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Vanessa Musack
Hotel Bellevue
Short Story

Fassungslos blätterte sie in dem eben erst mit der Post eingetroffenen Buch über das kleine, idyllische Bergdorf, sanft eingebettet in der Abgeschiedenheit des Gebirges. Ihr Bruder Severin hatte gleich nach dem Erscheinen der Dorfchronik ein Exemplar für sie besorgt und mit einem kurzen Verweis über die entsprechenden Seiten express an sie geschickt. Wütend suchte sie nach den drei Kinderfotos, die dieser unverschämt nachlässige Schreiberling, ohne sich um ihre Einwilligung zu kümmern, zur Bebilderung des Bandes verwendet hatte.

Der eigentliche Grund ihres Ärgers lag jedoch viel tiefer. „Ein Tiroler Bergdorf im Wandel der Zeit“ lautete der Untertitel. In diesem Wandel war ihr Elternhaus wohl untergegangen. Hatte das Hotel die touristische Entwicklung des Dorfes doch maßgeblich geprägt! Bei der Lektüre der Chronik wurde aber schnell klar, dass das „Bellevue“ aus der Geschichte des Dorfes zur Gänze entfernt worden war. Das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, das so viele schöne Erinnerungen für sie bereithielt!

Hier hatte sie so viel Gutes und Wunderbares erfahren. Ihr ganzes Weltbild und ihre Werte waren hier, im „Bellevue“ vor allem, geprägt worden. Gleichzeitig trug der Ort, dieses Dorf etwas abgrundtief Boshaftes in sich. Etwas Schlechtes, viel böse Absicht, Eifersucht und Missgunst waren hier untergründig gebündelt, um immer dann, wenn sich die Möglichkeit ergab, mit dem größten Vergnügen offen ausgespielt zu werden.

Vor allem die Eitelkeit des Verfassers der Dorfchronik ärgerte sie. In der Annahme, etwas Großartiges über die Geschichte der Pfarre zu publizieren, hatte er seinen Ehrgeiz einzig und allein auf die kirchliche Geschichte beschränkt. Sie begriff sofort, dass er die restlichen Inhalte, ohne auch nur einen Gedanken im Hinblick auf ihre Bedeutung und ihren Wahrheitsgehalt zu verschwenden, von der alten Rieser, die sich offenbar zur Ortschronistin aufgeschwungen hatte, übernommen haben musste.

„Seit der Schließung des Hotel Bellevue…“. Die Formulierung hallte unangenehm in ihrem Kopf wider. Es war einer der ganz wenigen Sätze, in denen das Hotel ihrer Eltern Erwähnung fand. Und alles beschränkte sich nur auf das Ende des Betriebs. Es kostete sie ein müdes Lächeln, wenn sie las, dass nach der Schließung des Hotels der Skibetrieb durch das „heldenhafte Engagement“ der Gemeinde aufrechterhalten werden und so fünf Arbeitsplätze für Nebenerwerbsbauern gesichert werden konnten. Keine Erwähnung darüber, wie viele Leute zuvor ihren Arbeitsplatz aufgeben und ihr Arbeitsumfeld, in dem sie sich wohlgefühlt hatten, hatten verlassen müssen. Ganz zu schweigen von ihrer Familie, der sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggerissen worden war. Vor diesem Hintergrund war die Nennung der fünf Nebenerwerbsbauern nur noch zynisch. Man hätte meinen können, dass die Darstellung der Feder eines gemeinen Schelms entsprungen war.

Die Sache mit den Kindheitsfotos war im Grunde eine Kleinigkeit und hätte sie nicht weiter gestört, vorausgesetzt der Inhalt dazu wäre angemessen geschildert worden. Es war lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Unter solchen Umständen hätte sie niemals die Rechte an ihren Bildern weitergegeben.

Sie beschloss, dass sie dieses Mal ein Naivität und Unwissenheit vorschützendes Verhalten nicht dulden würde. Sie würde sich wehren. Sie wusste nur noch nicht wie. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf und ihr Hals fühlte sich eng und trocken an. Verzweifelt versuchte sie sich zu entspannen. Sie wollte um jeden Preis vermeiden, irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Doch die ersten Emotionen drohten sie zu übermannen. Sie würde diesem Pack einen Denkzettel verpassen. Ihr Herz pochte wild und sie zitterte vor Wut. Sie hatte bereits die Nummer in ihr Mobiltelefon getippt und kam in letzter Minute doch noch zur Erkenntnis: Es sollte kein Schnellschuss sein, der nicht mehr als ein mitleidiges Schulterzucken derer, die hinter der Aktion steckten, hervorrufen würde.

Überdies war ihr bewusst, dass das Buch wohl kaum über die Dorfgrenze hinaus Aufmerksamkeit finden würde. Vielleicht wurde es an eine überschaubar kleine Anzahl von Stammgästen zur Feier ihres zehnten oder zwanzigsten Aufenthalts in immer derselben Pension überreicht. Dass es nicht der große Verkaufsschlager war, wusste sie bestimmt und das sollte auch so bleiben. Das Letzte, das sie wollte, war ein blinder Racheakt, der sich im Nachhinein als kostenlose Werbung entpuppen würde. Stattdessen sollte es eine wohlüberlegte, fein durchdachte und vor allem ruhige Berichtigung dessen sein, was in der vor ihr liegenden Chronik falsch dargestellt wurde.

Was ihre Familie betraf, war es auch nicht das erste Mal, dass das Geschehene auf eine unverschämte Art und Weise in ein vollkommen anderes Licht gerückt wurde. Viel früher schon hatte der Großgrundbesitzer aus dem benachbarten Ort, der jetzt auch hier im Dorf anfing, eine Landwirtschaft nach der anderen aufzukaufen, die Familie beschämt. In einem schlampig recherchierten Artikel wurde das von seinen dubiosen Einkünften finanzierte und vor ein paar Jahren eröffnete Dorfgasthaus so präsentiert, als habe es zuvor keinen anderen Betrieb im Ort gegeben. Er selbst hatte sich unter dem Deckmantel der Bescheidenheit als großer Messias, als Retter, der den Tourismus hierher gebracht hatte, inszeniert.

Was lag ihm überhaupt daran, das Vermächtnis ihrer Familie derart totzuschweigen? Im Grunde konnte das wohl sehr einfach beantwortet werden. Es war das alte Lied von Missgunst und Hass, das auch hier gespielt wurde. Hinter dem durch seine besondere und klare Architektur auffallenden „Bellevue“ vermuteten die Einwohner stets großen Reichtum. Der Gedanke, dass hier viel gearbeitet wurde, kam den Wenigsten von ihnen. In gleicher Weise erwarteten sie Arroganz und Selbstherrlichkeit.

Ja, es war eine Tatsache, dass sie selbst, ihre Eltern und ihre Schwester Lilli und ihr Bruder Sevi, ja sogar ihr Onkel und ihre Großeltern in mancherlei Hinsicht anders waren als der Großteil derer im Dorf. Es handelte sich jedoch um ein stupides und unreflektiertes Vorurteil zu denken, dass sie sich deshalb als besser empfanden. Auch hier gestaltete sich das Leben nämlich so, dass jemand, der sich durch was auch immer vom Rest der Gesellschaft oder einer spezifischen Gruppe abhebt, es als nicht notwendig erachtet, sich deshalb als überlegen wahrzunehmen, geschweige denn dies sein Gegenüber spüren zu lassen. Erfahrungsgemäß ist es oft sogar umgekehrt.

Die, die der Mehrheit angepasst sind, halten diejenigen, die sich entweder durch bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten oder auch nur durch ihre Lebenseinstellung von ihnen unterscheiden, für beklemmend und gefährlich. Sind es doch genau diese unangenehm auffallenden „Anderen“, wegen derer das eigene, meist mangelnde Selbstwertgefühlt immer wieder aufs Neue anklopft. Auf eine sehr unangenehme Weise erinnert es den vermeintlich „Starken“, der zu hundert Prozent assimiliert ist, daran, dass das Leben noch mehr Möglichkeiten bereithält als die von ihm gewählten. Und dass es auch noch eine andere Sicht auf die Dinge gibt als die eigene.

Die im Dorf bestanden zu einem großen Teil aus genau dieser Art von obrigkeitshörigen Lemmingen, die die Bequemlichkeit und Sicherheit von Abhängigkeit und Untertänigkeit dem eigenen Denken und der Freiheit, selbst zu entscheiden, vorzogen. Auf sie hatte sich die Familie nie verlassen können. Viel zu groß waren die Eifersucht und das Konkurrenzdenken dieser starrköpfigen und kurzsichtigen Schergen, die es ausschließlich im Schutz ihres Wolfsrudels wagten, laut zu werden.

Jahrelang hatte ihre Familie mit dem „Bellevue“ Steuern für den Ort und Einkommen für seine Einwohner generiert und somit für Wohlstand gesorgt. Das jedoch wurde nur von ganz Wenigen überhaupt wahrgenommen. Es wurde als selbstverständlich angesehen, als gegeben! Und jetzt, da das nicht mehr so war, hatte niemand die Größe und vor allem nicht den Mut, offen einzugestehen, dass es eine sehr gute Zeit war, als es das „Bellevue“ noch gab.

Der Großteil der Bevölkerung sah immer nur mit großem Neid auf die Familie, nicht nur auf die Erwachsenen, auch auf die Kinder. Andersartigkeit kann unheimlich verunsichern. Das war ihr schon lange klar.

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Vanessa Musack

Vanessa Musack wurde am 20. Juli 1981 in Wien geboren und wuchs im Hotel Windegg in Steinberg am Rofan auf. Von 2000 bis 2005 studierte sie Betriebswirtschaftslehre in Innsbruck, Groningen (NL) und Montpellier (F). Ihre Diplomarbeit, „Universitäre Spin-offs als Quelle Nationaler Innovationen“, wurde mit dem Graf Chotek Hochschulpreis ausgezeichnet. Nach dem Studium absolvierte Vanessa Musack ein einjähriges Praktikum bei der Firma Salomon in Annecy (F) in der Abteilung für Internationale Kommunikation. Ab 2007 war sie für die Österreich Werbung in Brüssel als Pressesprecherin tätig. Im Zuge ihres einjährigen Auslandsaufenthaltes auf Madagaskar arbeitete sie für ein einheimisches Reiseunternehmen und schulte Mitarbeiter im Bereich Marketing. Nach ihrer Heimkehr 2011 betreute sie für die Tirol Werbung die Reisepresse auf den deutschsprachigen Märkten. Vanessa Musack hat vier Kinder und arbeitet für das Tiroler Kammerorchester InnStrumenti.

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