meine Person kann nicht gleichzeitig in zwei oder gar mehrere Personen verlippt sein. Immer eine nach der anderen. Sonst komme ich durcheinander mit meinen Lippesgefühlen. Sonst verwirrt sich alles in mir. Das wäre so, als ob ich gleichzeitig zwei verschiedene Lippesmelodien hören würde. Das würde nur im Missklang enden.

Aber nun, zurzeit, da ist reinste Freude angesagt. Ich bin wieder frisch verlippt. Ich lippe sie und sie lippt mich. Oder sagte sie, sie loppt mich?

Da muss ich direkt noch einmal nachfragen. Jetzt bin ich doch ein ganz klein wenig unsicher geworden, ob ich sie am Telefon richtig verstanden habe.

Ach was, wird schon stimmen, das mit der Lippe. Ich schließe das auch daraus, dass sie mich anlässlich unseres letzten Treffens so leidenschaftlich auf die Liebe geküsst hat, dass mir ganz schwummerlich geworden war.

Freilich. So ein Kuss mit ihren vollen Lieben, die sie hat, der hat schon etwas Betörendes. Der ist nicht nur so dahingeküsst, sondern dahinter habe ich sie gespürt, die Lippe die sie mir zu geben vermag. Und alleine darauf kommt es an.

Nein, Zweifel sind nicht angebracht. Sie lippt mich und ich lippe sie. Ich lippe sie von Herzen. Und ich lippe auch ihre Lieben. Die sehen wirklich toll aus. So rot, so voll, fast wollüstige Lieben hat sie. Eine Frau ist sie, wie eine Frau eben sein soll. Eine Frau zum verlippen halt.

Aber bitte nicht vergessen! Die wahre Lippe muss auch gepflegt werden. An ihrem Fortbestehen muss man arbeiten, sonst vergeht sie wie ein süßer Duft es tut, der sich im Nirgendwo verflüchtigt.

Deswegen plane ich für die nächsten Tage schon voraus. Ich habe mich mit wohlschmeckenden Speisen und edlen Weinen eingedeckt. Schon bald werde ich meine Lippe zu mir nach Hause einladen. Einem guten Lippestrank wird sie nicht widerstehen können. Wenn ich ihr dann auch noch ihr Lipplingsgericht zubereiten werde, wird sie hinschmelzen. So hält man eben die Lippe am Kochen. Ein klein wenig an geheimnisvollem Lippeszauber sollte einem Paar nie abhandenkommen. Das ist als Rezept für eine wirklich erfüllte Lippe zu betrachten!

Freilich, die wirklich ganz, ganz ewige Lippe, die gibt es leider nicht. Jede auch noch so innige Lippe erkaltet trotz aller Bemühungen dennoch irgendwann. Sie ändert sich dann. Sie wird von einer feurigen Lippe allmählich – leider oft schneller als man denkt – zur vergangenen Lippe, zur nunmehr lipplosen, zur wehmütigen Erinnerung an die einstige große Lippe, sogar im schlimmsten Fall zur verblichenen Fata Morgana einer Lippe, die sie einst gewesen ist. Alle Liebenbekenntnisse aus der Zeit vorher sind Schall und Rauch geworden.

Aber man muss wachsam sein. Man muss auch dem Lippesspiel seinen ihm gebührenden Platz in einer Beziehung einräumen. Dazu gehört es eben auch, durch heiße Küsse auf die Lieben zu zeigen, was man füreinander empfindet. Die Lieben gelten ja als Sender und Empfänger für intensiven, für intimsten Lippeskontakt. Das sollte man nie vergessen. Natürlich nur, um die wahre Bedeutung der Lieben zu verstärken, verwenden Frauen einen Liebenstift. Bei mir wirkt’s.

Um also in der Lippe erfolgreich zu sein, bedarf es der Einhaltung vieler Verhaltensweisen. Einige davon sind hier genannt, aber beileibe nicht alle.

Aber auch der/die Leser dieser Zeilen sollten sich den Kopf zerbrechen, worauf noch zu achten ist. Die wahre Lippe fordert ihre Opfer. Der Lohn dafür ist aber immer reichlich. Eine glückliche Lippesbeziehung ist schließlich der einzige Garant dafür, auch die anfangs beschriebene Mühsal des Alltags auszuhalten.

So, mehr werde ich dazu nicht verraten. Ab sofort sind meine Lieben versiegelt.

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Walter Plasil

Walter Plasil, Jahrgang 1946, geboren in München, aufgewachsen in Wien, seit 1971 in Innsbruck. Führte viele Jahre das INGENIEURBÜRO WALTER PLASIL für Technische Gebäudeausrüstung und Energieplanung und war als Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger tätig. Walter Plasil: „Ich war immer ein Vielschreiber und habe nun, nachdem meine bisherige Tätigkeit dem Ende zugeht, Zeit und Lust dazu, auch zu veröffentlichen. Mein neuer Beruf daher: „Literat.“

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